Meine Heimat und doch ganz fern!

Foto: © Koraysa - Fotolia.com

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„Ich wollte nicht, dass ihr das Leben von dieser Seite seht. Ihr solltet nicht das Leben hassen oder verbittert werden. Ihr solltet das Schöne auf dieser Erde erkennen. Das Risiko wäre zu hoch gewesen, dass ihr diese Bilder nie aus dem Kopf bekommen würdet. Bilder, die euch ein Leben lang verfolgen könnten – Tag und Nacht, bis ins Erwachsenenalter, bis ihr alt seid.“ Es war dieser Satz ihres Vaters, der auffiel. Er stand in einem Bericht über die Ferienschule, die im Herbst 2016 mit Flüchtlingskindern aus einem benachbarten Containerdorf in der EFöB, in der sie arbeitet, stattfand. Sie hatte einen Bericht darüber geschrieben und erklärt dazu: „Ich bin mit sechs Jahren aufgrund des Palästinakriegs mit meinen Eltern und meinen Geschwistern nach Deutschland geflüchtet. Ich habe jedoch noch nie einen Krieg erlebt, noch nie gesehen wie ein Mensch vor mir stirbt oder verletzt wurde. Einfach aus dem einzigen Grund, dass mein Vater es selbst als Kind erlebt hat und sich geschworen hat, dass seine Kinder so etwas nicht erleben sollen.“ Sie hatte ihren Vater gefragt, warum er mit seiner Familie aus seinem Heimatland geflogen war.

Daryn E. arbeitet schon viele Jahre als Erzieherin in der Ergänzenden Förderung und Betreuung an der Giesensdorfer Schule, einer kleinen Grundschule im Süden von Berlin. Sie ist eine sehr lebhafte Kollegin, immer mittendrin, schnell zu begeistern und für jeden Scherz zu haben. Als im Spätsommer 2015 die Ferienschule geplant wurde, wurde auch sie gefragt, ob sie sich vorstellen könnte im Team mitzuarbeiten. Dies nicht zuletzt aus dem Grund, weil sie fließend Arabisch spricht. Daryn zögerte mit der Zusage. Sehr gerne wollte sie dem Wunsch des Arbeitgebers entsprechen, doch die Arbeit mit traumatisierten Flüchtlingskindern ist keine leichte Sache. Und dann war da noch die Sache mit ihrer eigenen Kultur, der deutschen, der arabischen – ja, welcher Kultur eigentlich?

Daryn war selber eins dieser Flüchtlingskinder, allerdings ist das viele Jahre her. Sie hat erlebt und weiß, was diesen Kindern hier begegnet und was sie durchmachen. Sie kennt den Zwiespalt zwischen den Kulturen nur allzu genau und ist sich bewusst, dass er viele Jahre andauern wird, wenn er denn überhaupt beigelegt werden kann. Integration ist die eine Seite. Gelingt sie, ist der Zwiespalt zwischen der Ursprungskultur und des Integrationslandes noch lange nicht bewältigt. Er dauert viel länger an und hat viel größere Bedeutung als sich die meisten Einheimischen überhaupt vorstellen können. Die Geschichte ihrer Flucht fing in Palästina mit ihren Großeltern an, die damals alles liegen lassen mussten und sich nie wirklich zuhause fühlen konnten. Auch der Vater aus dem Libanon und die Mutter aus Jordanien waren nirgendwo wirklich willkommen, so dass sie in den frühen ’80er Jahren das erste Mal beschlossen nach Deutschland auszureisen. Die Familie wurde jedoch abgeschoben und erst der zweite Anlauf, nach weiteren Reisen zwischen den Ländern Libanon und Jordanien, machte die Einbürgerung 1987 möglich. Daryn war damals 9 Jahre alt, sprach kein Wort deutsch und sollte hier ihre Heimat finden.

