#wirsindmehr

Mensch sein. © Joseph Dahlhaus-Erichsen

Ich gebe es gerne zu: Ich war müde und es ging mir nicht sehr gut, als meine Tochter mich ansprach. Wir hatten alle über einen Messenger einen Link bekommen, in dem wir dazu aufgefordert wurden, einen offenen Brief an alle Rechten, Nazis, Identitären und „besorgte Bürger“ online zu unterschreiben. Meine Tochter fragte: „Ganz ehrlich: Was ändern wir mit der Unterzeichnung eines offenen Briefes, den sowieso keiner von denen liest?“ Ich hatte keine Lust mich mit meiner Tochter, die sehr vehement und mit festem Standpunkt diskutiert, jetzt auf einen Diskurs einzulassen und sagte nur knapp: „Ich gebe dir recht. Ich sehe es genauso.“ Dennoch lies mich ihre Frage nicht los und ich überlege … ja, was ändern wir damit?

Die Nachrichten der letzten Tage kennt jeder. Je nachdem, welche Nachrichtenquellen wir nutzen, liest jeder das, was er gerne lesen möchte und sich in seiner Meinung bestätigt fühlt. Ich gehöre zu denjenigen, die mit äußerster Besorgnis auf die rechtsgerichteten Entwicklungen blicken, die in unserem Land passieren. Ein weiterer Artikel von faktenfinder.tagesschau.de „Das Trauerspiel von Chemnitz“ verstärkt meine Besorgnis. Er handelt von den gezielt gestreuten Falschnachrichten im Netz, die alle gemeinsam nur ein Ziel haben – Hass, Angst und Unzufriedenheit zu streuen. Die übliche Taktik aller Rechten und der Partei, die keine Alternative ist. Die Bilder von Chemnitz in Gedanken, ist es unglaublich, dass der tragische Tod eines jungen Mannes dazu genutzt wird, allen rechten Bewegungen eine Plattform zu geben, ihre Ideale laut und mit Hitlergruß zu brüllen. Gewählte Vertreter der Partei, die keine Alternative ist, nutzen diesen Tod genauso wie der rechte Mob auf der Straße. Dabei geht es nicht um Trauer, sondern lediglich um die Möglichkeit rechtes Gedankengut in die Öffentlichkeit zu bringen. Man mag eigentlich nur noch weinen ob solcher Dreistigkeit. Die Bilder aus Chemnitz erschrecken und auch wenn man weiß, dass die wenigsten, die dort ihre blanken Ärsche oder den Hitlergruß gezeigt haben, tatsächlich Chemnitzer sind, kommt langsam das Grausen auf. Pegida, Pro Chemnitz und diese Partei schließen sich zusammen und marschieren gemeinsam. Unverständnis dem gegenüber, der immer noch glaubt, dass die alternativlose Partei im Bundestag nicht Rechte und Nazis begrüßt. Die anständigen Chemnitzer haben mein Mitgefühl.

Ein Haftbefehl wird in den Netzwerken geteilt. Unter anderem von einem Politiker, der später sagt, es wäre ihm nicht bewusst gewesen, dass dies eine Straftat sei. Hätte er ihn auch verbreitet, wenn der Täter ein Deutscher gewesen wäre? Wohl kaum, wenn man seinen politischen Hintergrund betrachtet. Noch dazu hat er eine Ausbildung beim Bundesgrenzschutz gemacht und für die Bundespolizei gearbeitet. Ein Lämmchen ist er wohl kaum. Auch der Urheber des Foto’s des Haftbefehls arbeitet bei der Justiz. Jetzt nicht mehr. Ein LKA Beamter wird bei einer Pediga Demo gefilmt und fällt nach seinen Protesten gegen ein ZDF Team auf. Und dann ist da noch ein Innenminister, der Worte wie Asyltourismus nutzt, die Abschiebung von 69 Asylanten feiert und mit weiteren fraglichen Stellungnahmen seine Wähler am rechten Rand halten will. Er schweigt zu lange zu den Ereignissen und später erst kommt die halbherzige Aussage, es sei ja schon alles dazu gesagt. Er hält es nicht für Notwendig, die alternativlose Partei durch den Verfassungsschutz beobachten zu lassen, deren Bundesvorsitzender die Vorgänge in Chemitz gerade nach seiner Auffassung legitimiert hat. Es stellt sich tatsächlich die Frage, in wieweit Politik und Behörden von rechts versifft sind und ob manche Beamte und Politiker, die dem Staat, unserer Verfassung und Demokratie dienen sollten, überhaupt noch ihren Auftrag erfüllen. Eine gewagte These – ich weiß. Nur – wenn es den Anscheint hat, dass rechte Parolen in der breiten Bevölkerung gesellschaftsfähig werden – wieso sollte das bei Beamten und Politikern, die auch nur Menschen sind, Halt machen? Wem kann man trauen?

Angst, dass die rechte Bewegung nicht zu stoppen ist. Bedenken, ob unsere Demokratie die rechten Tendenzen aufhalten kann. Furcht, dass Freunde und Familienmitglieder, die nicht dem deutschen Idealbild der Rechten gerecht werdend, Repressalien fürchten müssen. Trauer, dass mein Bild eines multinationalen weltoffenen Deutschlands einen üblen Sprung hat. Wut über die Dummheit der Mitläufer. Fassungslosigkeit, dass die Medien den Fremdenhass noch Öl ins Feuer gießen. Unverständnis, dass Politik nicht die tatsächlichen Probleme des Landes aufgreift … vieles kämpft in mir.

„Laut werden“ – „Klar Stellung beziehen“ – „Aktiv werden“ sind die Gedanken, die sich mir in den letzten Tagen immer mehr aufdrängen. Ich denke, jeder von uns, der diese Entwicklungen nicht will, muss sich besonders jetzt fragen, was er selber tun kann um zu zeigen, was dieses Land ausmacht. Dass eben nicht die Rechten die Oberhand haben. Dass wir uns nur multinational und weltoffen behaupten können. Dass Fremde willkommen sind. Und auch diesbezüglich reicht ein Blick in die Medien um sich klar zu machen, dass wir eben nicht allein sind und durchaus etwas tun können. Es gibt viele Beispiele, die Hoffnung machen. Ein Beispiel springt mir in Facebook ins Auge. Ein Smiley mit erhobenen Daumen lächelt mich an. Drumrum steht „ICH STEH DAZU – FREMDENHASS – NEIN DANKE“. Es ist die Facebookgruppe „Mensch sein.“ Ich schaue es mir genauer an und bekomme mit, dass der Urheber der Buttons, Joseph Dahlhaus-Erichsen, diese Buttons tatsächlich für jede gewünschte Stadt in Deutschland erstellt. Ich schreibe ihn an und habe den Button innerhalb kürzester Zeit auf meinem Rechner. Jetzt kann ich ihn verteilen, wo immer es geht … ich kann was tun!

Großartig ist das angekündigte Konzert am Montag in Chemnitz: Live auf dem großen Parkplatz an der Johanniskirche in Chemnitz ab 17.00 Uhr: Die Toten Hosen, Feine Sahne Fischfilet, K.I.Z., KRAFTKLUB, Marteria & CASPER, Nura030 (SXTN), TRETTMANN, DJ Ron & DJ Shusta, haben sich zusammen geschlossen und spielen um die Menschen zu feiern, die Hetze und Hass nicht unwidersprochen hinnehmen wollen. Der Hashtag #wirsindmehr unter dem das Konzert läuft verbreitet sich wie ein Lauffeuer. Selbst der Bundespräsident Steinmeier teilt dieses Konzert in seinem offiziellen Facebook-Account.

Unter meinen Facebook-Kontakten bekomme ich mit, wie ein Freund, den ich tatsächlich aus dem echten Leben kenne, mit anderen zu einer Großdemo aufruft. Das Bündnis #unteilbar ruft zur Demo „Solidarität statt Ausgrenzung“ auf: Sie wollen am 13. Oktober 2018 in Berlin ein starkes Zeichen für eine freie, offene und solidarische Gesellschaft setzen. Die Liste der unterzeichnenden Organisationen und Einzelpersonen ist in kürzester Zeit sehr lang!

Unter ein Bild, dass einen Nazi mit Hitlergruß zeigt, schreibe ich in Facebook: „Zum Kotzen! Anders geht’s nicht auszudrücken.“ Ein Bekannter antwortet mir: „Kotzen nützt nichts. Wir, die zivile Gesellschaft, wir die Bürger müssen uns wehren. Es reicht nicht, mit dem Finger auf die Politik zu zeigen. Wir müssen klare, sichtbare Position beziehen.“ – Das sehe ich genauso und denke, dass viele Menschen zur Zeit überlegen, was sie tun können um den rechten Mob, einschließlich seiner Organe, in die Schranken zu weisen.

