Bürger in Uniform … verkannte Helden?

Anfang April in Berlin: Die Berliner SPD fasst auf ihrem Landesparteitag den Beschluss, dass Jugendoffiziere der Bundeswehr nicht mehr an Berliner Schulen informieren dürfen. Zur Begründung heißt es in dem Antrag: „Für Töten und Sterben macht man keine Werbung.“ Die Kritik an dem Beschluss ist groß, insbesondere aus den eigenen Reihen und auf Bundesebene. In zahllosen Medienbeiträgen wird darauf hingewiesen, dass Deutschland eine Parlamentsarmee hat. Es wird der Unterschied zwischen Jugendoffizieren und Karriereberatern deutlich gemacht. Soldaten als Staatsbürger in Uniform bezeichnet und auch darauf verwiesen, was der Auftrag unserer Parlamentsarmee ist. Die Pressesprecherin der Berliner SPD rudert zurück und räumt ein, dass der Antrag Missverständnisse zulässt, sei doch ein Werbeverbot für militärische Organisationen gemeint gewesen. Der Antrag kommt nicht durch, nicht zuletzt weil die Haushoheit der Schulen bei den Direktoren liegt. Doch der Schaden war angerichtet und die Bundeswehr und ihre Soldaten erneut negativ in aller Munde. Aber was sind sie nun, diese Soldaten? Krieger, Mörder, Staatsbürger in Uniform, Arbeitnehmer oder verkannte Helden? Ihre gesellschaftliche Anerkennung ist umstritten.

Eva* ist Berufssoldatin und Mutter. Ihren Sohn würde sie nicht in Uniform von der Schule abholen, weil sie nicht möchte, dass er in eine Schublade gesteckt wird. Trotzdem steht sie aus voller Überzeugung zu ihrem Beruf. Begonnen hatte sie eine zivile Ausbildung als Arzthelferin, als der Gedanke Berufssoldatin zu werden, konkreter wurde. Das war nach der Wende. Dabei stand für sie die soziale Absicherung im Vordergrund. Sie sah ein interessantes Aufgabenfeld, auch wenn sie wusste, dass es gesellschaftliche Vorbehalte und Auslandseinsätze geben könnte. Sie war zweimal bei Einsätzen in Afghanistan. Das zweite Mal war ihr Kind schon geboren. Das bedenkt man nicht bei der Vereidigung, sagt sie. Soldatin sein, ist für sie ein völlig normaler Job, so wie andere Bäcker oder Verkäufer sind. Ihre Aufgaben liegen überwiegenden im Bereich als pharmazeutisch-technische Assistentin in der Bundeswehrapotheke. Zusätzlich gibt es auch soldatische Tätigkeiten, wie Wachdienst, Märsche und anderes. Natürlich geht auch an ihr die politische sowie gesellschaftliche Diskussion über die Bundeswehr nicht vorbei. Aber, sagt sie, auch wenn sie Mutter ist, die Bundeswehr braucht eine gute Materialausstattung und keine Kindergärten.

Paul* ist mit 17 Jahren 1977 zur Bundeswehr gegangen. Sein Motiv war zum einen, aus Berlin heraus zu kommen. Zudem wollte er, durch seinen Großvater, Kapitän zur See, geprägt, zur Marine. Für ihn stand im Vordergrund, die Möglichkeit zu haben, zur See zu gehen. Er wurde Sanitäter und fuhr einige Jahre zur See, später wurde er Sanitäts-Ausbilder für fahrende Einheiten. Zu der Zeit als er Berufssoldat wurde, war die Bundeswehr eine reine Verteidigungsarmee. Für Auslandseinsätze fehlte damals das Mandat. Das kam erst mit der Wende. Auch er sieht sich als Arbeitnehmer in Uniform mit einem besonderen Auftrag. Die Veränderungen innerhalb der Bundeswehr sind für ihn deutlich spürbar. War früher Disziplin und Kameradschaft gefragt, liegt heute eher das Gewicht auf Arbeitsvorschriften und Gleitzeit. Mit der gesellschaftlichen Veränderung hat sich für ihn auch die Bundeswehr sehr verändert.

Felix trat seine Grundausbildung 1979 in List/Sylt an und schied nach 13 Dienstjahren als Oberbootsmann in Köln aus. Dazwischen lagen zwei Bordkommandos auf Zerstörern der Hamburg-Klasse, ein Jahr bei den Marinefliegern und drei Jahre in einem Depot in Brest/Frankreich. Er gehörte also noch zur Bundesmarine und nicht mehr zur Deutschen Marine. Sein Vater, Kriegsgeneration, meldete sich 1957, also am Anfang der Bundeswehr, zur Marine und blieb dort bis zu seiner Pensionierung als Fregattenkapitän. Er erinnert sich, dass das Familienleben von und durch die Marine geprägt wurde. Er sagt, dass sechs Jahre Seefahrtzeit, sechs Jahre Erfüllung eines Kindheitstraums plus eines Bonusses von drei Jahren im Ausland es wert waren sich zu verpflichten.

Es war nicht der Traum vom Soldaten, vom Helden in Uniform, sondern die Sehnsucht nach der Seefahrt, sagt Felix. Und auch Eva* und Paul* weisen den Anspruch, heldenhaft zu sein, vollkommen von sich. Es ist Beruf und Berufung mit einem besonderen Anspruch. Ohne Zweifel sind sich alle Soldaten bewusst, dass im Ernstfall geschossen werden müsste, doch gilt die Waffe ausschließlich dem Eigenschutz oder Schutz anderer. Um die Handhabung von Waffen fachgerecht zu beherrschen, muss geübt werden, wobei es für die meisten auch bleibt. Im Normalfall sehen sie ihren Beruf als Job, sich selber als Bürger in Uniform, als Arbeitnehmer des Staates und der Gemeinschaft. Was ihnen fehlt, ist die gesellschaftliche sowie politische Auseinandersetzung mit der Stellung und der Geschichte der Bundeswehr. Hier sehen sich Soldaten meist alleine gelassen. Es besteht ihr Wunsch, dass wieder mit und von Soldaten gesprochen wird und nicht ausschließlich über die Unzulänglichkeiten eines Systems Bundeswehr, veraltete Traditionen oder die Notwendigkeit einer Parlamentsarmee. Es sind Menschen, die sich und ihre Familien für diese Gesellschaft einbringen, mitten in dieser Gesellschaft stehen und nicht zuletzt mit ihrem Beruf dafür gesorgt haben, dass wir seit 73 Jahren in Frieden hier leben können. Sie sind weder Krieger, Mörder oder verkannte Helden … sondern Bürger in Uniform, die sie meist nicht öffentlich tragen, um sich nicht ständig rechtfertigen zu müssen. Was sich deutsche Soldaten oft wünschen, ist die gleiche Akzeptanz und Selbstverständlichkeit, mit der Soldaten in anderen Ländern begegnet wird. Davon ist Deutschland trotz Aufarbeitung seiner Geschichte und im bewussten Umgang damit noch weit entfernt.