Zur damaligen Zeit war es noch recht ungewöhnlich, Menschen aus arabischen Ländern in Deutschland zu integrieren. In der ersten Klasse in der Daryn saß, war sie die einzige Ausländerin. Die Lehrerin der Vorschulgruppe sah es als nicht erforderlich an, das Kind vorzustellen, sie zu beachten oder irgendwelche Hilfestellungen in der Sprache zu geben. Da sie die Sprache nicht konnte wurde sie in einen jüngeren Jahrgang gesteckt und war so in der ganzen Schulzeit immer 2 bis 3 Jahre älter als der Durchschnitt der Kinder. Es ist schon für einheimische Kinder schwierig älter als der Durchschnitt zu sein, denkt man an die Veränderung des Verhaltens und des Körpers in der Pubertät. Dazu kam noch die Sprache und das Aussehen, das Daryn immer ausgrenzte. Integration oder Ausgrenzung hörte als Thema auch Zuhause nicht auf. Der Vater sah den Aufenthalt in Deutschland als die Chance für seine Kinder in Frieden zu leben und aus ihrem Leben etwas zu machen. Das selbstverständlich in den Grenzen seiner moralischen Werte. Und auch die Mutter hätte gerne ihre fünf Kinder in den Grenzen der arabischen Kultur und Religion erzogen, aber in Friedenszeiten, also in Deutschland.

Doch die Kinder erlebten die westliche Welt. Sahen, was die einheimischen Kinder hier durften und welche Freiheiten sie besaßen. In der Schule wurde Daryn immer mit den Realitäten konfrontiert. Sie hätte so gerne dazu gehört, wäre so gerne „deutsch“ gewesen, hätte so gerne all die Dinge gemacht, die für Einheimische selbstverständlich waren. Daryn hat es trotzdem gemacht. Mit ihren türkischen und arabischen Freundinnen hat sie sich eine Zwischenwelt erlaubt, die mit Strafe endete, wenn sie erwischt wurde. Ein gutes Gefühl hat sie nie dabei gehabt, aber sie wollte unbedingt so sein wie die anderen – so selbstverständlich und frei. Sie musste lernen sich zwischen zwei Kulturen zu bewegen. Die eine, die ihre Eltern aus einem fremden Land mitgebracht hatten, das aber nicht mehr ihr Land war. Und die Kultur in der sie aufwuchs, die sie aber ob ihrer Herkunft nicht vollkommen aufnehmen konnte, so gerne Daryn das auch gewollt hätte. Der Konflikt war vorhersehbar und betrifft bis heute alle fünf Kinder der Familie. Jedes Kind hat auf andere Weise reagiert, alle haben einen langen Weg der Selbstfindung hinter sich.

Bei Daryn spitzte sich der Konflikt nach einem sechswöchigem Aufenthalt in Libanon zu. Sie fand es schrecklich in dem für sie fremden Land, rebellierte, war unausstehlich und wollte zurück nach Deutschland. Die Folge war, dass die große Familie auf das Kind aufmerksam geworden war. Verwandte setzten die Eltern in Gesprächen unter Druck, dass man das Kind verheiraten müsse um sie nicht zu verlieren. Die Eltern waren im Zwiespalt, war das dann doch nicht der Plan, den der Vater für seine Tochter hatte. Doch die Familienbande sind mächtig und Daryn bekam Angst. Mit einer Freundin entzog sie sich dem Zugriff und war zwei Monate für die Familie verschwunden. Heute bedauert sie, dass sie damals nicht wusste, welche Möglichkeiten es für junge Mädchen gibt, sich helfen zu lassen, welche Rechte sie hat und welche Beratungen man in Anspruch nehmen kann. Damals wurde vermittelt und es kam zur Aussprache mit ihrem Vater. Der Vater und auch Daryn machten ihre Vorstellungen, Ängste und Wünsche deutlich. Der Vater wollte eine abgeschlossene Ausbildung, einen sicheren Beruf, die Jungfräulichkeit. Wollte, dass Daryn ihre Chancen nutzt und ihre Dankbarkeit in Form einer selbständigen Bürgerin zeigt … Daryn wollte Freiheit! … Die Bedingungen des Vaters waren verständlich und akzeptabel. Sie wurde nicht verheiratet und konnte einen selbständigen, selbstbewussten Weg wählen.