Ob ein Button, den man verteilt, ein Konzert, dass man besucht, eine Demo, die man mitmacht – oder eben auch ein offener Brief den man unterschreibt. Ich denke, man kann tatsächlich viel machen, um klare Haltung und ein deutliches Nein zu Hass und Ausgrenzung zu zeigen. Den offenen Brief habe ich nun doch unterzeichnet. Nach einigem überlegen, habe ich die Auffassung, dass vielleicht nicht die Rechten ihn lesen (sicherlich doch viele heimlich), aber man zeigt Solidarität mit einem guten Statement und gibt anderen das Gefühl nicht allein zu sein. Jeder kann etwas tun. Auch die, die kaum Zeit haben. Auch die, die sich offen nicht trauen. Und hoffentlich endlich auch die, denen es bisher gleichgültig war!

Respekt

Die liebsten Themen über die mein Vater mit uns Kindern sprach und diskutierte, waren moralische Werte, die das gemeinschaftliche Leben von Menschen bestimmen. Dazu gehörten Werte wie Toleranz, Weltoffenheit oder auch Respekt. Ich muss zugeben, dass uns diese Gespräche sehr prägten, auch wenn wir uns oft und gerne mit anderen Dingen beschäftigt hätten, als mit dem Vater verbal die Welt zu verändern, beziehungsweise uns seine Sicht der Dinge predigen zu lassen. Nur gerade die Sache mit dem Respekt geht mir in diesen Tagen nicht mehr aus dem Kopf, nachdem ich ein Video zur Gedenkstunde für die Opfer des Nationalsozialismus im Bundestag gesehen hatte.

Respekt hatte für uns zwei Aspekte: Auf der einen Seite war mein Vater eine respekteinflößende Persönlichkeit. War er in einem Raum, richtete sich auch die Stimmung im Raum nach ihm. Sprach er ein Machtwort, war es schwer sich dem zu widersetzen. Das mussten wir tatsächlich lernen. Andererseits brachte er uns bei, dass unser Respekt tatsächlich nur Menschen gelten sollte, die sich diesen Respekt durch ihre Haltung, ihre Ansichten oder Taten auch verdient haben. Damit ist nicht die Hochachtung gegenüber anderen Menschen gemeint, die man grundsätzlich haben sollte. Er vertrat die Ansicht, dass ein Arzt, Lehrer, Politiker oder andere Honoratioren nicht per se Respekt zu erwarten hätten, sondern sie sich diesen immer wieder verdienen müssen. Genauso wie sich jedes Mitglied einer Gemeinschaft Respekt verdienen muss. Er verlangte allerdings nie etwas von anderen, was er nicht selber zu geben bereit war. Verdiente sich also seinen Respekt nach seinem eigenen Anspruch, was für uns Kinder nicht immer einfach war.

Seine Ansicht über Respekt hatte ich sehr schnell begriffen und verinnerlicht, da ich es logisch fand. Natürlich legte ich dem meine eigenen Maßstäbe zugrunde. Auch ist mir immer schon schwer gefallen, nicht zu sagen was ich denke. Das hat mir in meiner Schulzeit einige Schwierigkeiten mit den Lehrern eingebracht, die ich oft nicht sehr respektabel fand. Nur das Prädikat Lehrer, und das hatte ich ja zuhause gelernt, taugte nicht automatisch dazu meinen Respekt zu bekommen. Zur Diplomatin taugte ich in meiner Oberschulzeit genauso wenig, wodurch ich es mit so manchem Lehrer nicht sehr einfach hatte. Aber es gab sie trotzdem, die Lehrer vor denen ich großen Respekt hatte und die habe ich bis heute in guter Erinnerung. Die anderen natürlich auch.

Die Sache mit der Diplomatie und dem Respekt rückte sich für mich in den anfänglichen Berufsjahren in etwas machbare Bahnen. Ich lernte auch mit Menschen auszukommen, die in keiner Weise meinen Respekt besaßen, ohne dass sie es gleich merkten mussten. Es galt schon seit den Bauernkriegen „Die Gedanken sind frei, wer will sie erraten.“ Ich lernte außerdem zu erkennen, wen ich aufgrund seiner Persönlichkeit, seinen Ansichten oder seinem Tun respektierte. Ich denke, jeder von uns kennt Menschen, die er zutiefst bewundert und respektiert. Es waren viele, die ich auf meinem Weg in guter Erinnerung habe, wobei völlig bedeutungslos ist, wo derjenige in der gesellschaftlichen Rangordnung steht.

Was mir immer schon schwer fiel, fällt mir heute noch schwerer: Ich schaffe es nicht einen amerikanischen Präsidenten zu respektieren, nur weil er der mächtigste Mann der Welt sein soll. Ich konnte den vorherigen respektieren, der deutlich seine Achtung vor allen Menschen zeigte und dessen Worte oft meine Bewunderung weckten. Genauso wenig schaffe ich es vor deutschen Politikern Respekt zu haben, nur weil sie in unserem Bundestag sitzen. Ich zolle vielen Respekt, weil das Amt, das sie ausfüllen, nicht eins der leichtesten ist, auch wenn sie es sich selber ausgesucht haben. Ich habe Respekt vor einigen Kommunalpolitikern, die in meinem Umfeld Dinge zum positivem verändern.

Neu ist für mich, dass ich Abscheu vor Politikern empfinde. Es ist egal, welcher politischen Partei man den Vorrang gibt. Mit der aktuellen politischen Situation ist wohl kaum einer wirklich zufrieden. Dennoch gibt es Themen im Bundestag, die von allen politischen Parteien getragen werden sollten und einen einstimmigen Konsens erwarten lassen. Gerade bei diesen Themen, die die Grundwerte unserer demokratischen Ordnung betreffen, sollten sich alle Politiker vorbildlich verhalten und der menschlichen sowie geschichtlichen Verantwortung, die wir tragen, Rechnung zollen. Ich sah die Reden des Bundestagspräsidenten Wolfgang Schäuble und der Holocaust-Überlebenden Anita Lasker-Wallfisch im Bundestag, die dazu aufgerufen hat, die Verbrechen des Nationalsozialismus nicht zu vergessen. Und ich sah, wie sich die Politiker der Partei, die keine Alternative ist, dazu verhielten. Verzogene Gesichter, gequältes Klatschen, zögerliches Aufstehen und verweigerter Respekt gegenüber dem Bundestagspräsidenten und einer Frau, die eins der schlimmsten Verbrechen an Menschen überlebte. Gewählte Volksvertreter, die sich im höchsten Gremium der Bundesrepublik, derart daneben benehmen, dass man wirklich nur noch fassungslos zuschauen kann. Mögen diese alternativlosen Politiker in ihrem Programm stehen haben, was sie wollen. Ein derartiges Verhalten ist ganz einfach ekelhaft und verabscheuungswürdig. Das sind Politiker, die nicht für, sondern gegen die Menschen arbeiten. Politiker, die Dummheit dazu nutzen um politische Stellungen einzunehmen und Macht auszuüben. Es dauert lange, bis ich so etwas sage, aber das sind Politiker, gegenüber denen ich schlicht Verachtung empfinde – gewählte Volksvertreter oder nicht.

Ich habe Respekt vor jedem, der einen Menschen aus fremden Ländern bei sich aufnimmt. Vor jedem, der alles aufgegeben hat um sich selbst und seine Familie zu retten. Vor jedem, der ehrenamtlich viel Zeit für geflüchtete Menschen opfert und dadurch bereichert wird. Ich habe Respekt vor jedem, der über Religionsgrenzen und Nationalitäten hinweg Freundschaften pflegt. Vor jedem, der sich für Obdachlose einsetzt oder sozial benachteiligten Menschen eine Freude macht. Ich habe Respekt vor einem Menschen, der auf der Straße lebend, überlebt. Respekt vor so vielen Menschen, die alle auf ihre Weise Wege durch ihre Lebensräume finden.

Respekt hat noch eine andere Bedeutung. Es ist die Angst. Angst, dass wir zu lange still bleiben. Das wir die Zeichen der Zeit nicht erkennen und einer Wiederholung der Geschichte entgegen gehen. Wir leben in einer Zeit, in der die letzten Beteiligten des letzten Krieges von uns gehen. Die Wunden der Zeit sind bis heute nicht ausreichend aufgearbeitet. Die Jüngeren haben keine Verbindung mehr dazu. Ich habe Angst, dass wir vergessen, wiederholen, bereuen. Unsere Vorfahren hatten schon einmal Respekt vor einem kleinen Gefreiten, der Politiker wurde. Mein Vater hatte es erlebt und es hat seine Ansicht von Respekt geprägt. Suchen wir diejenigen, die unseren echten Respekt verdienen und verdienen diesen uns selber, in dem wir uns dem entgegen stellen!

