Ansporn in der Veränderung – Eine Zeitung wird Magazin

Stadtteilzeitung Steglitz-Zehlendorf

Beginnen wir mit einem Zitat: „Das Stadtteilzentrum Steglitz e.V. ist ein gemeinnütziger Verein, der sich der Geschichte und Tradition der deutschen und internationalen Nachbarschaftsheim-Bewegung verpflichtet fühlt. Ziel unserer Arbeit ist es, für und gemeinsam mit den Bürgerinnen und Bürgern gute Lebensbedingungen im Stadtteil zu gestalten und sie bei der Umsetzung ihrer Ideen und Ziele bestmöglich zu unterstützen. In diesem Sinne verstehen wir uns als Dienstleister und Partner von Kunden, Nutzern und Besuchern unserer Einrichtungen, Projekte und Angebote.“ Dieses Zitat stammt aus dem Leitbild, welches in Zusammenarbeit mit allen MitarbeiterInnen des sozialen Vereins 2014 erarbeitet wurde. Um diese Arbeit, die Lebensbedingungen im Stadtteil, die Ideen und Ziele in die Bevölkerung zu tragen, entstand im März 1995 der Nachbarschaftsbote, der sich im Laufe der Zeit zur Stadtteilzeitung Steglitz-Zehlendorf entwickelte. Nun, im April 2016 steht der nächste Entwicklungsschritt der Zeitung bevor.

NachbarschaftsboteEs ist Zeit für etwas Neues, weshalb die April-Ausgabe der Zeitung die letzte in dieser Form sein wird. Klar ist, dass dies viele bedauern werden und zunächst bestürzt sind, hat man sich doch mit der Zeit an die kleine Zeitung gewöhnt und sie als Informationsquelle genutzt. Klar ist aber auch, dass wir alle treuen Leser in ein neues Medium mitnehmen möchten und die Entscheidung zur Weiterentwicklung keine leichte war. Warum dann? Nun, wenn der Mensch im Mittelpunkt einer Arbeit steht, bekommt man ein Gefühl für Entwicklungen und Veränderungen, die sich im Zusammenleben und der Kommunikation vieler ergeben. Das Stadtteilzentrum kümmert sich nicht allein um die Menschen in den eigenen Einrichtungen, sondern nimmt auch aktiv an Veränderungen im Stadtteil und am Gemeinwesen teil. Dies zum Beispiel durch die Beteiligung an Runden Tischen, an zahlreichen Gremien des Bezirks und durch eine starke Vernetzung mit vielen wertvollen Partnern. Ein besondere Merkmal des Vereins war es schon immer, dass eine große Aufgeschlossenheit gegenüber neuen Medien und neuen Kommunikationsformen bestand. Dies nicht nur aus dem Wunsch, größtmögliche Transparenz in der Arbeit zu zeigen, sondern auch effektiv und sinnvoll zu kommunizieren, was eine große Arbeitserleichterung darstellt. Sowohl intern als auch nach außen hin sind neue Kommunikationswege fester Bestandteil der Arbeit.

Auftrag der Stadtteilzeitung war es schon immer, von der Arbeit des Vereins zu berichten und Leser für Inhalte und Themen zu interessieren und zu sensibilisieren. Das werden wir auch weiter tun. Die Art der Weitergabe von Inhalten möchten wir jedoch den zeitlichen Entwicklungen anpassen. Immer mehr Nutzer lesen Zeitungen nicht mehr in Papierform, sondern nutzen zahlreiche Möglichkeiten, Publikationen online zu erhalten und bequem auf Tablets, Handys oder Computern zu lesen. Natürlich darf man dabei nicht außer Acht lassen, dass die treuen Papierfreunde weiterhin ihren Tribut fordern. Das schon so oft totgeglaubte Buch füllt weiterhin die Buchhandlungen und Regale. Aber wir möchten auch die vielen modernen Möglichkeiten nutzen können, die neue Kommunikationswege eröffnen. Wir möchten mehr Leser auf unterschiedlichsten Wegen erreichen. Es ist und bleibt uns wichtig, die Bürgerinnen und Bürger, Gäste unser Einrichtungen, Nutzer unserer Angebote, Kooperationspartner und Freunde des Vereins weiterhin darüber zu informieren, mit was wir uns beschäftigen, für was wir uns einsetzen und so alle auf unserem Weg mitzunehmen.

Ab Mai 2016 werden wir Ihnen ein Magazin anbieten. Es wird im Format Din A 5 erscheinen und mehr Seiten als die Stadtteilzeitung haben. Auch dieses Magazin wird, wie die Zeitung in den letzten fünf Jahren, Themen gebunden sein. Zusätzlich zu jedem Magazin erscheint ein Einleger, der über unsere aktuellen Angebote und Veranstaltungen informiert. Dieses Magazin bieten wir Ihnen alle zwei Monate, also in sechs Ausgaben pro Jahr, an. Der Vorteil des neuen Formates besteht darin, dass wir die gedruckte Form weiterhin in den Einrichtungen anbieten, die Online-Fassung jedoch vielfältige Möglichkeiten bietet, Sie zusätzlich mit Ergänzungen zu bereichern. Denkbar sind dabei viele Varianten: Wir werden in der Lage sein, unsere Berichte zu vertonen und so zum Beispiel Menschen mit Sehbehinderungen besser erreichen. Wir können Videofilme einbinden und wir haben die Möglichkeit, in weiterführenden Links Themen zu vervollständigen, auf Hilfeangebote oder kooperierende Partner hinzuweisen. In diesem Bereich werden wir uns ausprobieren und wir können Ihnen versichern, dass wir dies mit viel Spaß und Interesse tun werden. Was wir uns in besonderem Maße erhoffen und wünschen, ist dabei, dass Sie sich einmischen, mitreden, uns Rückmeldungen geben und uns mittels der verschiedenen Kommunikationswege begleiten.