*Namen geändert.

Anna Schmidt


Ein Beitrag aus dem Magazin „Im Mittelpunkt“ 2.2019 mit dem Leitthema „Alltagshelden“
Das ganze Magazin können Sie als eBook oder interaktives Pdf herunterladen, die gedruckte Version, einschließlich dem Einleger mit allen Veranstaltungen des SzS, finden Sie in unseren Einrichtungen.

 

 

 

 

Wie würde dein Raum aussehen?

Die Ausstellung „The Haus“

Ich sage es lieber gleich am Anfang: Dies ist der Beitrag einer Unwissenden, aber er muss geschrieben werden, schließlich war das, was ich gesehen habe, großartig. Die Organisatoren sagen sogar zurecht, dass es „fresh“ und „überkrass“ sei. Es geht um Kunst, die unter normalen Umständen in keinem Museum zu finden ist. Es geht um Street-Art und die aktuelle Ausstellung „The Haus“ in Berlin. Eine Ausstellung, die gestaltet wurde, um am Ende doch zerstört zu werden. Schon früh in diesem Jahr wurde das Ereignis über viele Kanäle angekündigt und schon früh verabredete ich mich mit meinem Freund Sebastian „The Haus“ gemeinsam anzuschauen. Anfang April wurde die Ausstellung eröffnet und wie erwartet wurde ein großer Besucherandrang gemeldet. Wir warteten etwas ab bis schließlich die Verabredung stand.

Ich habe mich wirklich sehr darauf gefreut, denn von Anfang an war klar, dass wir etwas Besonderes sehen würden. Eine bessere Begleitung hätte ich nicht finden können. Sebastian versteht es bestens selber mit der Sprühdose typografische Bilder zu kreieren, Wände, Autos, Bauwagen oder auch ganz einfach Papier in Kunst zu verwandeln. Hätte er keinen anderen Weg gewählt, wäre er vielleicht bei dieser Ausstellung dabei gewesen. Etwas neugierig habe ich mich vorher auf der Internetseite der Ausstellung informiert und geschaut, was mich erwartet.

„The Haus“ ist eine temporäre Galerie. Eine leerstehende Bank mitten in Berlin, um die Ecke von Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche und dem Europacenter, stand 165 Künstlern zur Verfügung. Künstler, die das komplette Gebäude in ein Haus voller Street- und Urban-Art verwandelt haben. Jedem Künstler oder Team stand ein Raum zur Verfügung, um ihre Ideen und Visionen zu verwirklichen. Entstanden sind Gemälde, Video-Installationen, Skulpturen, Projektionen, Illustrationen und vieles mehr, wobei jeder Raum und jede Fläche ihre eigene Botschaft trägt. Straßenkunst wurde in ein Gebäude geholt, um nach zwei Monaten wieder zerstört zu werden. Zwei Monate ist die wohl einzigartigste Galerie der Welt eröffnet. Es ist ein Projekt von DIE DIXONS, einer Künstler-Crew, die alle Beteiligten und Verantwortlichen von dieser ungewöhnlichen Idee begeistern konnte. Ich finde viele Informationen auf der wirklich gut gemachten und durchdachten Internetseite www.thehaus.de. Nur eins gefällt mir nicht: Ich lese unter anderem, dass Besucher gebeten werden am Eingang ihre Smartphones einzutüten und während des Besuches keine Fotos zu machen. Na klasse, genau mein Ding … eine Ausstellung besuchen und keine Fotos machen dürfen. Hilft aber nichts, ich will es ja sehen.

Auf dem Weg zur Ausstellung schaue ich sehr genau aus dem Bus und in der U-Bahn, wo ich Graffitis an den Wänden sehe. Ich freue mich sehr, dass ich bald das, was der Straße vorbehalten ist, in konzentrieren Form in einem Gebäude sehen werde. Mein Freund Sebastian ist schon dort und wartet in der Warteschlange. Ich hatte gelesen, dass maximal 199 Besucher hereingelassen werden. Nun, wir haben uns länger nicht gesehen und ein junger Vater hat eine Menge zu erzählen, genauso wie die Mutter, deren Kinder gerade die Welt erobern. So ging die halbe Stunde schnell vorbei. Kurz vor dem Einlass bekommen wir die angekündigte Tüte für die Smartphones und auch eine smarte Nachfrage oder Hinweis auf den Presseausweis hilft nichts – die Dinger müssen in die Tüte. Aber … wir waren drin.

Im Prinzip waren wir gleich im Eingangsraum des ersten Treppenabsatzes gefangen und betrachteten sehr lange das uns gebotene Graffiti. Wir wussten ja noch nicht, was vor uns lag. Schon hier hätten wir länger verweilen können und die gekonnte Machart des Bildes betrachten können. Wir sind beide der darstellenden Kunst verbunden und im Umgang mit Farben, Malmitteln, Pinsel oder Spraydose, nicht unbedarft. So war es ein leichtes in den Sog der verschiedensten Künstler einzutauchen. Jeder, wirklich jeder der 165 KünstlerInnen hat seine eigene Handschrift und nichts lässt sich vergleichen. Es sind Bilder, Visionen, Träume, Statements, Anklagen, Hinweise, Proteste und vieles mehr verbildlicht worden, jedes in seiner Sprache. Man kann sogar sagen, dass man binnen zwei bis drei Stunden in „The Haus“ durch 165 Ausstellungen wandeln darf. Sebastian und ich haben es durchs Treppenhaus geschafft und in der vierten Etage angefangen uns die Räume zu erschließen. Gesprayt oder getaped, gestupft, gemalt, mit Schablonen gearbeitet … kaum eine Technik ist nicht vertreten.