ZDF heute – Gedenkstunde im Bundestag – Lasker-Wallfisch: „Leugnen darf nicht sein“

Das Erste – Kontraste – AfD-Fraktion während der Gedenkstunde

Der Hartz4-Nazi … war einmal

Foto: Pixabay

 

Selten, ganz selten lese ich Kommentare, die irgendwelche Nutzer in sozialen Netzwerken unter Beiträge schreiben. Sie sind oft abstoßend und selten werden konstruktive, differenzierte Meinungen geäußert. Es ist so leicht, so anonym zu hetzen. Aus irgendeinem Grund blieb ich bei einem Artikel doch an den Kommentaren hängen und lese: „Hartz4-Nazi“. … Ich überlege, was ein Hartz4-Nazi ist. Ich google, aber finde keine richtige Antwort. Das Wort ist eine Beschimpfung, eine Beleidigung, ein Vorurteil und in sich völlig bescheuert. Natürlich weiß ich, was vordergründig gemeint ist. Doch um es richtig zu verstehen, muss ich wohl erst verstehen, was ein Nazi ist. Genau da liegt mein Problem – ein Versuch:

Ich mache eine kleine Liste mit Begriffen, die mir einfallen, wenn ich mir einen Nazi vorstelle. Schon allein das ist schwer, weil natürlich der Springerstiefel-Typ als Erstes in den Sinn kommt. Die Sache ist jedoch viel subtiler, versteckt sich doch so mancher Nazi im Küchenkittel oder Nadelstreifen-Anzug. Und sich vorzustellen, was der Nazi im Kopf hat … ähm … Also:

Eins der häufigsten Probleme, dass Menschen mit dieser Gesinnung haben müssen, ist der Wohlstandsverlust und daraus bedingte Existenzangst. Immer wieder lese ich, dass die bösen Flüchtlinge viel mehr Geld bekommen, als einheimische Bedürftige. Dass dies schlicht und einfach falsch ist und jeglicher Grundlage entbehrt, spielt keine Rolle. Wenn der eine es behauptet, glaubt es der nächste, angebliche Rechenbeispiele werden aus dem Zusammenhang gerissen, falsche widerlegte Zahlen trotzdem in den Netzwerken geteilt – es tut ja so gut, wenn man weiß wer der böse ist. Wenn einer schreit, applaudieren zwei andere und schon tut’s nicht mehr so weh. Ich behaupte mal, dass keine alleinerziehende Mutter, keine Oma im Rentenalter, kein arbeitsloser Mann je einen Euro zu wenig bekommen hat, weil die bösen Flüchtlinge da sind. Wir leben mit einem der besten Sozialsysteme der Welt und trotzdem ist Alters- sowie Kinderarmut ein sehr ernstes Thema bei uns … aber das sind ganz andere Töpfe und gehen den Flüchtling nichts an!

Mangelndes Geschichtsbewusstsein möchte ich fast gleichsetzen mit Realitätsverlust. Geschichte ist nicht zu ändern und die Welt in der wir leben ist bunt. Speziell Deutschland war immer ein Durch- und Einwanderungsland. Die Deutschen sind nicht erst seit den beiden letzten Weltkriegen, der Einwanderungswelle von Türken und Italienern der Nachkriegszeit, der Aufnahme von Menschen aus den Jugoslawienkriegen, Spätheimkehrern, Sudetendeutschen und vieles mehr, vollkommen gemischt und von anderen Völkern durchsetzt. Keine Familie und kein Freundeskreis kann behaupten rein Deutsch zu sein, falls es das überhaupt gibt. Gäbe es ein „Rein Deutsch“ wären wir sehr wahrscheinlich ein degenerierter Haufen von Menschlein, die in der Welt keine Rolle spielten und noch in den Höhlen der Urzeiten vor sich hin vegetierten. Was bei uns in den Landstrichen passiert, die von Durchmischen anderer Nationen ausgeschlossen waren oder sind, kann man fast täglich in der (Lüge-)Presse lesen.

Womit der gemeine Nazi im meinen Augen auch die seinen vor den Zusammenhängen der Länder der Welt verschließt. Ein Staat kann heute nur im Verbund mit anderen Nationen und im offenen Transfer existieren. Verschließen wir uns, verkümmern wir, machen Handel, Wirtschaft und Fortschritt zunichte. Grenzen zu schließen bedeutet Kriege und Allianzen zu fördern, die Vernichtung nach sich ziehen.

Die Empathielosigkeit vor dieser Vernichtung ist ein weiteres Merkmal, dass in der Liste auftaucht. Via Internet erleben wir die Kriege in der Welt als fänden sie im eigenen Wohnzimmer statt. Wir sehen Bilder von Menschen, die unerträgliches Leid erfahren und wollen diesen Menschen einen sicheren Platz bei uns verwehren? Der Gedanke tut mir fast körperlich weh. Ich erlebe Menschen, die über Flüchtlinge schimpfen, sie an Grenzen erschießen lassen wollen, Asylbetrüger in jedem sehen, der nicht ins Bild passt … und gleichzeitig die Todesstrafe für Tierquäler fordern. Jedem Hund und jeder Katze mehr Wohlstand und fettere Bäuche gönnen, als Menschen, die vorm Verhungern flüchten.

Übersteigertes Selbstbewusstsein und Bildungsresistenz möchte ich in einem Satz nennen, gehört es für mich doch sehr zusammen. Der normale Nazi ist nämlich nicht von der ungebildeten Sorte und müsste eigentlich, wenn er einen rein logischen Denkprozess einsetzen würde, wissen, dass seine Thesen und Behauptungen haltlos, selbstsüchtig und veraltet sind. Es gibt für mich bis heute keinen einzigen Grund aus dem sich ein Mensch einem anderen gegenüber als höherwertig stellen kann – der Nazi tut’s … also kann er ja nur so selbstverliebt sein, … oder … ich vermute fast … so wenig von sich selber halten, dass es in übersteigertes Selbstbewusstsein umschlägt. Wäre das nicht so fürchterlich, müsste man fast mit Mitleid kämpfen …

Machtwille steht als letztes in meiner Liste und das ist ein sehr trauriger Punkt. Beobachtet man die politische Entwicklung im Land, stellt man fest, wie einige wenige mit viel Polemik, mit gemachter Angst und Populismus, eine Masse lenken, die Lämmer-gleich und ohne Hinterfragen nachplappert, schreit und brüllt. Das „Hatten-wir-schon-mal!“ bleibt bewusst ungehört und jeglicher Wille aus der Geschichte zu lernen fehlt. Die Lämmer merken nichts … mäh!

Der Nazi ist – unbelehrbar – da … und er war immer da! Die rechte Gesinnung wird – wieder – gesellschaftsfähig. Das ist der Punkt, der mir Angst und mich nachdenklich macht. Er wird wieder so gesellschaftsfähig, dass in den Netzwerken schon eine Art Ranking unter den Nazis beginnt. Der Hartz4- und Springerstiefel-Nazi ist böse und dumm. Bleiben ja noch genug andere, die den politischen Entwicklungen gedankt, sich frei und offen unter uns bewegen. Als wären sie befreit, ihre Parolen endlich wieder in die Gesellschaft zu tragen. Wir geben ihnen Raum in Talkshows, auf der politischen Bühne und in der Nachbarschaft. Wir empören uns ein bisschen, wenn ein Polizist einer rechten Veranstaltung ein gutes Gelingen wünscht. Entschuldigen es damit, dass es ja in dem bestimmten Bundesland passiert. Unsere Politiker halten die Klappe, weil nach der Wahl vor der Wahl ist, hoffend, dass nicht zu viele Stimmen wegwandern.

Sie waren immer da und fanden Unterschlupf in den etablierten Parteien, die ihr Profil mehr und mehr einbüßen. Jetzt ist es nicht mehr unfein besorgt, rechts, gegen Werte zu sein – denn – und das kann ich nicht mehr hören – so ist nun mal Demokratie. Was ein Nazi ist, verstehe ich wohl. Warum er jetzt in offener Weise mein Nachbar, mein Kollege, der Mann im Bus sein könnte – das verstehe ich nicht und nicht, dass wir – die Nicht-Nazis – nicht viel lauter schreien. Ich kann nicht nachvollziehen und will auch nicht verstehen, wie ein Nazi denkt. Brauche ich auch nicht – denn er besinnt sich neuer Namen … besorgter Bürger oder Mitglied der Partei, die eben keine Alternative ist. Der Hartz4-Nazi war einmal … jetzt kommen andere.

Die Frau auf der Bank

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Zuhause, wenn wir uns zum Essen an den großen Tisch setzen, hat jeder von uns seinen Stammplatz. Das ist nicht gewollt und hat sich mit der Zeit ergeben. Von meinem Stuhl aus schaue ich genau auf den kleinen Platz vor unserem Haus. An beiden Seiten der Wiese des Platzes steht jeweils eine Bank und ich kann die linke der beiden beobachten. Viel ist dort nicht los, aber hin und wieder sitzt jemand auf der Bank und ruht sich etwas aus. Vor kurzem saßen wir an einem Sonntag beim Frühstück und unterhielten uns. Aus dem Augenwinkel, ohne dem Aufmerksamkeit zu schenken, nahm ich wahr, dass sich eine Frau auf die Bank setzte. Wir beendeten das Frühstück nach einiger Zeit. Ich räumte den Frühstückstisch auf und schaute danach wieder aus dem Fenster. Sie saß immer noch dort – die Frau auf der Bank.

