„Deutsche Einheit“ aus dem Geschichtsbuch?

Foto: Henriette Schmidt

Foto: Henriette Schmidt

Es ist der 25. Jahrestag der Deutsche Einheit, die an diesem 3. Oktober gefeiert wird, der einzige deutsche Feiertag nach Bundesrecht. 25 Jahre, in denen Kinder geboren wurden, die das geteilte Land selber nicht erlebt haben. Sie kennen es nur aus Büchern, Filmen oder den Erzählungen der Eltern und Großeltern. Hat es für heutige Jugendliche noch eine Relevanz an ein geteiltes Land zu erinnern oder ist es eher der Wunsch der Älteren, dass ihre Kinder die eigene Vergangenheit kennen?

Die SchülerInnen der 11. Jahrgangs der Montessori Gemeinschaftsschule haben sich eine ganze Woche mit dem Thema beschäftigt: Der Mauerbau, die Zeit des durch die Mauer geteilten Deutschlands, der Mauerfall, die Wiedervereinigung und die Deutsche Einheit standen im Mittelpunkt einer Projektwoche. Alle relevanten Techniken, mit denen ein Thema in der Oberstufe behandelt werden kann, wurden angewandt. Am Mittwoch stand eine Exkursion zur Gedenkstätte Berliner Mauer in der Bernauer Straße auf dem Programm. Am diesem historischen Ort in der Bernauer Straße erstreckt sich die ehemalige Mauer auf 1,4 km Länge über den damaligen Grenzstreifen. Am nächsten Tag führten die SchülerInnen eine Diskussion über ein angemessenes Gedenken sowie eine Debatte zur East Side Gallery unter dem Thema: „Ist das Kunst oder kann das weg?“. Ob der Tag der Deutschen Einheit heute noch relevant für sie ist und wie man sinnvoll daran erinnern oder gedenken soll, waren die Fragen, die die SchülerInnen am Freitag schriftlich beantworten sollten.

Das Bemerkenswerte an den Antworten der SchülerInnen ist, dass sie vollkommen frei von eigenem Erleben sind. Das spiegelt sich darin wider, dass sie auf den Punkt bringen, was ihnen wichtig in diesem Zusammenhang ist und keine negativen oder positiven Einflüsse ihre Meinungen färben konnten. Dieses „Nicht-erlebt-haben“ wird aber auch in wenigen Antworten angeführt, als Grund keinen Bezug dazu zu haben und ein paar SchülerInnen führten (wer hätte es nicht gedacht) den freien Schultag als Bezug an.

Es sei ein wichtiges Thema, weil wir in einem Deutschland und mit Menschen leben, die durch diese Geschichte geprägt sind, heißt es den Antworten. Sie sind Zeitzeugen und viele hätte man ohne die Maueröffnung nie kennengelernt. Eltern und Großeltern erzählen viel von früheren Zeiten als sie mit der Mauer lebten. Schüler erzählen, dass sie einen Großteil ihrer Familie nicht kennen würden oder auch, dass die eigenen Eltern sich nicht kennengelernt hätten, würde die Mauer noch stehen. Manche erwähnen ihre Verwandten, für die es emotional ein schwerer Tag sei, der aber auch ein Tag des Feierns sei. Ein schweres Leben hätte aufgehört, ein ungewisses, doch besseres begonnen. Es sei wichtig für die Stadt in der er geboren sei, ist eine andere Antwort und dass es ein Tag und Symbol für Freiheit und Widerstand ist. Den SchülerInnen ist klar, dass sie mit Mauer ganz anders aufgewachsen wären, auf diese Weise in einer Demokratie, in Frieden und Freiheit leben könnten. Wie wäre Deutschland heute, fragt ein Schüler und mehrere erzählen, dass ihnen die Geschichte der Einheit in dieser Stadt immer wieder durch Mauerreste oder Erzählungen begegnet.

Eine Antwort hebt sich dann doch etwas ab: Inwieweit ist dieses Thema relevant für dich? „Gar nicht,“ beginnt die Antwort. „Außer, dass ich mich ständig über die pro-westliche Darstellungsweise aufrege. Statt einer deutschen Einheit wäre es schöner, irgendwann eine humanitäre, soziale Einheit Europas zu feiern. Ein solidarisches Europa, ohne Außen- und Innenmauern. Mit wenigen sozialen Unterschieden, was die Gesellschaftsschichten betrifft. Sowas wäre erstrebenswert!“ Eine Antwort, die offensichtlich zeigt, wie wichtig die Kenntnis der eigenen Geschichte ist, die Zusammenhänge sehen, verknüpfen und Schlussfolgerungen daraus ziehen lässt. Eine Antwort, die Hoffnung in die Jugend begründet wachsen lässt.