Der einzige Künstler, den ich im Vorfeld kannte, war El Bocho, weil ich einen seiner Galeristen kenne. Alles andere waren für mich bis dahin unbekannte Namen. Sebastian sagte, dass er vier der Künstler aus früheren Zeiten kenne. Überhaupt klang in allem, was er mir erklärte und erzählte, viel Wehmut mit. Ich denke, er hätte gerne sofort losgelegt. Er verstand es aufs beste mir die Wortbilder auseinander zu setzen und den Schwung der Buchstaben zu erklären. Die Schriften sind bestens geeignet die fähigsten Typografen neidisch zu machen und in vielen Räumen steck Potential schöner Innenarchitektur. Aber schön ist die falsche Bezeichnung für die meisten Räume. Vieles bringt düstere Botschaften in ästhetischem Gewand dem Betrachter näher.

In der zweiten Etage gestehe ich Sebastian kleinlaut, wie froh ich bin, dass ich nicht fotografieren darf. Ich fühlte mich vollkommen in der Bildwelt gefangen. Hätte ich mich jetzt auch noch damit beschäftigen müssen, was und in welchem Licht oder Winkel fotografiert werden soll, wäre ich hoffnungsvoll überfordert gewesen. Schlimmer noch, ich hätte sicherlich einiges übersehen. Die Besucher werden hier vollkommen vereinnahmt und das Fotoverbot steht zu Recht. In der dritten Etage bekomme ich fast das Gefühl, dass ich satt bin und komme an die Grenzen dessen, was ich fassen kann. Ich tröste mich mit dem Gedanken an den Katalog und – was ich vorher gelesen hatte – die wirklich gute Übersicht aller Künstler auf der Internetseite. In diesem Pdf THE ARTIST LINE UP findet man Künstlernamen und Webseiten und kann nach Interesse nacharbeiten. Doch trotz voranschreitender Sättigung hätte ich um nichts in der Welt einen Raum, eine Fläche oder Flur verpassen wollen. Sebastian und ich überlegen, wie unser Raum aussehen würde. Ob 199 oder 500 Besucher im Haus anwesend waren, war nicht wahrnehmbar. Überall war Platz, Ruhe und keiner, der drängelte. Und niemand, nicht einmal wir, standen jemandem fotografierend im Blickfeld. 

Mein persönlicher Favorit war „Amigo“, der mir mit urbaner Kalligrafie besonders gefällt. Aber auch ein Raum, dessen eine Hälfte schwarz/weiß und die andere Hälfte in bunt die gleiche Handschrift trägt. Dies war der Raum der „Super Bad Boys„, in dem auch Sebastian fasziniert vor sich hin strahlte. Eigentlich jedoch ist es nicht richtig einzelne Künstler herauszuheben. Es wurde gemeinschaftlich ein Projekt verwirklicht, das seines Gleichen noch lange suchen wird. Es ist alles durchdacht, sehr gut als Projekt umgesetzt, herausragend von den Künstlern umgesetzt und selbst der Abriss des Gebäudes im Juni in seiner Konsequenz ist folgerichtig.

Ich werde Street-Art künftig mit anderen Augen betrachten, nicht mehr so ganz unwissend, und hoffe, dass diese Kunstformen weit größere Akzeptanz als bisher erfahren wird. Sogar Sebastian, für den Street-Art bisher nur eine weniger „coole“ Spielart des Graffiti war, fühlte sich nachhaltig beeindruckt und wachgerüttelt, wie er gestand. Ich hoffe, dass Abrisshäuser den Künstlern angeboten werden und hoffe, dass auch junge Straßenkünstler, die nicht legal ihre Tacks verteilen, durch solche Projekte neue Perspektiven bekommen. Und hoffe, dass ich meinem Freund Basti bald mit einer Spraydose in der Hand über die Schulter schauen kann. Schön war es! 🙂

 

Mein Respekt gilt den Künstlern und Machern – ich bin dankbar, dass ich diese besondere Ausstellung sehen durfte.

Mit Dank für die Erlaubnis die Fotos verwenden zu dürfen:
© Million Motions – Eugen Lebedew 

Integration ist Kunst

LT_21.7-fluechtlingsarbeit_2

Sie hat einen Blick für sie. Jetzt könnte man sagen, dass das zu ihrem Job gehört, aber es ist weit mehr als das. Wenn Veronika Mampel durch die Straßen läuft, wenn sie etwas auf einem Amt zu tun hat oder in der Stadtbibliothek Bücher zurück bringt, sieht sie die Menschen. Menschen, die in den Straßen Koffer tragen und sich anhand von Wegzetteln orientieren. Sie sieht Menschen, die in Begleitung auf Ämtern versuchen, ihre Angelegenheiten zu regeln, was sie ohne Dolmetscher nicht könnten. Sie sieht Menschen, denen von freiwilligen Helfern unser kulturelles Angebot, zum Beispiel in der Bibliothek, näher gebracht wird und denen man die Stadt und unser öffentliches Leben zeigt. Es sind Menschen, die bewegende Geschichten hinter sich haben und hier versuchen, ein geregeltes Leben aufzubauen. Sie steht selber jeden Tag mit diesen Menschen im Kontakt, weshalb sie auch die anderen Geflüchteten mit geübten Blick erkennt … und ihre Hoffnungen spürt.

LT_21.7-fluechtlingsarbeit_1„Die Wanderung der Geflüchteten ist noch lange nicht zu Ende, wenn sie es geschafft haben, bei uns anzukommen.“ weiß Veronika Mampel aus Erfahrung. Als Mitbegründerin des sozialen Trägers Stadtteilzentrum Steglitz e.V. und aus der langjährigen Arbeit als Arbeitsbereichsleiterin für nachbarschafts- und generationsübergreifende Arbeit hat sie immer mit unterschiedlichsten Menschen zu tun. Über die Weihnachtsfeiertage 2014/2015 kamen geflüchtete Menschen dazu. Von heute auf Morgen wurde eine Halle im Kiez zur Notunterkunft umfunktioniert, eine spontane Spendenaktion ausgerufen und dort geholfen, wo es eben ging. Diese erste Erfahrung war anstrengend und bereichernd zugleich, und – was noch niemand wusste – die Geburtsstunde ihres neuen Arbeitsbereiches, der Koordination der Flüchtlingsarbeit innerhalb des Trägers. Die integrative Arbeit für eine Erstaufnahme-Einrichtung kam in der Folge hinzu, eine weitere Notunterkunft in einer Halle als Betreiber, zwei Einrichtungen für unbegleitete Kinder- und Jugendliche. Nebenher die Koordination vieler ehrenamtlicher Helfer, an denen es glücklicherweise in diesem Bezirk nicht mangelt. Darüber hinaus wurden in den bestehenden Einrichtungen viele Angebote geschaffen, die es den Geflüchteten ermöglichen, für ein paar Stunden aus ihrem sonst eintönigen Alltag herauszukommen, Kontakte mit Einheimischen zu knüpfen und die deutsche Sprache kennenzulernen. Letztlich musste auch der nachbarschaftliche Aspekt von ihr bedacht werden. Nur Unbekanntes schürt Ängste. Nachbarn, die den Menschen hinter dem Geflüchteten kennenlernen möchten, brauchen sich nicht zu fürchten. Das hört sich alles nach viel Arbeit an, ist es auch, aber natürlich hat sie viel Unterstützung von den Mitarbeitenden und geht in der Planung routiniert vor. Was jedoch nie zur Routine werden kann, ist die Geschichte, die jeden Geflüchteten begleitet und bei jedem anders aussieht.