Ich bin mir nicht ganz sicher, warum mir gerade diese Frau auffiel. Ich schätzte sie über 50 Jahre. Sie war vollständig mit einem hellblauen Gewand gekleidet – einem hellblauen Mantel und hellblauen Kopftuch, das über die Schultern ging. Das Gesicht, die Hände und Schuhe waren frei. Sie saß alleine dort und bewegte sich kaum. Es war ein schönes und ruhiges Bild, was an diesem Sonntag und in den darauf folgenden Tagen bis heute nicht mehr aus meinem Kopf ging. Auch eine Stunde später saß sie dort, zwei weitere Stunden später und bis in den frühen Nachmittag hinein. Mal saß sie auf der rechten Seite der Bank, mal links. Mal saß sie mit überkreuzen Händen dort, mal hatte sie die Ellenbogen auf den Knien und stützte den Kopf oder legte die Hände seitlich auf die Bank. Mehr Bewegungen gab es nicht. Es war ein schönes und ruhiges Bild und doch war es traurig, aber es zog mich immer wieder an und ich schaute öfter, ob sie noch dort sitzt.

Mehr als das, was ich gesehen habe, weiß ich nicht über sie. Ich weiß nicht wie sie heißt oder woher sie gekommen ist. Auch nicht wohin sie ging. Ich vermute, dass sie aus einem fremden Land kam, sonst hätte sie nicht eine solche Tracht getragen. Ich weiß nicht, was sie dazu bewogen hat einen ganzen Sonntag auf einer Bank im Sonnenschein zu verbringen. Und gerade das lässt mich immer wieder an sie denken. Was hat sie gedacht, woran hat sie sich erinnert, was hat sie beschäftigt. 

Was hat sie erlebt? Ich nehme an, dass sie in der Erstaufnahme-Einrichtung an unserer Ecke wohnt. Die Menschen, die dort leben, kommen aus den unterschiedlichsten Ländern. Alle haben einen weiten Weg hinter sich. Alle haben Geschichten hinter sich, die sie berechtigen, von einer Notunterkunft in eine Erstaufnahme-Einrichtung zu wechseln. Das bedeutet, sie sind geduldet in unserem Land. Um geduldet zu sein, muss man Gründe haben oder Geschichten erlebt haben, die alles andere als angenehm, eventuell sogar existenzgefährdend oder lebensbedrohlich sind. Sie sind geduldet – das bedeutet auch, dass sie nicht wissen, wie die Zukunft aussehen wird. Es sind Menschen, die nur von einem Tag auf den anderen leben und planen können. Die sich mit den Gegebenheiten in der Einrichtung arrangieren müssen, ganz gleich ob im Nebenzimmer vielleicht sogar Menschen aus einem verfeindeten Land leben. Sie müssen warten bis unsere Behörden reagieren und ihnen vielleicht zugestehen, dass sie länger bei uns leben dürfen. Sie sind auf andere Menschen angewiesen, die ihnen vorschreiben, ob und wie ein Neuaufbau ihres Lebens möglich wird. Sie dürfen nicht über ihr eigenes Fortkommen entscheiden. Sie müssen aushalten … jeden Tag aufs neue. Die Vorstellung, meine persönlichen Geschicke von anderen entscheiden lassen zu müssen, macht mich wütend!

Welchen Weg hat sie genommen? Ist sie alleine oder mit ihrer Familie zu uns gekommen. In welchem Land hat diese Reise begonnen und was hat sie erlebt, das sie zu dieser Reise gezwungen war? Waren es nur Landwege oder musste sie auch über das Wasser? Das Meer, in dem auch in diesem Sommer so viele Menschen ertrinken. Das gleiche Meer, das uns im Sommer so viel Freude machte. Hat sie erlebt, wie Menschen ertranken? Musste sie an versperrten Grenzen und in trostlosen Lagern warten? War sie auf menschenverachtende Schlepper angewiesen, die ihr und ihrer Familie das letzte Geld abnahmen? Was hat sie gefühlt, als sie doch unsere Grenze erreichen und einreisen durfte? Wie wurde sie bei uns aufgenommen? Ich bin mir sicher, dass ihre Reise keine angenehme war – eine Reise, an deren Ende keiner weiß, wie das Leben weitergehen wird. Allein die Vorstellung alles hier und heute liegen zu lassen und zu wissen, dass ich es nie wieder so sehen werde, macht mir Angst!

Wo ist ihre Familie? Warum sitzt sie einen ganzen Tag alleine auf einer Bank. Ist es in der Unterkunft so eng und laut, dass sie einfach ein paar Stunden Ruhe braucht oder ist sie überhaupt allein? Konnte sie mit der ganzen Familie hierher kommen oder musste sie geliebte Menschen zurücklassen? Hat sie im Krieg in ihrem Land schon den Mann, den Sohn oder Töchter verloren? Was denkt sie bei der Vorstellung nie wieder auf dem heimischen Markt ihre Nachbarn und Bekannte zu treffen. Wie geht es ihr, wenn sie hier beim Einkauf im Supermarkt argwöhnisch betrachtet wird? Hat sie jemanden hier mit dem sie zusammen lachen kann? In den südlichen Ländern hat Familie eine ganz andere Bedeutung und Zusammenhalt als bei uns. Trotzdem graut mir vor dem Gedanken auf irgendeinen von meinen liebsten Menschen verzichten zu müssen!

So könnte ich lange weiter hinterfragen und versuchen zu ergründen, was in dieser Frau vorging. Dachte sie eher an die Vergangenheit oder an die Zukunft? Ich werde es nie erfahren. Trotzdem war sie für mich mehr, als nur eine Frau auf einer Bank. Sie war Anlass, mir wieder und wieder über die Menschen Gedanken zu machen, die zu uns kommen. Menschen, die ganz gleich aus wirtschaftlicher Not oder lebensbedrohlichen Umständen hierher zu uns fliehen. Sie war Anlass, mir selber deutlich zu machen, welchen Luxus ich erleben darf und auf welchem Niveau ich zuweilen klage. Sie macht mir gerade in diesen Tagen klar, wie absurd es ist über ein Burka oder Burkini-Verbot zu streiten und statt dessen lieber die Frau in den Mittelpunkt gerückt werden müsste, die solche Trachten trägt. Das Bild dieser Frau, liebe Freunde mit rechten Gedankengut und ihr besorgten Bürger, hat mich insofern bedroht, als das es mich zwang darüber nachzudenken, mit welch abfälligem Niveau und wie oberflächlich wir mit Fremden umgehen.

Ich habe mich später sehr über mich geärgert. Irgendwann hätte ich hinüber gehen sollen und ihr wenigstens etwas zu trinken anbieten können. Habe ich leider nicht – weil sie so fremd aussah? Am späten Nachmittag ging ich mit meinem Mann und dem Hund aus dem Haus. Im Weggehen schaute ich über die Straße. Sie hob den Kopf und lächelte mich an. Ich war dankbar – sie hatte zumindest ihr Lächeln nicht auf dem langen Weg verloren und mir einen winzigen persönlichen Moment geschenkt. Als wir wiederkamen war die Bank leer. Das Bild dieser Frau ist bis heute geblieben.  

Integration ist Kunst

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Sie hat einen Blick für sie. Jetzt könnte man sagen, dass das zu ihrem Job gehört, aber es ist weit mehr als das. Wenn Veronika Mampel durch die Straßen läuft, wenn sie etwas auf einem Amt zu tun hat oder in der Stadtbibliothek Bücher zurück bringt, sieht sie die Menschen. Menschen, die in den Straßen Koffer tragen und sich anhand von Wegzetteln orientieren. Sie sieht Menschen, die in Begleitung auf Ämtern versuchen, ihre Angelegenheiten zu regeln, was sie ohne Dolmetscher nicht könnten. Sie sieht Menschen, denen von freiwilligen Helfern unser kulturelles Angebot, zum Beispiel in der Bibliothek, näher gebracht wird und denen man die Stadt und unser öffentliches Leben zeigt. Es sind Menschen, die bewegende Geschichten hinter sich haben und hier versuchen, ein geregeltes Leben aufzubauen. Sie steht selber jeden Tag mit diesen Menschen im Kontakt, weshalb sie auch die anderen Geflüchteten mit geübten Blick erkennt … und ihre Hoffnungen spürt.