SzS_Magazin-Mittelpunkt_2016

 

So bleibt uns hier nur noch, uns zu verabschieden, dies nicht ohne uns zu bedanken. Bedanken möchten wir uns in erster Linie bei den Lesern, die uns in all den Jahren begleitet haben. Wir wünschen uns sehr und würden uns sehr freuen, Sie als Leser des neuen Magazins wieder begrüßen zu dürfen. Ein großes Dankeschön geht an die treuen Anzeigenkunden, die uns teils über viele Jahre begleitet haben. Danke an alle, die uns Rückmeldungen gaben und uns durch die ein oder andere Kritik motiviert haben, besser zu werden. Ein besonderer Dank geht an alle ehrenamtlichen RedakteurInnen, die nie mehr als – eben ein Dankeschön erwartet haben und oft viel Zeit und Energie in wunderbare Beiträge investiert haben. Danke an die Berliner Zeitungsdruckerei für die stets unkomplizierte Zusammenarbeit. Danke an alle Kolleginnen und Kollegen, die das Stadtteilzentrum mit ihrer wertvollen Arbeit immer wieder in die Zeitung brachten. Und danke an alle bezirklichen Stellen, Vereine und Organisationen, die durch ihre Berichte die Stadtteilzeitung bereichert haben.

Zum Schluss ganz persönlich: Ich bearbeite die Stadtteilzeitung seit April 2003. Ich bekam damals als Kindergartenmutter die wunderbare Gelegenheit, zuhause an einem festen Auftrag zu arbeiten und so trotzdem immer für meine Kinder da zu sein. Damals war Hagen Ludwig der leitende Redakteur der Zeitung. Als er den Verein 2008 verlies, rutschte ich in seine Rolle hinein und übernahm ebenso die redaktionelle Arbeit. Seither bin ich im Stadtteilzentrum feste Mitarbeiterin und Kollegin. Hagen Ludwig, und dafür bin ich sehr dankbar, steht bis heute bei jeder Ausgabe beratend im Hintergrund zur Verfügung und wird auch weiterhin das Magazin begleiten. Wer mich kennt weiß, dass ich die kleine Zeitung liebe. Ich durfte im Laufe der Jahre so viele bemerkenswerte Menschen kennenlernen und empfand diese Arbeit immer als Bereicherung. Als sich das Ende dieser Form der Publikation abzeichnete, kämpfte ich zwischen zwei Gefühlen: Zum einen hatte auch ich das Empfinden, dass es Zeit für etwas Neues ist, zum anderen hänge ich doch sehr an dieser gewohnten Form. Die künftige Form wurde im Kreis einiger Kolleginnen und Kollegen erarbeitet. Das Format, das wir künftig anbieten, bietet Herausforderungen und Möglichkeiten, die weiterhin eine abwechslungsreiche und interessante Arbeit garantieren. Ich freue mich sehr darauf und hoffe, dass wir Sie sehr bald davon begeistern können, denn – bei uns steht immer der Mensch im Mittelpunkt!

Anna Schmidt
Presse- und Öffentlichkeitsarbeit
Stadtteilzentrum Steglitz e.V.

Meine Heimat und doch ganz fern!

Foto: © Koraysa - Fotolia.com

Foto: © Koraysa – Fotolia.com

„Ich wollte nicht, dass ihr das Leben von dieser Seite seht. Ihr solltet nicht das Leben hassen oder verbittert werden. Ihr solltet das Schöne auf dieser Erde erkennen. Das Risiko wäre zu hoch gewesen, dass ihr diese Bilder nie aus dem Kopf bekommen würdet. Bilder, die euch ein Leben lang verfolgen könnten – Tag und Nacht, bis ins Erwachsenenalter, bis ihr alt seid.“ Es war dieser Satz ihres Vaters, der auffiel. Er stand in einem Bericht über die Ferienschule, die im Herbst 2016 mit Flüchtlingskindern aus einem benachbarten Containerdorf in der EFöB, in der sie arbeitet, stattfand. Sie hatte einen Bericht darüber geschrieben und erklärt dazu: „Ich bin mit sechs Jahren aufgrund des Palästinakriegs mit meinen Eltern und meinen Geschwistern nach Deutschland geflüchtet. Ich habe jedoch noch nie einen Krieg erlebt, noch nie gesehen wie ein Mensch vor mir stirbt oder verletzt wurde. Einfach aus dem einzigen Grund, dass mein Vater es selbst als Kind erlebt hat und sich geschworen hat, dass seine Kinder so etwas nicht erleben sollen.“ Sie hatte ihren Vater gefragt, warum er mit seiner Familie aus seinem Heimatland geflogen war.