Die Geflüchteten begegnen ihr jeden Tag. Jedes ihrer Schicksale hinterlässt Spuren und es gehört eine gewisse Professionalität dazu, um damit umgehen zu können. Die Anforderungen an diese Aufgabe und an die Geflüchteten sind vielfältig. Kindern muss der Besuch in einer Willkommensklasse ermöglicht werden, viele Kinder und Erwachsene benötigen ärztliche Betreuung, Erwachsene müssen motiviert werden, Angebote wie Deutschkurse anzunehmen. Anträge müssen bearbeitet werden, Termine gehalten und erneut vereinbart werden. Zwischen Terminen und Anträgen müssen lange, nervenaufreibende Wartezeiten überbrückt werden. Intimität gibt es dabei für die Geflüchteten nicht, da sie mit vielen anderen in einer Halle leben, die keine Möglichkeit bietet, für sich alleine zu sein. Angekommen sind sie nur in Deutschland – aber noch lange nicht in Sicherheit und in geregelten Verhältnissen. Veronika Mampel weiß, wie sich das anfühlt und was in diesen Menschen vorgeht. Kurz vor dem Mauerbau sind auch ihre Eltern in den Westen übergesiedelt und mussten mit allen Kindern ganz von vorne anfangen. Sich integrieren in eine Gesellschaft, die nur mit sich selbst beschäftigt war.

LT_21.7-deutschkurs

Mit manchen Schicksalen kommt sie intensiver in Kontakt. Zwei junge Syrer, die im Seniorenzentrum Scheelestraße eine erste Bleibe fanden, hat sie fast von Anfang an begleitet. Haydarah ist einer der beiden. Mit viel Geduld hat er es geschafft das Bleiberecht in diesem Land zu bekommen. Mit Hartnäckigkeit und viel Glück gelang es schließlich, ihm durch den Dschungel der Anträge und Papiere zu helfen und heute freut er sich jeden Tag auf seine feste Arbeit und auf die eigene Wohnung, in die er am Abend zurückkehren kann. Seine Geschichte ist eine Kombination aus Glück und eigenem Willen. Auch der zweite junge Mann ist auf einem sehr guten Weg, aber sein Bleiberecht noch nicht restlich geklärt. Erst dann wird es möglich, Arbeit und Wohnung in Angriff zu nehmen, auf die er durchaus schon Aussichten hat. Bei diesen beiden hört es sich gut an, nicht erwähnt dabei sind die Wohnungen, die sie nicht bekommen haben. Veronika Mampel kennt das leere Gefühl nur zu gut, wenn man eine Wohnung für einen Geflüchteten in Aussicht hat, alle Papiere zusammenstellt, abgibt und … wartet. Die Wohnungen sind dann vergeben, weil die Behörden zu langsam reagieren. Man stößt oft an die Grenzen der Machtlosigkeit, muss sie aushalten und doch ungebrochen weiter machen. Geschichten wie die von Haydarah bauen auf und schaut man in sein strahlendes Gesicht, weiß man einfach, dass es richtig ist.

Sie hört oft die Geschichten, die diese Menschen mitbringen und von den Nöten, die sie hier erleben. Geschichten über Flucht, verlorene Familienmitglieder, verlorene Träume. Geschichten, die wir kaum begreifen können, weil wir nie in die Nähe der Angst kommen, die diese Menschen erlebt haben. Die Gefahr nicht spüren können, die sie aushalten mussten, den Verlust nicht kennen, den sie verkraften müssen. Gerade jetzt ist Ramadan, der Fastenmonat der Muslime. Sie müssen sich in einer vorwiegend christlichen Gesellschaft den Glauben und die Tradition bewahren. Sie sind geschwächt durch das Fasten. Normalerweise ein Ereignis eng verbunden mit dem familiären Kreis. Und doch müssen sie ihren Glauben den Erfordernissen, Terminen und den Spielregeln, die hier gelten, anpassen – ihre Hoffnungen, Verluste, Ängste und Vergangenheit zurückstellen.

LT_21.7-kieztreff-2

Integration ist eine Kunst und ein Zauberwort, das man allzu oft hört, wenn es um Geflüchtete geht. Sie müssen diese Gratwanderung zwischen altem und neuem Leben bewältigen. Wie schwierig das ist, erlebt Veronika Mampel jeden Tag aufs Neue. Erlebt, was von ihnen gefordert und erwartet wird. Erlebt die Gleichgültigkeit, die viele von uns ihnen entgegen bringen. Erlebt aber auch Dankbarkeit, Menschen, die unbedingt neu anfangen wollen und Unterstützung, die sie immer wieder in ihrem Handeln bestärkt. Es ist weit mehr als der richtige Blick für diese Menschen. Es ist ihr Blick auf eine Gesellschaft, die nur an der Akzeptanz dieser Aufgabe und Integration dieser Menschen wachsen kann.

Der Mensch neben uns …

Foto: © blvdone Fotolia.com

Foto: © blvdone Fotolia.com

Im Supermarkt vor der Kasse steht eine Frau, legt ihren Einkauf aber nicht auf’s Band und wartet. Hinter ihr kommt ein junger Mann mit zwei Gegenständen in der Hand. Obwohl er sehr abweisend und mürrisch schaut, fragt die Frau ihn, ob er vorgehen möchte. Die Kassiererin ist noch lange mit dem Einkauf, der schon auf dem Band liegt, beschäftigt. Nach einer Weile kommt die Tochter der Frau dazu und gemeinsam beginnen sie auch ihren Einkauf auf’s Band zu legen. Die Frau fragt den jungen Mann schüchtern, ob sie einen Stopper bekommen könnte. Erst da verwandelt sich sein Gesicht in ein strahlendes Lächeln und er meint, dass er sich schon wunderte, warum die Frau so einen großen Abstand zu ihm hielt. Sie unterhielten sich ein paar Sätze in sehr sympathischer Art und Weise bis jeder seiner Wege ging.