LT_21.7-fluechtlingsarbeit_1„Die Wanderung der Geflüchteten ist noch lange nicht zu Ende, wenn sie es geschafft haben, bei uns anzukommen.“ weiß Veronika Mampel aus Erfahrung. Als Mitbegründerin des sozialen Trägers Stadtteilzentrum Steglitz e.V. und aus der langjährigen Arbeit als Arbeitsbereichsleiterin für nachbarschafts- und generationsübergreifende Arbeit hat sie immer mit unterschiedlichsten Menschen zu tun. Über die Weihnachtsfeiertage 2014/2015 kamen geflüchtete Menschen dazu. Von heute auf Morgen wurde eine Halle im Kiez zur Notunterkunft umfunktioniert, eine spontane Spendenaktion ausgerufen und dort geholfen, wo es eben ging. Diese erste Erfahrung war anstrengend und bereichernd zugleich, und – was noch niemand wusste – die Geburtsstunde ihres neuen Arbeitsbereiches, der Koordination der Flüchtlingsarbeit innerhalb des Trägers. Die integrative Arbeit für eine Erstaufnahme-Einrichtung kam in der Folge hinzu, eine weitere Notunterkunft in einer Halle als Betreiber, zwei Einrichtungen für unbegleitete Kinder- und Jugendliche. Nebenher die Koordination vieler ehrenamtlicher Helfer, an denen es glücklicherweise in diesem Bezirk nicht mangelt. Darüber hinaus wurden in den bestehenden Einrichtungen viele Angebote geschaffen, die es den Geflüchteten ermöglichen, für ein paar Stunden aus ihrem sonst eintönigen Alltag herauszukommen, Kontakte mit Einheimischen zu knüpfen und die deutsche Sprache kennenzulernen. Letztlich musste auch der nachbarschaftliche Aspekt von ihr bedacht werden. Nur Unbekanntes schürt Ängste. Nachbarn, die den Menschen hinter dem Geflüchteten kennenlernen möchten, brauchen sich nicht zu fürchten. Das hört sich alles nach viel Arbeit an, ist es auch, aber natürlich hat sie viel Unterstützung von den Mitarbeitenden und geht in der Planung routiniert vor. Was jedoch nie zur Routine werden kann, ist die Geschichte, die jeden Geflüchteten begleitet und bei jedem anders aussieht.

Die Geflüchteten begegnen ihr jeden Tag. Jedes ihrer Schicksale hinterlässt Spuren und es gehört eine gewisse Professionalität dazu, um damit umgehen zu können. Die Anforderungen an diese Aufgabe und an die Geflüchteten sind vielfältig. Kindern muss der Besuch in einer Willkommensklasse ermöglicht werden, viele Kinder und Erwachsene benötigen ärztliche Betreuung, Erwachsene müssen motiviert werden, Angebote wie Deutschkurse anzunehmen. Anträge müssen bearbeitet werden, Termine gehalten und erneut vereinbart werden. Zwischen Terminen und Anträgen müssen lange, nervenaufreibende Wartezeiten überbrückt werden. Intimität gibt es dabei für die Geflüchteten nicht, da sie mit vielen anderen in einer Halle leben, die keine Möglichkeit bietet, für sich alleine zu sein. Angekommen sind sie nur in Deutschland – aber noch lange nicht in Sicherheit und in geregelten Verhältnissen. Veronika Mampel weiß, wie sich das anfühlt und was in diesen Menschen vorgeht. Kurz vor dem Mauerbau sind auch ihre Eltern in den Westen übergesiedelt und mussten mit allen Kindern ganz von vorne anfangen. Sich integrieren in eine Gesellschaft, die nur mit sich selbst beschäftigt war.

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Mit manchen Schicksalen kommt sie intensiver in Kontakt. Zwei junge Syrer, die im Seniorenzentrum Scheelestraße eine erste Bleibe fanden, hat sie fast von Anfang an begleitet. Haydarah ist einer der beiden. Mit viel Geduld hat er es geschafft das Bleiberecht in diesem Land zu bekommen. Mit Hartnäckigkeit und viel Glück gelang es schließlich, ihm durch den Dschungel der Anträge und Papiere zu helfen und heute freut er sich jeden Tag auf seine feste Arbeit und auf die eigene Wohnung, in die er am Abend zurückkehren kann. Seine Geschichte ist eine Kombination aus Glück und eigenem Willen. Auch der zweite junge Mann ist auf einem sehr guten Weg, aber sein Bleiberecht noch nicht restlich geklärt. Erst dann wird es möglich, Arbeit und Wohnung in Angriff zu nehmen, auf die er durchaus schon Aussichten hat. Bei diesen beiden hört es sich gut an, nicht erwähnt dabei sind die Wohnungen, die sie nicht bekommen haben. Veronika Mampel kennt das leere Gefühl nur zu gut, wenn man eine Wohnung für einen Geflüchteten in Aussicht hat, alle Papiere zusammenstellt, abgibt und … wartet. Die Wohnungen sind dann vergeben, weil die Behörden zu langsam reagieren. Man stößt oft an die Grenzen der Machtlosigkeit, muss sie aushalten und doch ungebrochen weiter machen. Geschichten wie die von Haydarah bauen auf und schaut man in sein strahlendes Gesicht, weiß man einfach, dass es richtig ist.

Sie hört oft die Geschichten, die diese Menschen mitbringen und von den Nöten, die sie hier erleben. Geschichten über Flucht, verlorene Familienmitglieder, verlorene Träume. Geschichten, die wir kaum begreifen können, weil wir nie in die Nähe der Angst kommen, die diese Menschen erlebt haben. Die Gefahr nicht spüren können, die sie aushalten mussten, den Verlust nicht kennen, den sie verkraften müssen. Gerade jetzt ist Ramadan, der Fastenmonat der Muslime. Sie müssen sich in einer vorwiegend christlichen Gesellschaft den Glauben und die Tradition bewahren. Sie sind geschwächt durch das Fasten. Normalerweise ein Ereignis eng verbunden mit dem familiären Kreis. Und doch müssen sie ihren Glauben den Erfordernissen, Terminen und den Spielregeln, die hier gelten, anpassen – ihre Hoffnungen, Verluste, Ängste und Vergangenheit zurückstellen.

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Integration ist eine Kunst und ein Zauberwort, das man allzu oft hört, wenn es um Geflüchtete geht. Sie müssen diese Gratwanderung zwischen altem und neuem Leben bewältigen. Wie schwierig das ist, erlebt Veronika Mampel jeden Tag aufs Neue. Erlebt, was von ihnen gefordert und erwartet wird. Erlebt die Gleichgültigkeit, die viele von uns ihnen entgegen bringen. Erlebt aber auch Dankbarkeit, Menschen, die unbedingt neu anfangen wollen und Unterstützung, die sie immer wieder in ihrem Handeln bestärkt. Es ist weit mehr als der richtige Blick für diese Menschen. Es ist ihr Blick auf eine Gesellschaft, die nur an der Akzeptanz dieser Aufgabe und Integration dieser Menschen wachsen kann.

Schreiben gegen Rechts – die Blogparade FÜR Toleranz + Vielfalt

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Die Zusammenfassung

Angefangen hat alles aus Ärger und Angst. Ärger über Nachrichten aus der aktuellen Tagespolitik, über Intoleranz, über politische Strömungen, die dem Gedanken unseres Grundgesetzes zuwider laufen und über das historische Vergessen in unserer Geschichte. Angst vor Entwicklungen, die wir nicht mehr aufhalten können, wenn wir nicht rechtzeitig einschreiten. Angst vor offensichtlich immer stärker werdenden rechten Tendenzen in unserem Land. Angst vor Extremismus völlig gleich aus welcher Richtung. Es waren andere Nachrichten, die ich lesen und andere Stimmen, die ich hören wollte. Besonders aber wollte ich nicht, dass wieder einmal zu viele still sind und so unabsichtlich Tendenzen fördern, die niemandem in diesem Land gut tun können. Ich wollte etwas tun und nicht still sein – so entstand die Idee der „Blogparade gegen Rechts“. Ende Februar schrieb ich meinen Aufruf, veröffentlichte ihn in meinem Blog und bangte anfänglich, ob das wohl etwas werden würde. Es wurde … wurde so viel, wie ich es kaum für möglich gehalten hätte. Es versetzt mich jetzt in die Lage, ein wunderbares Statement gegen Rechts, FÜR Toleranz, für eine offene, freie und multikulturelle Gesellschaft, in der Zusammenfassung von 81 Blogbeiträgen vorzustellen.

Was hier zusammen gekommen ist, sind nicht nur 81. Beiträge, es ist auch ein ganzer Monat mit der Auseinandersetzung mit dem Thema. Jeder Beitrag ist auf seine Weise einzigartig. Manche gehen in ähnliche Richtungen und doch bringt jeder eigene Aspekte ein, beleuchtet das Thema von einer anderen Seite oder stellt es auf ganz eigene Weise dar. Jeder Beitrag ist ein Gewinn für denjenigen, der sich kritisch mit den Tendenzen im Land auseinandersetzen will. Es sind sachliche Beiträge, Gedichte, Geschichten, persönliche Erlebnisse oder Beispiele aus Projekten und Hilfeangebote u. v. m. Jeder Beitrag ist ein Bekenntnis, warum wir ein bestimmtes Kapitel unserer Geschichte nicht wiederholen wollen. In seiner Sprache ist jeder anders – manche ganz klar, manche frech, manche deutlich, mache sarkastisch und manche eher versöhnlich. Jeder so, wie er es will, jeder Beitrag steht für sich.