Der Konflikt zwischen den Kulturen ist für Daryn nicht vorbei, aber sie hat gelernt, wo die Vorteile beider Kulturen für sie selber zu finden sind. Sie geht einen selbstbestimmten Weg und ist heute diejenige, die die Eltern bei allen administrativen Angelegenheiten unterstützt. Im Straßenbild fällt sie kaum mehr auf und doch gibt es sie noch oft, die Situationen, die ihr das Anderssein bewusst machen. Situationen in der Arbeit, wenn neue Eltern sie kennenlernen und sie die Skepsis bemerkt. Und ihr wird aus der eigenen Geschichte bewusst, was die Kinder aus der Ferienschule und alle anderen Flüchtlingskinder bei uns durchmachen. Sie kennt das Schutzbedürfnis und den Wunsch der Kinder gehört zu werden. Sie spürt den Respekt der Kinder, in deren Augen sie die eine ist, die es geschafft hat. Daryn ist bewusst, dass das was die Flüchtlingskinder in der Ferienschule erlebt haben für sie etwas ganz besonderes ist. Kinder aus solchen Ländern wachsen anders auf als Kinder hier. Sie sind viel mehr auf sich selbst gestellt und müssen oft ihre eigene Geschichte alleine kompensieren. Die Mitarbeit in der Ferienschule hat bei Daryn viele Erinnerungen und Gedanken ausgelöst. Trotzdem ist sie froh, dass sie es mit ihren KollegInnen erlebt hat. Es sei etwas ganz besonderes gewesen und sie hatte das Gefühl etwas erreicht zu haben. Sie konnte diese Kinder ein paar Tage begleiten und weiß, welchen Weg sie vor sich haben. Sie weiß, dass der Konflikt zwischen den Kulturen diese Kinder und ihre Eltern vor schweren Prüfungen stellen wird. Die Eltern, weil die ihre Kultur den Kindern erhalten wollen und Wertvorstellungen aus einem anderen Land mit einbringen, stehen gegenüber den Kindern, die in einem westlichen Land aufwachsen, dazugehören möchten und das bewusste Erleben des Ursprungslandes in die Vergangenheit rücken.

Daryn hat diese Kinder – und ihren Vater – verstanden.

„Deutsche Einheit“ aus dem Geschichtsbuch?

Foto: Henriette Schmidt

Foto: Henriette Schmidt

Es ist der 25. Jahrestag der Deutsche Einheit, die an diesem 3. Oktober gefeiert wird, der einzige deutsche Feiertag nach Bundesrecht. 25 Jahre, in denen Kinder geboren wurden, die das geteilte Land selber nicht erlebt haben. Sie kennen es nur aus Büchern, Filmen oder den Erzählungen der Eltern und Großeltern. Hat es für heutige Jugendliche noch eine Relevanz an ein geteiltes Land zu erinnern oder ist es eher der Wunsch der Älteren, dass ihre Kinder die eigene Vergangenheit kennen?

Die SchülerInnen der 11. Jahrgangs der Montessori Gemeinschaftsschule haben sich eine ganze Woche mit dem Thema beschäftigt: Der Mauerbau, die Zeit des durch die Mauer geteilten Deutschlands, der Mauerfall, die Wiedervereinigung und die Deutsche Einheit standen im Mittelpunkt einer Projektwoche. Alle relevanten Techniken, mit denen ein Thema in der Oberstufe behandelt werden kann, wurden angewandt. Am Mittwoch stand eine Exkursion zur Gedenkstätte Berliner Mauer in der Bernauer Straße auf dem Programm. Am diesem historischen Ort in der Bernauer Straße erstreckt sich die ehemalige Mauer auf 1,4 km Länge über den damaligen Grenzstreifen. Am nächsten Tag führten die SchülerInnen eine Diskussion über ein angemessenes Gedenken sowie eine Debatte zur East Side Gallery unter dem Thema: „Ist das Kunst oder kann das weg?“. Ob der Tag der Deutschen Einheit heute noch relevant für sie ist und wie man sinnvoll daran erinnern oder gedenken soll, waren die Fragen, die die SchülerInnen am Freitag schriftlich beantworten sollten.

Das Bemerkenswerte an den Antworten der SchülerInnen ist, dass sie vollkommen frei von eigenem Erleben sind. Das spiegelt sich darin wider, dass sie auf den Punkt bringen, was ihnen wichtig in diesem Zusammenhang ist und keine negativen oder positiven Einflüsse ihre Meinungen färben konnten. Dieses „Nicht-erlebt-haben“ wird aber auch in wenigen Antworten angeführt, als Grund keinen Bezug dazu zu haben und ein paar SchülerInnen führten (wer hätte es nicht gedacht) den freien Schultag als Bezug an.