Wie sollte man nun sinnvoll daran erinnern und gedenken? Hier sind sich die meisten einig, dass mit einem Gedenktag für den „Tag der Deutschen Einheit“ Genüge getan ist. Zudem sei mit Gedenktafeln, Mahnmalen, Mauerresten und Museen auch optisch ein Zeichen gesetzt. Dennoch meinen die SchülerInnen, dass man Zeitzeugen erzählen lassen sollte, damit das Wissen nicht verloren geht. Es gehöre zu Bildung und Allgemeinwissen, meinen mehrere Schüler, die es gut finden, dass es in der Schulzeit ein Thema ist. Und auch praktische Tipps wie Gedenkstätten besuchen, Theaterstücke spielen, einen Zeichentrickfilm darüber machen oder eine Kerze anzünden, sind unter den Antworten zu finden. Anrührend ist eine Antwort, die besagt, dass man den Tag immer mit Familie und Freunden feiern sollte, da dies lange Zeit nicht möglich gewesen ist. Und wieder bemerkenswert eine Antwort, die fordert, dass man immer einen aktuellen Bezug zum heutigen Geschehen herstellen sollte. „Wir feiern den Fall der Mauer und bauen heute Mauern wieder auf. Was kann man da tun?“ fragt der Schüler.

Über den Besuch der Gedenkstätte und der Debatte über die East Side Gallery erzählt die Lehrerin sehr begeistert. Insbesondere darüber, dass das Votum der SchülerInnen eindeutig für den Erhalt des Kunstprojekts der Künstlerinitiative East Side Gallery e.V. ausgefallen ist. Beide Stätten sind gelebte und greifbare Geschichte, die für junge wie ältere Menschen historische Ereignisse mit aktuellem Geschehen verbindet.

Die gedachte Mauer zwischen Ost und West, die in den Köpfen der Älteren noch oft vorhanden ist, sollte verschwinden. Umso bedeutender ist es, ihre damalige Tragweite auch künftig in den Köpfen der Jüngeren zu verankern. Damit sie sich in Zukunft, mit Unterstützung und den Erfahrungen der Älteren, gegen neue Mauer, wo immer und gegen wen sie stehen mögen, einsetzen werden.

Stacheldrahtzaun oder Betonelemente – schon vergessen?

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Das Gefühl ist im Nachhinein schwer zu beschreiben … , wenn man davor stand, nach links und nach rechts schaute und kein Ende ausmachen konnte. Doppelter Stacheldrahtzaun oder Betonelemente verhinderten die Sicht auf das, was dahinter war. Allein das Bewusstsein, dass Selbstschussanlagen, Minenfelder, Hundelaufanlagen und andere Schikanen ein Durchkommen unmöglich machten, reichte aus, eine unglaubliche Ohnmacht und Beklemmung zu erzeugen. 

Einzig ein paar Grenzübergänge erlaubten ein Durchkommen, dies nur nach scharfen Kontrollen, unter Beobachtung und Bewachung von bewaffneten Grenzsoldaten. Bei Kontrollen, ob mit Auto oder Zug durch das Gebiet der DDR unterwegs, stets die spürbare Anspannung, welche Fragen von den Kontrolleuren gestellt werden würden, und die Erleichterung, wenn sie sich der nächsten Person zuwandten. Die Erleichterung, westdeutschen – freien – Boden zu betreten und das Gefühl zu haben, dass man nun wieder sagen darf, was man will. Der „antifaschistische Schutzwall“ war die euphemistische Bezeichnung der innerdeutschen Grenze des Ostens, der vor Übergriffen aus dem Westen schützen sollte. Ein Schutz, der letztlich über 45 Jahre 872 Menschen das Leben kostete. Vielen Menschen, die fliehen wollten, hat dieser „Schutz“ lange Gefängnisstrafen aufbürdete und Familien auf Jahrzehnte getrennt oder oft für immer entzweit.

Die Kinder der 50er und 60er sind mit dieser Mauer aufgewachsen und kannten nichts anderes. Sie mussten sich oft mit dem Vorwurf auseinandersetzten, das geschichtliche Erbe des letzten Weltkriegs der Eltern und Großeltern zu tragen, dessen Konsequenz diese Mauer war. Eine Mauer, die jeglichen Freiheitsgedanken, Rede- und Reisefreiheit, Selbstbestimmung immer wieder sichtbar außer Kraft setzte. Für beide Seiten – die einen, die nicht hinein konnten und die anderen, die eingeschlossen leben mussten. Für Berliner war es täglich gelebte Realität. Die Geschichte hatte jedoch einen anderen Plan und durch viele zusammenhängende geschichtlichen Entwicklungen, durch beherztes Agieren verschiedener Persönlichkeiten, wurde die Öffnung und letztlich Beseitigung möglich.