Zu jedem Beitrag und auch dazwischen, schrieben Leser ihre Kommentare. Mal lieb und freundlich, mal kritisch … immer – und das rechne ich allen Lesern hoch an – in angemessenem Ton! Ich habe alles freigeschaltet, was geschrieben wurde. Aus Erfahrung behalte ich mir vor, neue Kommentatoren erstmalig freizuschalten. Kritik bekam ich ebenfalls, die es zu bedenken gab: Warum nur gegen Rechts zum Beispiel. Ganz einfach, weil die Rechten zur Zeit das Bild bestimmen. Grundsätzlich bin ich gegen alles, was extremistisch, undifferenziert und menschenverachtend ist. Warum „Gegen“ und nicht „Für“? Diesbezüglich verweise ich auf den letzten Satz des Aufrufs „Ich würde mich unheimlich freuen, wenn ihr dazu beitragt, dass ein Teil meiner Angst in Stärke und Gewissheit gewandelt wird, dass jeder etwas – nach seinen Mitteln und Möglichkeiten – FÜR unseren offene, freie Gesellschaft tut.“ Auch glaube ich, dass der Aufruf bei weitem nicht die gleiche Aufmerksamkeit bekommen hätte, hätte ich ihn „Für Toleranz und Vielfalt!“ genannt – so traurig das auch sein mag.

Es wurde recht schnell klar, dass eine einfache Auflistung oder Linkliste aller Beiträge der Sache nicht mehr gerecht werden würde. So überlegte ich lange über die Form der Darstellung. Ich denke, ich hätte ein einfaches Pdf mit allen Beiträgen gemacht, aber manchmal ergeben sich Dinge, die sich zeitlich in die Hände spielen. Durch meine Arbeit ergab sich die Notwendigkeit, dass ich mich mit einem neuen Format der Veröffentlichung von Texten auseinander setze, weil die Zeitung, die ich seit Jahren machte, eine neue Form brauchte. So hatte ich mit der Blogparade das ideale Übungsobjekt und kann ein eBook anbieten, das jeder bequem an Smartphone, Tablet oder am Computer lesen kann. Ich betrachte es nicht als Buch (dafür gibt es Fachleute) und die professionellen Autoren unter euch mögen mir gnädig sein. Es ist für mich die bequeme Möglichkeit, alle wunderbaren Beiträge einer breiten Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen. Ich betrachte es auch nicht als „meins“ – es gehört allen teilnehmenden Bloggern gemeinsam. Und ich betrachte es auch nicht als fertig. Zwar habe ich versucht alle Formatierungen der ursprünglichen Beiträge weitestgehend zu übernehmen, alle gesetzten Links zu beachten und Bilder, sofern möglich, einzubinden, aber sicherlich ist mir das ein oder andere durchgerutscht. Die reinen Texte sind 1:1 aus den verlinken Quellen kopiert. Wer also etwas entdeckt, was geändert werden sollte, möge Bescheid geben, sofern er gar nicht damit leben kann. Einzig die immer wiederkehrende Verlinkung auf die Blogparade habe ich weggelassen. Gestalten kann man in einem eBook nur bedingt. Ich habe mich etwas daran versucht, indem ich den Anfang jedes Kapitels in Formatierung der Schrift und durch Bilder gleich aussehen lies.

„Nicht fertig“ bedeutet für mich auch, dass ich die Parade nicht als beendet betrachte. Ein paar Beiträge fehlen dabei. Ein Blog war vollständig gelöscht, ein Link funktionierte nicht mehr, ein paar tweets lassen sich nicht zurück verfolgen. Letztlich waren auch noch ein paar Beiträge angekündigt. Nun, wir kennen alle den Alltag, der unsere Pläne durcheinander bringt … ich weiß nicht, ob es verwegen ist, aber bis zu 100 Beiträgen würde ich das eBook erweitern. 19 Kapitel einfügen (das habe ich jetzt gelernt) ist technisch gut machbar. Ich lasse es also offen, ob der ein oder andere noch einen Beitrag hinzufügen möchte.

Die Bearbeitung der einzelnen Beiträge, war für mich noch einmal eine intensive inhaltlich Auseinandersetzung. Ich bin nicht in der Lage zu sagen, welcher mir am besten gefällt. Jeder Beitrag hat etwas für sich. Aus dem Kopf heraus kenne ich den kürzesten, den längsten, den witzigsten, den erschütternsten, den frechsten Beitrag … auf der Höhe der Beiträge, die bewundernswert sind, stehen alle 80 Beiträge gleich … der 81. ist mein eigener, den nehme ich aus. 😉 Absolut begeistert bin ich von den vielen unterschiedlichen Denkansätzen, die hier zusammen kommen. Ich werde sie noch einmal lesen, mir in Ruhe die zugehörigen Verlinkungen ansehen, überdenken, was ich erfahre, dazu lernen und verwerten. Dafür bin ich dankbar!

Dankbar bin ich allen die teilgenommen haben – haben sie mich doch in dem bestätigt, was ich erfahren wollte. Es gibt sie – die Stimmen da draußen, die durchaus etwas dagegen zu setzen und zu sagen haben. Ein Teil meiner Angst ist Stärke und Gewissheit geworden: Nicht alleine zu sein mit meiner Hoffnung, dass eine tolerante Gesellschaft möglich ist, wenn wir nicht müde werden uns dafür einzusetzen und darum kämpfen. Wenn wir mit Wort und Tat Vorbilder werden und daran glauben, dass jeder – wirklich jeder – bei uns seinen Platz hat. Wenn wir uns für Empathie unseren Mitmenschen gegenüber einsetzen und sie ausleben, ganz gleich woher sie kommen, was sie glauben oder welchen kulturellen Hintergrund sie haben. Wenn wir aushalten können, dass es Andersdenkende immer geben wird, für Gespräche mit ihnen offen bleiben und Meinungsvielfalt aktiv leben. Wenn wir Differenzierung von Sachverhalten nicht verlernen. Aber dennoch den Andersdenkenden, empathielosen Mitbürgern, nicht das Feld überlassen.

Ein Dankeschön gilt meinem Mann, meiner Mutter und meinem Chef. Sie stehen immer zu Gesprächen bereit, wenn mich Zweifel plagen oder ich mir in manchen Punkten nicht sicher bin und andere Meinungen brauche. Ein besonderes Dankeschön gilt Günther Kloppert, meinem „alten“ Schulfreund. Er ist kein Blogger – er fotografiert leidenschaftlich und hat viele Bilder für dieses eBook zur Verfügung gestellt. Das ist seine Form des Statements. Alle anderen Bilder stammen aus der freien Pixabay-Auswahl, auch dafür – danke!

Zwei oder dreimal habe ich in einem Kommentar und Beitrag die Frage gelesen, was es bringt, solch eine Blogparade zu veranstalten, was wir dadurch verändern und welche Auswirkungen es hat. Das ist für mich gleichbedeutend mit: „Wir haben ein Problem, aber es lässt sich sowieso nicht lösen, also versuchen wir es erst gar nicht!“ Ich denke, jeder kleinste Versuch, sich für Toleranz und Vielfalt einzusetzen, jedes kleine Lächeln auf der Straße einem Fremden gegenüber, jedes gute Wort an einen Hilfesuchenden, jedes geschriebene oder gesagte Wort für diese gute Sache bewegt und fördert. Jeder von uns ist ein Vorbild in Denken und Handeln – welches Vorbild wir sein möchten, haben wir selber in der Hand. Wir können, jeder einzelne von uns, die Gegenwart und Zukunft positiv und optimistisch gestalten – dieses eBook und sein Statement ist ein Beispiel dafür!

 

Und nun zur Datei:

Das Bild anklicken um das eBook oder
darunter den Link anklicken um alternativ das Pdf herunter zu laden.
(Nur zur Sicherheit sei erwähnt, dass es natürlich kostenfrei ist).

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Blogparade Schreiben gegen Rechts – das Pdf

Ich wünsche allen Lesern der Publikation spannende Lektüre, gute Ein- und Ansichten und freue mich über Rückmeldungen.

… und wenn es euch gefällt – dann bringt es unter die Leute! 🙂

Herzliche Grüße

Anna Schmidt

Schreiben gegen Rechts – Blogparade

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Ich habe Angst: Angst davor, dass mein Neffe eines Tages vor mir steht und fragt: „Warum hast du nichts getan?“ Ich habe Angst, dass mir meine Schwägerin erzählt, dass sie nicht mehr einzukaufen kann, weil es zu gefährlich geworden ist. Ich habe Angst von meinem Bruder zu hören, dass er sich nur noch heimlich mit seinen Freunden treffen kann. Ich habe Angst, dass mir meine Töchter von ihren kranken Kindern erzählen, weil sie mit der Disziplin und Autorität in der Grundschule nicht klar kommen. Und ich habe Angst, dass es meinen Blog nicht mehr gibt, weil er wegen staatsgefährdenden Inhalten vom Netz genommen wurde. Die größte Angst habe ich vor all denjenigen, die keine Angst haben. Denjenigen die derzeitige politische Entwicklungen kopfschüttelnd verfolgen, hoffen, dass es schon vorbei geht und – nichts tun!