Es sei ein wichtiges Thema, weil wir in einem Deutschland und mit Menschen leben, die durch diese Geschichte geprägt sind, heißt es den Antworten. Sie sind Zeitzeugen und viele hätte man ohne die Maueröffnung nie kennengelernt. Eltern und Großeltern erzählen viel von früheren Zeiten als sie mit der Mauer lebten. Schüler erzählen, dass sie einen Großteil ihrer Familie nicht kennen würden oder auch, dass die eigenen Eltern sich nicht kennengelernt hätten, würde die Mauer noch stehen. Manche erwähnen ihre Verwandten, für die es emotional ein schwerer Tag sei, der aber auch ein Tag des Feierns sei. Ein schweres Leben hätte aufgehört, ein ungewisses, doch besseres begonnen. Es sei wichtig für die Stadt in der er geboren sei, ist eine andere Antwort und dass es ein Tag und Symbol für Freiheit und Widerstand ist. Den SchülerInnen ist klar, dass sie mit Mauer ganz anders aufgewachsen wären, auf diese Weise in einer Demokratie, in Frieden und Freiheit leben könnten. Wie wäre Deutschland heute, fragt ein Schüler und mehrere erzählen, dass ihnen die Geschichte der Einheit in dieser Stadt immer wieder durch Mauerreste oder Erzählungen begegnet.

Eine Antwort hebt sich dann doch etwas ab: Inwieweit ist dieses Thema relevant für dich? „Gar nicht,“ beginnt die Antwort. „Außer, dass ich mich ständig über die pro-westliche Darstellungsweise aufrege. Statt einer deutschen Einheit wäre es schöner, irgendwann eine humanitäre, soziale Einheit Europas zu feiern. Ein solidarisches Europa, ohne Außen- und Innenmauern. Mit wenigen sozialen Unterschieden, was die Gesellschaftsschichten betrifft. Sowas wäre erstrebenswert!“ Eine Antwort, die offensichtlich zeigt, wie wichtig die Kenntnis der eigenen Geschichte ist, die Zusammenhänge sehen, verknüpfen und Schlussfolgerungen daraus ziehen lässt. Eine Antwort, die Hoffnung in die Jugend begründet wachsen lässt.

Wie sollte man nun sinnvoll daran erinnern und gedenken? Hier sind sich die meisten einig, dass mit einem Gedenktag für den „Tag der Deutschen Einheit“ Genüge getan ist. Zudem sei mit Gedenktafeln, Mahnmalen, Mauerresten und Museen auch optisch ein Zeichen gesetzt. Dennoch meinen die SchülerInnen, dass man Zeitzeugen erzählen lassen sollte, damit das Wissen nicht verloren geht. Es gehöre zu Bildung und Allgemeinwissen, meinen mehrere Schüler, die es gut finden, dass es in der Schulzeit ein Thema ist. Und auch praktische Tipps wie Gedenkstätten besuchen, Theaterstücke spielen, einen Zeichentrickfilm darüber machen oder eine Kerze anzünden, sind unter den Antworten zu finden. Anrührend ist eine Antwort, die besagt, dass man den Tag immer mit Familie und Freunden feiern sollte, da dies lange Zeit nicht möglich gewesen ist. Und wieder bemerkenswert eine Antwort, die fordert, dass man immer einen aktuellen Bezug zum heutigen Geschehen herstellen sollte. „Wir feiern den Fall der Mauer und bauen heute Mauern wieder auf. Was kann man da tun?“ fragt der Schüler.

Über den Besuch der Gedenkstätte und der Debatte über die East Side Gallery erzählt die Lehrerin sehr begeistert. Insbesondere darüber, dass das Votum der SchülerInnen eindeutig für den Erhalt des Kunstprojekts der Künstlerinitiative East Side Gallery e.V. ausgefallen ist. Beide Stätten sind gelebte und greifbare Geschichte, die für junge wie ältere Menschen historische Ereignisse mit aktuellem Geschehen verbindet.

Die gedachte Mauer zwischen Ost und West, die in den Köpfen der Älteren noch oft vorhanden ist, sollte verschwinden. Umso bedeutender ist es, ihre damalige Tragweite auch künftig in den Köpfen der Jüngeren zu verankern. Damit sie sich in Zukunft, mit Unterstützung und den Erfahrungen der Älteren, gegen neue Mauer, wo immer und gegen wen sie stehen mögen, einsetzen werden.

Stacheldrahtzaun oder Betonelemente – schon vergessen?