Auf dem Weg zum Auto erzählt die Frau ihrer Tochter, wie sehr sie sich in dem jungen Mann getäuscht hatte. Sie hielt ihn für den Prototypen eines Jugendlichen, der sich in arroganter Weise nicht für seine Umgebung interessiert. Dabei stellte er sich als offen, höflich und nett heraus. Sie musste noch lange darüber nachdenken, wie sie sich durch das Äußere des Mannes hatte täuschen lassen. Solche Situationen passieren oft und jedem von uns. Wir sitzen beispielsweise in einem Bus, jeder mit seinen Gedanken beschäftigt und beobachten die anderen Leute um uns herum. Manche Menschen bemerken wir kaum, andere interessieren uns, wieder anderer finden wir vielleicht unsympathisch und bei manchen versuchen wir möglichst unbemerkt zu bleiben. Bei vielen stellen wir uns vor, aus welchen Verhältnissen sie kommen, ob sie alleine leben, Arbeit haben, in ihren Familien glücklich sind. Die tatsächlichen Umstände der Lebensart der anderen gehen jedoch in der Anonymität der Großstadt unter und sind spätestens an unserer nächsten Haltestelle für immer vergessen.

Die Stadt, in der wir leben, stellt die Menschen vor eine Anonymität, die sie selber durchbrechen müssen. In Berlin sind es 3,5 Millionen Menschen und täglich werden es mehr. Man kann die Masse an Menschen wahrnehmen und sich ohnmächtig vor dieser Zahl beugen. Oder man macht sich bewusst, dass dies auch 3,5 Millionen einzelne Geschichten, Schicksale und Lebenswege sind. 3,5 Millionen mal könnte man ein Buch über einen Menschen schreiben und jedes Buch hätte einen eigenen individuellen Inhalt. Man stelle sich diese große Bibliothek vor. 300.000 Tausend dieser Menschen leben in Steglitz-Zehlendorf und auch in diesem Bezirk werden es täglich mehr. Es ist immer noch eine enorm große Zahl, aber es wird greifbarer, wenn man weiter in die Ortsteile hineingeht, die sich hier aus Lichterfelde, Steglitz, Zehlendorf, Lankwitz, Nikolassee, Dahlem und Wannsee zusammensetzen. Und auch die Ortsteile lassen sich weiter gliedern wie beispielsweise Lichterfelde, Ost, West oder Süd. So kommen wir immer weiter dem Ort näher, an dem wir selber leben, dessen Umfeld wir kennen und wo wir beginnen, den Menschen zu begegnen, die ein bekanntes Gesicht oder einen Namen tragen. Hier sind wir keine Zahl von 3,5 Millionen mehr, hier sind wir Nachbarn, Bekannte oder Freunde.

Und hier bekommt die Individualität der Menschen eine tragende Rolle, durch die jeder einzelne von uns zum Gemeinwesen beiträgt. Es sind Merkmale wie Nationalität, Religion, Alter, Geschlecht, Beruf, Interessen, Bildung und viele andere Dinge mehr, die uns einzigartig machen. Dabei spielen Hierarchien keine Rolle, ob der eine Arzt, der andere Müllmann, die eine Chefsekretärin und die andere Putzfrau ist. Alle gemeinsam machen eine funktionierende Gemeinschaft aus, jeder einzelne wird in dieser Gemeinschaft gebraucht und erfüllt seine Aufgabe. Je stärker, toleranter, offener und emphatischer diese Gemeinschaft ist, desto besser ist sie bei Problemen oder Widrigkeiten aufgestellt, die das gemeinschaftliche Leben nun einmal in sich birgt. Die Großfamilie der letzten Jahrhunderte gibt es nicht mehr. An ihre Stelle ist das soziale Leben in Gemeinden und Städten getreten, das in vielseitiger Form in Schulen, Vereinen, sozialen Trägern, kulturelle Begegnungsstätten, sportlichen Vereinigungen, Interessengemeinschaften und anderem ausgelebt wird. Der einzelne Mensch kann ohne Gemeinschaft nicht leben und jeder einzelne macht die Gemeinschaft aus.

Es ist hin und wieder recht hilfreich, sich selber klar zu machen, in welch einem Geflecht von Menschen wir leben und in welchen Abhängigkeiten, im positiven Sinne, wir zu ihm stehen. Jeder einzelne möchte akzeptiert, toleriert, in seiner einzigartigen Art und Weise angenommen sein. So sollte es nur recht sein, dass wir das, was wir für uns selber einfordern, auch bereit sind, anderen zuzugestehen. Anderen den Raum zu geben, sich zu entfalten, den wir auch selber für ein zufriedenes Leben benötigen. Anderen mit Interesse und Neugierde begegnen, die wir uns selber wünschen. Dem Bekannten, dem Freund und Fremden die Wertschätzung schenken, die wir selber erfahren möchten. Und ganz besonders auch schwächere Menschen unterstützen, wo ein Mangel offensichtlich wird. „Eine Kette ist nur so stark, wie ihr schwächstes Glied!“, heißt ein geflügeltes Wort. Ein Gedanke, den man vielleicht nicht nur zur Weihnachtszeit überdenken sollte. Stärkt man die Schwachen der eigenen Gemeinschaft, stärkt man auch die Gemeinschaft und letztlich sich selber.

Den Menschen neben uns wahrnehmen, mutig und für Gespräche bereit sein, über unsere eigenen Grenzen steigen, sind Möglichkeiten, die Anonymität aufheben und kleiner machen. Das hilfreichste und einfachste Mittel ist dabei ein offenes Lächeln, das – noch ein geflügeltes Wort – in jeder Sprache verstanden wird. Wenn wir vielleicht das nächste Mal an der Kasse zurückblicken und aufmerksam sind, uns nicht vom Äußeren täuschen lassen … geben wir den Menschen um uns herum genau das, was wir uns von ihnen wünschen. Dann wird selbst eine große Stadt sehr klein!

Leitartikel der Stadtteilzeitung Steglitz-Zehlendorf
Dezember 2015 – Januar 2016

zeit1215

Stacheldrahtzaun oder Betonelemente – schon vergessen?

annaschmidt-berlin.com_berline_mauerstück

Das Gefühl ist im Nachhinein schwer zu beschreiben … , wenn man davor stand, nach links und nach rechts schaute und kein Ende ausmachen konnte. Doppelter Stacheldrahtzaun oder Betonelemente verhinderten die Sicht auf das, was dahinter war. Allein das Bewusstsein, dass Selbstschussanlagen, Minenfelder, Hundelaufanlagen und andere Schikanen ein Durchkommen unmöglich machten, reichte aus, eine unglaubliche Ohnmacht und Beklemmung zu erzeugen. 