Im ersten Absatz stehen allein vier Forderungen eines öffentlichen Wahlprogramms, die realisiert werden würden, wenn eine gewisse Partei, deren Namen ich nicht nennen werde, ihr Programm umsetzen kann. Es sind keine Horror- oder Zukunftsvisionen, das sind geforderte Fakten, die noch dazu unserem Grundgesetz zuwider laufen – in schöne Worte gepackt. Wenn diese Forderungen wahr werden, wird sich meine dunkelhäutige Schwägerin in diesem Land nicht mehr sicher fühlen. Ihr Mischlings-Sohn, mein Neffe, wird sich trotz deutscher Geburt, deutschem Namen, deutscher Familie für das Land seiner Mutter entscheiden. Mein homosexueller Bruder wird die psychischen Belastungen nicht mehr aushalten. Meine Kinder werden mir Vorwürfe machen, dass ich sie frei und offen erzogen habe und sie nicht wissen, wie sie ihre Kinder disziplinarisch maßregeln sollen, damit sie sich in der Schule unauffällig verhalten.

Ich habe versucht, dieses Wahlprogramm komplett zu lesen, es aber nicht durchgehalten. Bei Lesen kamen mir Erinnerungen an ein anderes Buch, das vor fast genau 90 Jahren veröffentlicht wurde. Dort stand ebenso alles drin, was später Realität wurde und keiner wollte es vorher gewusst haben. Es war damals bekannt und es ist heute bekannt, was Menschen mit rechter Gesinnung fordern und welche Konsequenzen und Auswirkungen das auf uns alle haben würde. Die Parallelen sind erschreckend. Individualrechte sollen beschnitten und staatlich geprägter Gewalt gebeugt werden. Differenzierte Meinungsvielfalt wird mit diesem Wahlprogramm unmöglich gemacht. Wir wissen, dass Humanität, Menschlichkeit, Mitgefühl von Rechten mit den Füßen getreten und Freiheit, Individualität und freie Entfaltung keine Bedeutung mehr haben werden – sofern wir sie nicht aufhalten. Und trotzdem ist Zahl der Menschen, die still sind, die dieses Programm nicht lesen und wahrhaben wollen, die dieser Partei aus Leichtgläubigkeit keine Chancen einräumen oder aus unbegreiflichen Gründen folgen, erschreckend hoch.

Allerdings habe ich einen einzigen Punkt in diesem Programm gefunden, den ich sogar begrüße: Sie fordern, dass Nationalität und Herkunft von Straftätern veröffentlicht wird. Bitte fangt sofort damit an – bei all denjenigen, die vor Flüchtlingsunterkünften stehen und brüllen, die Aufnahme-Einrichtungen anzünden, Naziparolen an Wände schmieren und traumatisierte Menschen in Übelkeit erregender Manier attackieren. Es sind deutsche Männer und Frauen, die sich gerne hinter Grenzen verstecken, auf die Menschen davor schießen lassen würden und kullernden Kindertränen nicht nachgeben wollen. Noch dazu in unverschämter Weise von uns abverlangen, dass wir diese Bilder aushalten müssen. Deutsche Männer und Frauen, die unser Grundgesetz nur insofern nutzen, wie es ihren persönlichen Rechten und Rechtfertigungen dient. Die den Sinn in dieses Gesetzes schlicht nicht verstanden haben.

Bei all dem macht mich ein Punkt besonders wütend: Die derzeitige Situation und täglichen Nachrichten haben es geschafft, dass ich Angst bekomme. Ich bin nicht „besorgt“, sondern wütend und ängstlich über das Stillschweigen und die Untätigkeit all derer, die nicht dagegen halten, die nicht wählen gehen und glauben, dass es sie nichts angeht. Ich bin wütend über Politiker, die immer noch nicht die Dimension und Gefahr sehen, die sich aufbaut und sich hinter verharmlosenden Phrasen versteckt. Ich habe für mich beschlossen es ihnen nicht gleich zu tun. Ich will mich bei jeder Gelegenheit gegen Rechts, für Individualität, Menschlichkeit, freie Meinungsäußerung und für eine multikulturelles Land einsetzen. Ich will die moralischen Werte, zu denen ich erzogen worden bin, für alle Menschen, gleich welchen Herkunftslandes, bei uns erhalten. Ich möchte jeden Morgen mit gutem Gewissen in den Spiegel sehen und wissen, dass ich für die Freiheit meiner Kinder alles getan habe. Ich möchte später meinem Neffen sagen können: „Ich habe etwas getan, den jeder konnte etwas tun!“

Ich möchte euch ebenso bitten etwas zu tun. Ich rufe zu einer Blogparade mit dem Titel „Schreiben gegen Rechts!“ auf. Schreibt, warum ihr gegen rechte Gesinnungen seid, was diese in euch auslösen, wie ihr damit umgeht, was für Alternativen wir haben, was ihr erlebt habt, was euch Angst macht oder eure Wut auslöst. Schreibt von guten Beispielen, erfolgreichen Projekten, über bewundernswerte Menschen. Schreibt es in fairer und differenzierter Form, denn wir stellen uns bewusst nicht mit Rechten und deren Kommunikationsformen auf eine Stufe. Fordert eure Freunde und Bekannt auf, sich zu beteiligen.

Bitte teilt mir hier als Kommentar zu diesem Beitrag mit, ob ihr an dieser Blogparade teilnehmt. Sehr gern könnt ihr auch schon einen Link zu eurem Blog hinterlassen, damit interessierte LeserInnen vorab schon mal bei euch stöbern können. Wenn euer Beitrag bis zum 31. März 2016 fertig ist, gebt ihr das bitte ebenfalls hier mit entsprechendem Link bekannt. Bitte setzt in euren Blogparade-Beiträgen auf jeden Fall auch einen Link zu meinem Blog bzw. zu diesem Artikel. Ich werde am 31. März alle Beiträge zusammenfassen und mit den entsprechenden Links zu euren Blogs gebündelt präsentieren. Das obere Bild darf ungefragt übernommen werden.

Ich würde mich unheimlich freuen, wenn ihr dazu beitragt, dass ein Teil meiner Angst in Stärke und Gewissheit gewandelt wird, dass jeder etwas – nach seinen Mitteln und Möglichkeiten – FÜR unseren offene, freie Gesellschaft tut.

Türen öffnen …

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Ich ging durch eine Winterstraße und kam an einer Tür vorbei,
die wirkte fest und auch sehr sicher, ging sicherlich nicht schnell entzwei.
Sie war sehr schön und gut beleuchtet, der Anblick lies mich nicht mehr los,
doch stand ich zweifelnd auf dem Weg – was ist denn ihre Botschaft bloß?

Wird sie sich öffnen, mich empfangen, darf ich der Gast des Hauses sein?
Bleibt sie verschlossen, weist mich ab, lässt keine Fremden dort hinein?
Was ist dahinter? Wie ist der Mensch, der hinter dieser Türe lebt?
Wie ist sein Geist, was ist das Ziel, das hier durch diese Räume schwebt.

Viel weiter führte mich mein Weg durch diese ruhige Winternacht,
Offen die Tür oder verschlossen – ich habe noch viel nachgedacht.
Bevor ich deine Tür betrachte, wie sieht’s mit meiner eig’nen aus?
Was denkt der fremde Mensch, der steht vor meinem Haus?

Was siehst du, wenn du meine Tür von außen musst betrachtest?
Fühlst du dich eingeladen wohl oder sogar verachtet.
Steht meine eigene Tür zuhaus‘ dem Fremden auf und lässt ihn rein,
Oder leb’ ich doch lieber hier für mich und ganz allein?

Und so verglich ich dann – den Mensch, ja mich, mit meiner Türe.
Was steht als erstes wohl bei mir, wenn ich den Türgriff führe?
Ist es die Neugier und das Öffnen, das meine Tür bewegt
Oder die Angst und Sicherheit, die mein Gefühl hier regt?

Ob Tür, ob Tor, ob der Gedanke, der Wissensdurst oder mein Herz,
Ich möchte offen sein für alles – Verweigerung bringt mir Schmerz.
Ich möchte hören, fühlen, sehen, was dich wohl mag bewegen,
Mit dir gemeinsam mag ich hier den Grundstein für die Zukunft legen.

Die Türen, da sind sie alle gleich, haben ein Schloss und einen Griff,
Es ist der Mensch, der dieses nutzt, der Tür gibt ihren letzten Schliff.
So lassen wir, wer will, hinein ist er in seinem Denken gut,
Dann können wir das Anderssein, betrachten mit viel Mut …

… und schöpfen aus dem Topf des anderen, der dann – ist seine Zeit gekommen,
Auch seine Tür wird öffnen mir – ganz frei und unbenommen!