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Das Gefühl ist im Nachhinein schwer zu beschreiben … , wenn man davor stand, nach links und nach rechts schaute und kein Ende ausmachen konnte. Doppelter Stacheldrahtzaun oder Betonelemente verhinderten die Sicht auf das, was dahinter war. Allein das Bewusstsein, dass Selbstschussanlagen, Minenfelder, Hundelaufanlagen und andere Schikanen ein Durchkommen unmöglich machten, reichte aus, eine unglaubliche Ohnmacht und Beklemmung zu erzeugen. 

Einzig ein paar Grenzübergänge erlaubten ein Durchkommen, dies nur nach scharfen Kontrollen, unter Beobachtung und Bewachung von bewaffneten Grenzsoldaten. Bei Kontrollen, ob mit Auto oder Zug durch das Gebiet der DDR unterwegs, stets die spürbare Anspannung, welche Fragen von den Kontrolleuren gestellt werden würden, und die Erleichterung, wenn sie sich der nächsten Person zuwandten. Die Erleichterung, westdeutschen – freien – Boden zu betreten und das Gefühl zu haben, dass man nun wieder sagen darf, was man will. Der „antifaschistische Schutzwall“ war die euphemistische Bezeichnung der innerdeutschen Grenze des Ostens, der vor Übergriffen aus dem Westen schützen sollte. Ein Schutz, der letztlich über 45 Jahre 872 Menschen das Leben kostete. Vielen Menschen, die fliehen wollten, hat dieser „Schutz“ lange Gefängnisstrafen aufbürdete und Familien auf Jahrzehnte getrennt oder oft für immer entzweit.

Die Kinder der 50er und 60er sind mit dieser Mauer aufgewachsen und kannten nichts anderes. Sie mussten sich oft mit dem Vorwurf auseinandersetzten, das geschichtliche Erbe des letzten Weltkriegs der Eltern und Großeltern zu tragen, dessen Konsequenz diese Mauer war. Eine Mauer, die jeglichen Freiheitsgedanken, Rede- und Reisefreiheit, Selbstbestimmung immer wieder sichtbar außer Kraft setzte. Für beide Seiten – die einen, die nicht hinein konnten und die anderen, die eingeschlossen leben mussten. Für Berliner war es täglich gelebte Realität. Die Geschichte hatte jedoch einen anderen Plan und durch viele zusammenhängende geschichtlichen Entwicklungen, durch beherztes Agieren verschiedener Persönlichkeiten, wurde die Öffnung und letztlich Beseitigung möglich.

Der Mauerfall am 9. November 1989 wurde ein geschichtliches Ereignis, das bis heute tief in das Gedächtnis aller eingebrannt ist, die in irgendeiner Weise betroffen waren. Unzählig die Biografien, deren Verlauf sich durch diesen Tag drastisch änderte. Für die, die es erlebt haben sind die Tränen, die Freude und Euphorie noch heute spürbar, genauso wie die Unsicherheit und Angst vor der Zukunft. Bedeutend schließlich der 3. Oktober 1990, der beide ehemaligen Staaten wieder zusammenführte. Unbestritten, dass dieser Tag lediglich der Beginn einer gemeinsamen Entwicklung war und unzählig die Liste der persönlichen Geschichten, die im Verlauf der Jahre sehr positive, aber auch oft sehr negative Erfahrungen mit der Zusammenführung beiden Staaten machen mussten. Eine Geschichte der Akzeptanz, der Toleranz und Solidarität, die nicht immer ein gutes Bild auf die Bürger beider Seiten warf.

Die deutschen Kinder der späten 90er Jahre und 2000er, kennen diese Schilderungen nur aus den Geschichtsbüchern. Ihnen ist kaum zu vermitteln, was es bedeutet, wenn einem ein Ort verschlossen ist. Wenn man keine Möglichkeit hat, geliebte Menschen zu sehen oder zu sprechen, wenn man in irgendeiner Weise in seiner Freiheit sich zu bewegen, zu denken oder sprechen, durch äußere Willkür behindert ist. Das Gefühl der Beklemmung und Angst kennen sie nicht, da sie das Privileg genießen, in Friedenszeiten und einem zusammengeführten Staat zu leben. Es ist ein Segen, dass diese Kinder, Jugendlichen, jungen Erwachsenen unbelastet und frei aufwachsen. Nicht zuletzt, weil dadurch die Mauer, die oft noch in den Köpfen vorhanden ist, immer weniger wird und ein Zusammenwachsen des Ostens und Westens in einem Land voranschreitet.