Der Mauerfall am 9. November 1989 wurde ein geschichtliches Ereignis, das bis heute tief in das Gedächtnis aller eingebrannt ist, die in irgendeiner Weise betroffen waren. Unzählig die Biografien, deren Verlauf sich durch diesen Tag drastisch änderte. Für die, die es erlebt haben sind die Tränen, die Freude und Euphorie noch heute spürbar, genauso wie die Unsicherheit und Angst vor der Zukunft. Bedeutend schließlich der 3. Oktober 1990, der beide ehemaligen Staaten wieder zusammenführte. Unbestritten, dass dieser Tag lediglich der Beginn einer gemeinsamen Entwicklung war und unzählig die Liste der persönlichen Geschichten, die im Verlauf der Jahre sehr positive, aber auch oft sehr negative Erfahrungen mit der Zusammenführung beiden Staaten machen mussten. Eine Geschichte der Akzeptanz, der Toleranz und Solidarität, die nicht immer ein gutes Bild auf die Bürger beider Seiten warf.

Die deutschen Kinder der späten 90er Jahre und 2000er, kennen diese Schilderungen nur aus den Geschichtsbüchern. Ihnen ist kaum zu vermitteln, was es bedeutet, wenn einem ein Ort verschlossen ist. Wenn man keine Möglichkeit hat, geliebte Menschen zu sehen oder zu sprechen, wenn man in irgendeiner Weise in seiner Freiheit sich zu bewegen, zu denken oder sprechen, durch äußere Willkür behindert ist. Das Gefühl der Beklemmung und Angst kennen sie nicht, da sie das Privileg genießen, in Friedenszeiten und einem zusammengeführten Staat zu leben. Es ist ein Segen, dass diese Kinder, Jugendlichen, jungen Erwachsenen unbelastet und frei aufwachsen. Nicht zuletzt, weil dadurch die Mauer, die oft noch in den Köpfen vorhanden ist, immer weniger wird und ein Zusammenwachsen des Ostens und Westens in einem Land voranschreitet.

Dennoch stellt sich die Frage, welche Aufgaben uns im Hinblick auf die letzten 70 Jahre erwachsen. Den Kindern, wie früher geschehen, eine Erbschuld aufzubürden, ist wohl der falsche Weg. Ihnen muss jedoch klar gemacht werden, dass es höchsten Stellenwert hat, diese Geschichte wach zu halten und aus ihren Erfahrungswerten zu schöpfen. Dies nicht ohne dass sich die älteren Jahrgänge der eigenen Verantwortung bewusst sind, da man oft gerne das Negative vergisst, wenn die Zeiten wieder gut laufen. Jedem muss der Stellenwert unserer Freiheit höher liegen, als die Angst vor Unbekannten.

Insbesondere bedeutet es für dieses Land, das Bewusstsein wach zu halten, was eine Mauer, eine Grenze, sei sie gedacht oder real, für das Leben von Menschen bedeutet. Eine Mauer kann kein Schutz sein, wenn sie die Schutzbedürftigen ein- und ausschließt und damit Freiheit beschränkt. Sie kann nicht verhindern, dass Strömungen von außen ins Innere dringen und Leben verändern. Sie kann keinen Ist-Zustand erhalten, ohne zu sehen, was an den Grenzen passiert. Gerade dieses Land müsste jeglichen Begrenzungen entgegenwirken, jedem Menschen ungehinderten Zugang erlauben und die Stärke beweisen, jedem Menschen ein Leben an jedem Ort zu ermöglichen.

Die Deutsche Einheit ist nicht zu trennen von vielen Geschichten über Flucht, Existenzangst, Familientrennung und menschlichen Schicksalen. Umso mehr stehen wir in der Verantwortung, Stacheldrahtzaun oder Betonelemente nicht zu vergessen. In der Verantwortung uns für Freiheit in jeglicher Hinsicht einzusetzen – eine Verantwortung, die richtigen Signale zu setzen und uns europaweit zu Verfechtern der Freiheit für allen Menschen zu machen. Den Wandel und die Zeichen der Zeit anzunehmen. Ganz gleich, woher die Menschen kommen, ganz gleich, welche Sprache sie sprechen, welche Geschichten sie mitbringen, ob sie Gast oder Landsmann bei uns werden wollen. Die Freiheit ist wie eine Pflanze, die trotz Stacheldrahtzaun oder Betonelemente immer wieder zum Licht wächst. Manchmal dauert es viele lange Jahre – Jahre, die viele Menschen gerade jetzt nicht haben.