Einzig ein paar Grenzübergänge erlaubten ein Durchkommen, dies nur nach scharfen Kontrollen, unter Beobachtung und Bewachung von bewaffneten Grenzsoldaten. Bei Kontrollen, ob mit Auto oder Zug durch das Gebiet der DDR unterwegs, stets die spürbare Anspannung, welche Fragen von den Kontrolleuren gestellt werden würden, und die Erleichterung, wenn sie sich der nächsten Person zuwandten. Die Erleichterung, westdeutschen – freien – Boden zu betreten und das Gefühl zu haben, dass man nun wieder sagen darf, was man will. Der „antifaschistische Schutzwall“ war die euphemistische Bezeichnung der innerdeutschen Grenze des Ostens, der vor Übergriffen aus dem Westen schützen sollte. Ein Schutz, der letztlich über 45 Jahre 872 Menschen das Leben kostete. Vielen Menschen, die fliehen wollten, hat dieser „Schutz“ lange Gefängnisstrafen aufbürdete und Familien auf Jahrzehnte getrennt oder oft für immer entzweit.

Die Kinder der 50er und 60er sind mit dieser Mauer aufgewachsen und kannten nichts anderes. Sie mussten sich oft mit dem Vorwurf auseinandersetzten, das geschichtliche Erbe des letzten Weltkriegs der Eltern und Großeltern zu tragen, dessen Konsequenz diese Mauer war. Eine Mauer, die jeglichen Freiheitsgedanken, Rede- und Reisefreiheit, Selbstbestimmung immer wieder sichtbar außer Kraft setzte. Für beide Seiten – die einen, die nicht hinein konnten und die anderen, die eingeschlossen leben mussten. Für Berliner war es täglich gelebte Realität. Die Geschichte hatte jedoch einen anderen Plan und durch viele zusammenhängende geschichtlichen Entwicklungen, durch beherztes Agieren verschiedener Persönlichkeiten, wurde die Öffnung und letztlich Beseitigung möglich.

Der Mauerfall am 9. November 1989 wurde ein geschichtliches Ereignis, das bis heute tief in das Gedächtnis aller eingebrannt ist, die in irgendeiner Weise betroffen waren. Unzählig die Biografien, deren Verlauf sich durch diesen Tag drastisch änderte. Für die, die es erlebt haben sind die Tränen, die Freude und Euphorie noch heute spürbar, genauso wie die Unsicherheit und Angst vor der Zukunft. Bedeutend schließlich der 3. Oktober 1990, der beide ehemaligen Staaten wieder zusammenführte. Unbestritten, dass dieser Tag lediglich der Beginn einer gemeinsamen Entwicklung war und unzählig die Liste der persönlichen Geschichten, die im Verlauf der Jahre sehr positive, aber auch oft sehr negative Erfahrungen mit der Zusammenführung beiden Staaten machen mussten. Eine Geschichte der Akzeptanz, der Toleranz und Solidarität, die nicht immer ein gutes Bild auf die Bürger beider Seiten warf.

Die deutschen Kinder der späten 90er Jahre und 2000er, kennen diese Schilderungen nur aus den Geschichtsbüchern. Ihnen ist kaum zu vermitteln, was es bedeutet, wenn einem ein Ort verschlossen ist. Wenn man keine Möglichkeit hat, geliebte Menschen zu sehen oder zu sprechen, wenn man in irgendeiner Weise in seiner Freiheit sich zu bewegen, zu denken oder sprechen, durch äußere Willkür behindert ist. Das Gefühl der Beklemmung und Angst kennen sie nicht, da sie das Privileg genießen, in Friedenszeiten und einem zusammengeführten Staat zu leben. Es ist ein Segen, dass diese Kinder, Jugendlichen, jungen Erwachsenen unbelastet und frei aufwachsen. Nicht zuletzt, weil dadurch die Mauer, die oft noch in den Köpfen vorhanden ist, immer weniger wird und ein Zusammenwachsen des Ostens und Westens in einem Land voranschreitet.

Dennoch stellt sich die Frage, welche Aufgaben uns im Hinblick auf die letzten 70 Jahre erwachsen. Den Kindern, wie früher geschehen, eine Erbschuld aufzubürden, ist wohl der falsche Weg. Ihnen muss jedoch klar gemacht werden, dass es höchsten Stellenwert hat, diese Geschichte wach zu halten und aus ihren Erfahrungswerten zu schöpfen. Dies nicht ohne dass sich die älteren Jahrgänge der eigenen Verantwortung bewusst sind, da man oft gerne das Negative vergisst, wenn die Zeiten wieder gut laufen. Jedem muss der Stellenwert unserer Freiheit höher liegen, als die Angst vor Unbekannten.

Insbesondere bedeutet es für dieses Land, das Bewusstsein wach zu halten, was eine Mauer, eine Grenze, sei sie gedacht oder real, für das Leben von Menschen bedeutet. Eine Mauer kann kein Schutz sein, wenn sie die Schutzbedürftigen ein- und ausschließt und damit Freiheit beschränkt. Sie kann nicht verhindern, dass Strömungen von außen ins Innere dringen und Leben verändern. Sie kann keinen Ist-Zustand erhalten, ohne zu sehen, was an den Grenzen passiert. Gerade dieses Land müsste jeglichen Begrenzungen entgegenwirken, jedem Menschen ungehinderten Zugang erlauben und die Stärke beweisen, jedem Menschen ein Leben an jedem Ort zu ermöglichen.

Die Deutsche Einheit ist nicht zu trennen von vielen Geschichten über Flucht, Existenzangst, Familientrennung und menschlichen Schicksalen. Umso mehr stehen wir in der Verantwortung, Stacheldrahtzaun oder Betonelemente nicht zu vergessen. In der Verantwortung uns für Freiheit in jeglicher Hinsicht einzusetzen – eine Verantwortung, die richtigen Signale zu setzen und uns europaweit zu Verfechtern der Freiheit für allen Menschen zu machen. Den Wandel und die Zeichen der Zeit anzunehmen. Ganz gleich, woher die Menschen kommen, ganz gleich, welche Sprache sie sprechen, welche Geschichten sie mitbringen, ob sie Gast oder Landsmann bei uns werden wollen. Die Freiheit ist wie eine Pflanze, die trotz Stacheldrahtzaun oder Betonelemente immer wieder zum Licht wächst. Manchmal dauert es viele lange Jahre – Jahre, die viele Menschen gerade jetzt nicht haben.