Dennoch stellt sich die Frage, welche Aufgaben uns im Hinblick auf die letzten 70 Jahre erwachsen. Den Kindern, wie früher geschehen, eine Erbschuld aufzubürden, ist wohl der falsche Weg. Ihnen muss jedoch klar gemacht werden, dass es höchsten Stellenwert hat, diese Geschichte wach zu halten und aus ihren Erfahrungswerten zu schöpfen. Dies nicht ohne dass sich die älteren Jahrgänge der eigenen Verantwortung bewusst sind, da man oft gerne das Negative vergisst, wenn die Zeiten wieder gut laufen. Jedem muss der Stellenwert unserer Freiheit höher liegen, als die Angst vor Unbekannten.

Insbesondere bedeutet es für dieses Land, das Bewusstsein wach zu halten, was eine Mauer, eine Grenze, sei sie gedacht oder real, für das Leben von Menschen bedeutet. Eine Mauer kann kein Schutz sein, wenn sie die Schutzbedürftigen ein- und ausschließt und damit Freiheit beschränkt. Sie kann nicht verhindern, dass Strömungen von außen ins Innere dringen und Leben verändern. Sie kann keinen Ist-Zustand erhalten, ohne zu sehen, was an den Grenzen passiert. Gerade dieses Land müsste jeglichen Begrenzungen entgegenwirken, jedem Menschen ungehinderten Zugang erlauben und die Stärke beweisen, jedem Menschen ein Leben an jedem Ort zu ermöglichen.

Die Deutsche Einheit ist nicht zu trennen von vielen Geschichten über Flucht, Existenzangst, Familientrennung und menschlichen Schicksalen. Umso mehr stehen wir in der Verantwortung, Stacheldrahtzaun oder Betonelemente nicht zu vergessen. In der Verantwortung uns für Freiheit in jeglicher Hinsicht einzusetzen – eine Verantwortung, die richtigen Signale zu setzen und uns europaweit zu Verfechtern der Freiheit für allen Menschen zu machen. Den Wandel und die Zeichen der Zeit anzunehmen. Ganz gleich, woher die Menschen kommen, ganz gleich, welche Sprache sie sprechen, welche Geschichten sie mitbringen, ob sie Gast oder Landsmann bei uns werden wollen. Die Freiheit ist wie eine Pflanze, die trotz Stacheldrahtzaun oder Betonelemente immer wieder zum Licht wächst. Manchmal dauert es viele lange Jahre – Jahre, die viele Menschen gerade jetzt nicht haben.

Was geben wir den Kindern mit?

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Stell dir vor, du gehst auf eine einsame Insel und gründest eine neue Zivilisation. Vorher musst du allerdings an einer Versteigerung teilnehmen. Zu ersteigern gibt es moralische Werte, auf die diese Zivilisation aufbauen wird. Welche Werte würdest du ersteigern wollen?

Eine Werte-Versteigerung: Die Tochter hatte ein Praktikum absolviert und musste abschließend eine Präsentation aus der Praktikums-Arbeit in der Schule vorstellen. Im Rahmen des Geschichts-/Sozialkunde-Unterrichts hatte sie eine Schulstunde vorbereitet. Ihre Vorarbeiten habe ich beobachtet und das ein oder andere mit ihr diskutiert. Beschäftigt hat es mich erst, als sie nach der Präsentation nach Hause kam und davon erzählte. Die Schulstunde war ein großer Erfolg und die Tochter glücklich. Ihre MitschülerInnen hatten sich auf das Thema eingelassen, waren der Fiktion gefolgt, diskutierten über Werte und ersteigerten sie für ihre neue Zivilisation. Was mich besonders daran freute waren die nachträglichen Rückmeldungen, die mein Kind von ihren Mitschülern bekam. Es hätte sehr großen Spaß gemacht. Ein Junge schrieb ihr, dass er es schade fände, dass sie solche Diskussionen nicht öfter machten. Auf einer Skala von eins bis 10 bekäme sie eine 100. Total zufrieden … besser ging es nicht.