 

Dieses Jahr war ganz ohne Zweifel von den vielen Menschen geprägt, die bei uns Zuflucht und Schutz gesucht haben. Es war aber auch dadurch geprägt, wie unterschiedlich die Bereitschaft aller hier lebenden Menschen ist, sich auf neue Dinge und Fremdes einzulassen. Gerade zur Weihnachtszeit, die mit einer Flüchtlingsgeschichte begann, ist es wichtig, sich selber zu hinterfragen und seine eigene Bereitschaft zu prüfen, neuen Entwicklungen den Raum zu geben, in dem sie sich entfalten können. Fremden Menschen die Möglichkeit zu geben ihr Können und Vermögen zu zeigen und in die Gemeinschaft mit einzubringen. Gewinnen tun letztendlich unsere Kinder, wenn wir uns für eine offene, multikulturelle und moderne Gesellschaft einsetzen.

Ich wünsche allen ein wunderschönes Weihnachtsfest, ganz gleichgültig, ob in der Religion oder einem anderen Glauben verwurzelt. Wichtig ist, dass wir überhaupt etwas glauben … zum Beispiel an eine gute, erfüllte Zukunft!

Frohe Weihnachten!

Die Freiheit muss lebenswert sein …

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Sprachlosigkeit, Schock, Mitgefühl, Wut, Angst, Fassungslosigkeit, Trauer, Ohnmacht, Innehalten. Alles durcheinander. Suche nach Orientierung, suche nach Antworten und der eigenen Position. In Gedenken der Opfer! Ein schwerer Tag für alle – der Tag danach, dem viele weitere folgen werden, an denen wir Halt finden müssen – Hoffnung aufbauen und Stärke beweisen müssen. Trost suchen!

Die Antwort darf niemals Hass sein, nicht Gewalt und auch nicht Hetze.

Die Freiheit muss verteidigt werden, die freien Werte, freie Meinung, freie Lebensform … jeder auf seine Weise – jeden anderen achtend.

Leichte Worte … in meinem sicheren Haus … dennoch dürfen wir uns dem Terror nicht beugen, woher er auch immer kommen mag.

Die Freiheit muss lebenswert sein – für dich, den Fremden, den Freund, den Andersdenkenden, für mich … genug Worte!

Stacheldrahtzaun oder Betonelemente – schon vergessen?

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Das Gefühl ist im Nachhinein schwer zu beschreiben … , wenn man davor stand, nach links und nach rechts schaute und kein Ende ausmachen konnte. Doppelter Stacheldrahtzaun oder Betonelemente verhinderten die Sicht auf das, was dahinter war. Allein das Bewusstsein, dass Selbstschussanlagen, Minenfelder, Hundelaufanlagen und andere Schikanen ein Durchkommen unmöglich machten, reichte aus, eine unglaubliche Ohnmacht und Beklemmung zu erzeugen. 

Einzig ein paar Grenzübergänge erlaubten ein Durchkommen, dies nur nach scharfen Kontrollen, unter Beobachtung und Bewachung von bewaffneten Grenzsoldaten. Bei Kontrollen, ob mit Auto oder Zug durch das Gebiet der DDR unterwegs, stets die spürbare Anspannung, welche Fragen von den Kontrolleuren gestellt werden würden, und die Erleichterung, wenn sie sich der nächsten Person zuwandten. Die Erleichterung, westdeutschen – freien – Boden zu betreten und das Gefühl zu haben, dass man nun wieder sagen darf, was man will. Der „antifaschistische Schutzwall“ war die euphemistische Bezeichnung der innerdeutschen Grenze des Ostens, der vor Übergriffen aus dem Westen schützen sollte. Ein Schutz, der letztlich über 45 Jahre 872 Menschen das Leben kostete. Vielen Menschen, die fliehen wollten, hat dieser „Schutz“ lange Gefängnisstrafen aufbürdete und Familien auf Jahrzehnte getrennt oder oft für immer entzweit.

Die Kinder der 50er und 60er sind mit dieser Mauer aufgewachsen und kannten nichts anderes. Sie mussten sich oft mit dem Vorwurf auseinandersetzten, das geschichtliche Erbe des letzten Weltkriegs der Eltern und Großeltern zu tragen, dessen Konsequenz diese Mauer war. Eine Mauer, die jeglichen Freiheitsgedanken, Rede- und Reisefreiheit, Selbstbestimmung immer wieder sichtbar außer Kraft setzte. Für beide Seiten – die einen, die nicht hinein konnten und die anderen, die eingeschlossen leben mussten. Für Berliner war es täglich gelebte Realität. Die Geschichte hatte jedoch einen anderen Plan und durch viele zusammenhängende geschichtlichen Entwicklungen, durch beherztes Agieren verschiedener Persönlichkeiten, wurde die Öffnung und letztlich Beseitigung möglich.

Der Mauerfall am 9. November 1989 wurde ein geschichtliches Ereignis, das bis heute tief in das Gedächtnis aller eingebrannt ist, die in irgendeiner Weise betroffen waren. Unzählig die Biografien, deren Verlauf sich durch diesen Tag drastisch änderte. Für die, die es erlebt haben sind die Tränen, die Freude und Euphorie noch heute spürbar, genauso wie die Unsicherheit und Angst vor der Zukunft. Bedeutend schließlich der 3. Oktober 1990, der beide ehemaligen Staaten wieder zusammenführte. Unbestritten, dass dieser Tag lediglich der Beginn einer gemeinsamen Entwicklung war und unzählig die Liste der persönlichen Geschichten, die im Verlauf der Jahre sehr positive, aber auch oft sehr negative Erfahrungen mit der Zusammenführung beiden Staaten machen mussten. Eine Geschichte der Akzeptanz, der Toleranz und Solidarität, die nicht immer ein gutes Bild auf die Bürger beider Seiten warf.

Die deutschen Kinder der späten 90er Jahre und 2000er, kennen diese Schilderungen nur aus den Geschichtsbüchern. Ihnen ist kaum zu vermitteln, was es bedeutet, wenn einem ein Ort verschlossen ist. Wenn man keine Möglichkeit hat, geliebte Menschen zu sehen oder zu sprechen, wenn man in irgendeiner Weise in seiner Freiheit sich zu bewegen, zu denken oder sprechen, durch äußere Willkür behindert ist. Das Gefühl der Beklemmung und Angst kennen sie nicht, da sie das Privileg genießen, in Friedenszeiten und einem zusammengeführten Staat zu leben. Es ist ein Segen, dass diese Kinder, Jugendlichen, jungen Erwachsenen unbelastet und frei aufwachsen. Nicht zuletzt, weil dadurch die Mauer, die oft noch in den Köpfen vorhanden ist, immer weniger wird und ein Zusammenwachsen des Ostens und Westens in einem Land voranschreitet.

Dennoch stellt sich die Frage, welche Aufgaben uns im Hinblick auf die letzten 70 Jahre erwachsen. Den Kindern, wie früher geschehen, eine Erbschuld aufzubürden, ist wohl der falsche Weg. Ihnen muss jedoch klar gemacht werden, dass es höchsten Stellenwert hat, diese Geschichte wach zu halten und aus ihren Erfahrungswerten zu schöpfen. Dies nicht ohne dass sich die älteren Jahrgänge der eigenen Verantwortung bewusst sind, da man oft gerne das Negative vergisst, wenn die Zeiten wieder gut laufen. Jedem muss der Stellenwert unserer Freiheit höher liegen, als die Angst vor Unbekannten.

Insbesondere bedeutet es für dieses Land, das Bewusstsein wach zu halten, was eine Mauer, eine Grenze, sei sie gedacht oder real, für das Leben von Menschen bedeutet. Eine Mauer kann kein Schutz sein, wenn sie die Schutzbedürftigen ein- und ausschließt und damit Freiheit beschränkt. Sie kann nicht verhindern, dass Strömungen von außen ins Innere dringen und Leben verändern. Sie kann keinen Ist-Zustand erhalten, ohne zu sehen, was an den Grenzen passiert. Gerade dieses Land müsste jeglichen Begrenzungen entgegenwirken, jedem Menschen ungehinderten Zugang erlauben und die Stärke beweisen, jedem Menschen ein Leben an jedem Ort zu ermöglichen.

Die Deutsche Einheit ist nicht zu trennen von vielen Geschichten über Flucht, Existenzangst, Familientrennung und menschlichen Schicksalen. Umso mehr stehen wir in der Verantwortung, Stacheldrahtzaun oder Betonelemente nicht zu vergessen. In der Verantwortung uns für Freiheit in jeglicher Hinsicht einzusetzen – eine Verantwortung, die richtigen Signale zu setzen und uns europaweit zu Verfechtern der Freiheit für allen Menschen zu machen. Den Wandel und die Zeichen der Zeit anzunehmen. Ganz gleich, woher die Menschen kommen, ganz gleich, welche Sprache sie sprechen, welche Geschichten sie mitbringen, ob sie Gast oder Landsmann bei uns werden wollen. Die Freiheit ist wie eine Pflanze, die trotz Stacheldrahtzaun oder Betonelemente immer wieder zum Licht wächst. Manchmal dauert es viele lange Jahre – Jahre, die viele Menschen gerade jetzt nicht haben.