Der Tag war da …

Eins der vielen wunderschönen Bilder meines Bruders

Eins der vielen wunderschönen Bilder meines Bruders

Ich habe heute ein Video gesehen und es beschäftig mich schon den ganzen Tag. „Dieser Tag wird kommen!“ von Marcus Wiebusch. Es lässt mich nicht mehr los. Aufmerksam wurde ich darauf im Blog von Thomas Mampel, mampel’s welt, der jede Woche einmal ein Video vorstellt, das sich in irgendeiner Weise mit sozialen Themen beschäftigt. Keins hat mich bisher so berührt oder wohl besser gesagt, persönlich getroffen. Erzählt wird die Geschichte eines Fussballspielers, der schwul ist und es geht darum, wie die Gesellschaft damit umgeht. Dass ein Tag kommen wird, an dem Liebe, Leben und Freiheit gefeiert wird.

Ich kann viele Nachrichten ertragen. Bei Nachrichten über schlimme Ereignisse aus dieser Richtung merke ich aber immer wieder, dass sie mir persönlich weh tun. Dass ich sie nicht wahrhaben will und nicht verstehen kann, dass es sie noch immer gibt. Es geht um Homophobie. Ich fühle mich schon allein durch das Wort belästigt und die Vorstellung an Menschen, die sich laut und dumm gegen Schwule und Lesben äußern, verursacht mir Übelkeit. Ich kann nicht verstehen, dass man Menschen auf ihre sexuellen Neigungen reduziert und ausschließlich  daran ihren Stellenwert misst. Schlimmer noch, ihren Stellenwert dadurch sogar auf Null setzt. Menschen, die sich homophob äußern, sind für mich der Inbegriff blanker Dummheit, die jedem verbal ins Gesicht schlagen, der in irgendeiner Weise davon betroffen ist.

Ist ein Mensch schwul oder lesbisch, macht er oder sie in der Regel viele Jahre durch, die von Selbstzweifel, Identitätssuche und psychischen Schmerzen begleitet sind. Sie begeben sich meist auf eine jahrelange Suche, sich selbst und einen Platz in der Gesellschaft zu finden, der einigermaßen Akzeptanz und Ruhe verspricht. Einen Platz, an dem sie so leben können, wie sie eben sind. So wie sie geboren wurden, was nicht durch Erziehung oder Einfluss entstand, sonder tief in ihnen verankert war. Ich zolle jedem größten Respekt, der das durchmacht und besonders, denen, die offen und mutig dazu stehen können. Offen in gleichgeschlechtlichen Partnerschaften leben und offen für ihre Lebensart einstehen. Die immer wieder blöde Sprüche und Beleidigungen, oft Schlimmeres, wegstecken, weil sie klüger sind, als diejenigen, die diese Beleidigungen aussprechen. Hinter Homophobie kann für mich nur Unwissen, Angst und Unsicherheit stecken. Vor was, bleibt mir dabei völlig unklar. Schwule und Lesben hat es immer gegeben, wird es immer geben und es dürfte in unserem Jahrhundert überhaupt kein Thema mehr sein. Traurig, dass Homosexualität in ⅓ aller Staat weltweit noch unter Strafe gestellt ist (Wikipedia).

Was viele in meinen Augen dabei vergessen ist, dass ganze Familienschicksale damit verbunden sind. Wenn einem jungen Mensch klar wird, dass seine Neigung anders ist, als seine Erziehung, sein Umfeld, die Gesellschaft, von ihm erwartet, macht er einen schwierigen Prozess durch. Aber nicht nur er alleine, auch seine Eltern und seine Geschwister, seine Verwandten und Freunde. Es ist ein jahrelanger Prozess in dem alle Beteiligten mit sich selber ins Reine kommen müssen, wie sie zu Homosexualität stehen. Können sie damit leben, sie tolerieren, sie akzeptieren oder bestenfalls annehmen? Können sie den homosexuellen Verwandten begleiten, unterstützen, offen zu ihm stehen? Ihn verteidigen, ermutigen, völlig wertfrei den Menschen dahinter sehen und wahrnehmen?

Ich stand einmal am Spielfeldrand eines Hockeyplatzes. Außer meinem Mann und mir waren noch zwei weitere befreundete Ehepaare dort und wir beobachteten fröhlich das Spiel unserer Kinder. Die Kinder standen altersmäßig kurz vor der Pubertät und wir unterhielten uns darüber, dass die ersten Jugendzeitschriften, Bravo oder Mädchen, in die Kinderzimmer einzogen. Und da fragte einer in die Runde, was denn Jungen in dem Alter so lesen. Im Überschwung der fröhlichen Atmosphäre sagte ich laut: „Ach, da frage ich mal meinen Bruder, der ist schwul!“ Ich drehte mich um, sah die Gesichter der beiden Frauen und mir war schlagartig klar, dass ich in dieser Runde das Falsche gesagt hatte. An dem Abend rief ich meine Mutter an und sagte ihr, dass ich es jetzt könnte – laut und deutlich und mit Stolz sagen: „Mein Bruder ist schwul!“

Ich weiß noch, dass es mir damals unwahrscheinlich gut damit ging. Ich war frei. Frei zu sagen, dass er so ist und frei offen zu ihm zu stehen. Ich werde hier nicht seine Geschichte erzählen. Die ist sehr lang und nicht mit ein paar Sätzen zu fassen. Aber ich kann stolz behaupten, dass ich kaum einen Menschen kenne, der sein Schicksal so unglaublich tapfer und hartnäckig meistert wie er. Kaum jemanden kenne, der so feinfühlig, sensibel und kreativ ist, wie er. Und ich kann stolz erzählen, wie unwahrscheinlich bereichernd seine Neigung für mein Leben ist. Wie dankbar ich ihm bin, dass er so ist, wie er ist.

Es war viele Jahre ein Prozess für unsere ganze Familie, in dem letztendlich nur eine Feststellung gewann. Er ist der Sohn, der Bruder, den wir alle lieben, ohne den unsere Gemeinschaft brüchig wäre. Der Prozess war nie leicht, oft schmerzhaft, oft unschön, aber er ließ uns alle zusammenwachsen. Es passiert leider zu oft, dass Familien daran zerbrechen. Dass Söhne oder Töchter nicht nach Hause zurück können, Bänder zerschnitten sind, einlenken unmöglich wird. Ich bin dankbar, dass wir es anders erlebt haben. Dass wir Menschen, die schwul oder lesbisch sind, wirklich als die sehen können, die sie sind – hinter dem, wofür sie kämpfen müssen.