annaschmidt-berlin.com_werte2Es war nicht nur der Erfolg der Arbeit, der so positiv war. Es war die Vorstellung, dass sich eine Klasse von etwa 15 – 18-jährigen Oberschülern eine Stunde lang intensiv mit moralischen Werten auseinandergesetzt hatten. Sich offensichtlich sehr ernsthaft damit beschäftigte, was höheres Gewicht in der Wertung hätte. Zur Wahl hatten sie 14 Optionen: Ausbildung, Fortschritt, Freiheit, Frieden, Gerechtigkeit, Gesundheit, glückliches Familienleben, Gleichheit, Glück, Liebe, Reichtum, Schönheit, Tradition, Weisheit. Sie waren in sieben Gruppen eingeteilt, mussten erst für sich selber, dann in der Gruppe festlegen, welche Werte sie ersteigern möchten. Aus der Wertung der sieben Gruppen (Ich habe das erste Mal in meinem Leben selber ein Säulendiagramm erstellt – Mac-sei-dank! :-) ) ergab sich, dass die drei höchsten Werte Frieden, Freiheit und Liebe sind. Tradition, Reichtum und Schönheit belegten die letzten Plätze. Ein sehr schönes Ergebnis finde ich.

Es gefällt mir, dass sich eine Klasse mit Jugendlichen mit moralischen Werten auseinandersetzt, stehen Jugendliche im Generationskonflikt doch immer etwas unter Generalverdacht, dass sie so etwas nicht interessiert. Und dass es sie interessiert und ihnen sogar sehr wichtig ist, zeigt sich in ihren Reaktionen. Es zeigt aber auch, dass sie sich schon viel damit beschäftigt haben müssen und hier ziehe ich den Rückschluss zu ihren Eltern. Kinder übernehmen das, was ihnen ihre Eltern vorleben. Wenn nie über Werte gesprochen wird, keine Werte gelebt werden, können sie auch nicht weitergegeben werden. “Kinder lernen mehr von dem, was Du bist, als was Du sie lehrst …“ heißt es.

Immer mal wieder seine eigenen Werte überprüfen und sich selber zu hinterfragen, was man selber weiter gibt, kann daher nicht verkehrt sein. In meinem Umfeld werden junge KollegInnen Eltern und Großeltern, ich selber werde in Kürze Tante. Was wollen wir diesen Kindern mitgeben, was soll sie formen? Meine eigenen Kinder haben in wenigen Monaten beide die Volljährigkeit erreicht. Haben wir es richtig gemacht? Ihnen die richtige Basis, eine solide Grundlage auf guten Werten vermittelt?

Wie sieht es mit uns selber aus? Welche Werte finden wir für uns persönlich grundlegend und lebenswert. Wie verändern sich unsere persönlichen Werte im Kontext mit einer Gruppe, einer Gesellschaft? Werte verändern sich mit steigendem Alter. Ist dem Jugendlichen die Freiheit sehr wichtig, mag sich der Senior vielleicht doch in den Traditionen ausruhen. Freiheit, Liebe, Gesundheit und Glück dürfte dabei keine Altersfrage sein. Für jeden einzelnen dieser vierzehn Werte lohnt sich eine eigene Debatte. Kann es Gesundheit ohne Glück geben oder Liebe ohne Weisheit? Interessant ist der Dialog zwischen Jugendlichen und Älteren. Aus dem Blick der Erwachsenen fehlen vielleicht Werte, die für eine Gesellschaft elementar sind. Wie sieht’s mit Sicherheit oder Wachstum aus? Werte, die die Jugend noch nicht interessiert. Sind Jugendliche noch enthusiastisch und wollen die Welt verändern, haben sich die Älteren mit einem realitätsnahem Blick vielleicht schon zurückgelehnt.

Ich stelle mir meine Insel vor und die Werte, die ich als Priorität einsetzen würde. Bei Frieden und Freiheit gehe ich mit der Schulklasse einher. Beim dritten Wert kämpfe ich sehr mit mir selber. Ich denke fast, ich würde das glückliche Familienleben einsetzen, beinhaltet es für mich doch das Glück, die Gesundheit und die Liebe. Vielleicht ist das aber auch mogeln … Es ist jedenfalls immer ein interessantes Thema, sich mit Werten auseinanderzusetzen. Dort, wo über Werte gesprochen wird, werden sie auch gelebt und weitergegeben … in der Familie, an die Kinder und in der Gesellschaft. Wir brauchen keine neue Zivilisation, aber wir müssen an unserer sehr hart arbeiten, viele Dinge gerade rücken, korrigieren und verbessern. Mit welchen Werten das am besten gelingt, wäre eine grundlegende Frage. Tröstlich und schön, dass sich die nächste Generation positiv diesem Thema widmet.