Ich möchte, dass dieses Video einen Platz in meinem Blog hat. Möchte, dass die ganze Welt weiß, wie stolz ich auf meinen Bruder bin. Ich möchte, dass Liebe, Leben und Freiheit gefeiert wird – von allen Menschen.


Update – Toleranz und Anerkennung

februar-zeitung-2014

Man möchte bewegen, wenn man sich einem Thema annimmt und darüber schreibt. Die Richtung der Bewegung kann man allerdings kaum beeinflussen. Ich möchte bewegen, Aufmerksamkeit schaffen. Den Beitrag „Toleranz und Anerkennung – Zwischen Wunsch und Wirklichkeit“ hatte ich für die Februar-Ausgabe der Stadtteilzeitung geschrieben. Das Leitthema der Zeitung hieß „Anderssein“. Als ich der Freundin meines Bruders damals erzählte, dass mein geplanter Beitrag nichts werden würde, schlug sie vor über sie selber zu schreiben. Darüber, was sie mit ihrer schwarzen Hautfarbe in den ersten Jahren hier in Deutschland erlebt hatte. Sie wollte anderen in gleicher Situation Mut machen. Der Artikel war das Resultat unseres Gesprächs und er ist bis heute einer meiner liebsten Beiträge in meinem Blog. Ich bekam durch das Gespräch mit ihr einen ganz anderen Blick auf die Situation der Menschen, die versuchen sich in Deutschland eine Existenz aufzubauen.

Einige Zeit nach erscheinen der Zeitung hatte sie Urlaub, den sie in einer anderen Stadt verbrachte. Als sie wieder zurück zur Arbeit kam, sprach keiner der KollegInnen mehr mit ihr. Der Umgang mit ihr wurde gemieden und erst nach einer Woche bekam sie ein Gespräch mit der Filialleitung zugesprochen. Dabei kam heraus, dass während ihres Urlaubs eine Kollegin diesen Artikel in der Zeitung gefunden hatte und der Filialleitung zu lesen gab. Nun durfte sie sich rechtfertigen, wie sie auf die Idee käme, so einen Artikel in eine Zeitung zu setzten. Als ich das hörte, war ich sehr erschüttert und auch völlig verwirrt. Nicht zuletzt, weil ich auch das Gefühl bekam an ihren Unannehmlichkeiten Schuld zu sein.

Letztendlich führten diese Unannehmlichkeiten dazu, dass sie in der anderen Stadt eine neue Arbeitsstelle gesucht und gefunden hat, mit meinem Bruder nun zusammen wohnt und sie sich ein gemeinsames Leben aufbauen werden. Das war zweifelsohne eh geplant, durch diese Vorgänge aber beschleunigt. Ich wünsche beiden alles erdenkliche Glück für ihr gemeinsames Leben!

Was mich nachhaltig an dieser Geschichte beschäftigt ist der Gedanke, wie notwendig das Werben um Toleranz und Anerkennung hier unter uns, in diesem Land und in unserem Umfeld ist. Und auch, wie aktuell dieses Thema ist. Wir sind eine multinationale Gesellschaft, die ihre Stärken eben aus der Mischung aller Menschen zieht. Wir können als attraktives Land nur bestehen, wenn wir Andersartigkeit zulassen und unsere Köpf dafür öffnen. Es gibt für mich keinen einzigen Grund, warum ein Mensch bei uns wegen eines ethnischen Merkmals eine andere Behandlung erfahren sollte als alle anderen oder über sein Erleben schweigen sollte.

Ich gebe gerne zu, dass auch ich oft Scheu spüre, wenn ich Menschen begegne, die aus fremden Ländern kommen, die ich nicht einschätzen kann, die eine mir unbekannte Religion haben oder zu denen ich aus sprachlichen Gründen nicht gehören kann. Ich gebe zu, dass ich mit einem komischen Bauchgefühl kämpfte, als in unmittelbarer Wohnnähe ein Wohnheim für Aussiedler eröffnet wurde. Es war so nah. Aber ich weiß, dass mein Gefühl aus Unkenntnis entsteht und Unkenntnis kann man nur entgehen, indem man darauf zugeht. Man muss Fragen stellen und versuchen zu verstehen, was diese anderen Menschen antreibt und beschäftigt. Damit habe ich noch nie schlechte Erfahrungen gemacht. Ganz im Gegenteil, viele wunderbare Freunde gewonnen und sehr viel für mich gelernt. Das Wohnheim habe ich mir angesehen, sprachliche Hürden kann man überwinden, Religionen und Länder kennenlernen.

Der Beitrag „Toleranz und Anerkennung“ klagt nicht an. Darum geht es nicht. Er zeigt ein Beispiel eines Menschen, der hier eine Existenz aufgebaut hat und sich als bewährtes Mitglied und als Bereicherung für unsere Gesellschaft entwickelt hat. Er zeigt ein Beispiel, wie sich jemand erfolgreich bei uns integriert und hier Freunde, Familie und ein erfülltes Leben findet. Der Hürden überwindet und Stärke zeigt.

Traurig ist die menschliche Seite, die sich zeigte, als der Beitrag erschien. Das sich Menschen nicht vorstellen können, mit welchen Hürden man kämpft, wenn man bei uns anders ist. Das diese „andersartigen“ Menschen nur toleriert werden solange sie „funktionieren“. Wenn sie aber auf sich aufmerksam machen, Menschlichkeit zeigen, uns den Spiegel der Intoleranz vor Augen halten, dann werden sie auf ein Minimum der Akzeptanz reduziert. Und es zeigte sich auch, das der Inhalt und Sinn des Beitrags in keiner Weise von diesen Menschen verstanden werden wollte. Es tut ja auch weh, wenn man den „Guten“ zeigt, dass sie gar nicht so gut sind.

Das war eine Bewegung, die so nicht gewollt war, aber doch zeigt, dass diesbezüglich viel zu tun ist. Ich habe lange überlegt, diese Geschichte hinter dem Artikel einfach so stehen zu lassen. Es ist mir jedoch ein Bedürfnis, für Offenheit anderen gegenüber, bei mir selber und bei anderen – jetzt und künftig – zu werben.