Daryn E. arbeitet schon viele Jahre als Erzieherin in der Ergänzenden Förderung und Betreuung an der Giesensdorfer Schule, einer kleinen Grundschule im Süden von Berlin. Sie ist eine sehr lebhafte Kollegin, immer mittendrin, schnell zu begeistern und für jeden Scherz zu haben. Als im Spätsommer 2015 die Ferienschule geplant wurde, wurde auch sie gefragt, ob sie sich vorstellen könnte im Team mitzuarbeiten. Dies nicht zuletzt aus dem Grund, weil sie fließend Arabisch spricht. Daryn zögerte mit der Zusage. Sehr gerne wollte sie dem Wunsch des Arbeitgebers entsprechen, doch die Arbeit mit traumatisierten Flüchtlingskindern ist keine leichte Sache. Und dann war da noch die Sache mit ihrer eigenen Kultur, der deutschen, der arabischen – ja, welcher Kultur eigentlich?

Daryn war selber eins dieser Flüchtlingskinder, allerdings ist das viele Jahre her. Sie hat erlebt und weiß, was diesen Kindern hier begegnet und was sie durchmachen. Sie kennt den Zwiespalt zwischen den Kulturen nur allzu genau und ist sich bewusst, dass er viele Jahre andauern wird, wenn er denn überhaupt beigelegt werden kann. Integration ist die eine Seite. Gelingt sie, ist der Zwiespalt zwischen der Ursprungskultur und des Integrationslandes noch lange nicht bewältigt. Er dauert viel länger an und hat viel größere Bedeutung als sich die meisten Einheimischen überhaupt vorstellen können. Die Geschichte ihrer Flucht fing in Palästina mit ihren Großeltern an, die damals alles liegen lassen mussten und sich nie wirklich zuhause fühlen konnten. Auch der Vater aus dem Libanon und die Mutter aus Jordanien waren nirgendwo wirklich willkommen, so dass sie in den frühen ’80er Jahren das erste Mal beschlossen nach Deutschland auszureisen. Die Familie wurde jedoch abgeschoben und erst der zweite Anlauf, nach weiteren Reisen zwischen den Ländern Libanon und Jordanien, machte die Einbürgerung 1987 möglich. Daryn war damals 9 Jahre alt, sprach kein Wort deutsch und sollte hier ihre Heimat finden.

Zur damaligen Zeit war es noch recht ungewöhnlich, Menschen aus arabischen Ländern in Deutschland zu integrieren. In der ersten Klasse in der Daryn saß, war sie die einzige Ausländerin. Die Lehrerin der Vorschulgruppe sah es als nicht erforderlich an, das Kind vorzustellen, sie zu beachten oder irgendwelche Hilfestellungen in der Sprache zu geben. Da sie die Sprache nicht konnte wurde sie in einen jüngeren Jahrgang gesteckt und war so in der ganzen Schulzeit immer 2 bis 3 Jahre älter als der Durchschnitt der Kinder. Es ist schon für einheimische Kinder schwierig älter als der Durchschnitt zu sein, denkt man an die Veränderung des Verhaltens und des Körpers in der Pubertät. Dazu kam noch die Sprache und das Aussehen, das Daryn immer ausgrenzte. Integration oder Ausgrenzung hörte als Thema auch Zuhause nicht auf. Der Vater sah den Aufenthalt in Deutschland als die Chance für seine Kinder in Frieden zu leben und aus ihrem Leben etwas zu machen. Das selbstverständlich in den Grenzen seiner moralischen Werte. Und auch die Mutter hätte gerne ihre fünf Kinder in den Grenzen der arabischen Kultur und Religion erzogen, aber in Friedenszeiten, also in Deutschland.

Doch die Kinder erlebten die westliche Welt. Sahen, was die einheimischen Kinder hier durften und welche Freiheiten sie besaßen. In der Schule wurde Daryn immer mit den Realitäten konfrontiert. Sie hätte so gerne dazu gehört, wäre so gerne „deutsch“ gewesen, hätte so gerne all die Dinge gemacht, die für Einheimische selbstverständlich waren. Daryn hat es trotzdem gemacht. Mit ihren türkischen und arabischen Freundinnen hat sie sich eine Zwischenwelt erlaubt, die mit Strafe endete, wenn sie erwischt wurde. Ein gutes Gefühl hat sie nie dabei gehabt, aber sie wollte unbedingt so sein wie die anderen – so selbstverständlich und frei. Sie musste lernen sich zwischen zwei Kulturen zu bewegen. Die eine, die ihre Eltern aus einem fremden Land mitgebracht hatten, das aber nicht mehr ihr Land war. Und die Kultur in der sie aufwuchs, die sie aber ob ihrer Herkunft nicht vollkommen aufnehmen konnte, so gerne Daryn das auch gewollt hätte. Der Konflikt war vorhersehbar und betrifft bis heute alle fünf Kinder der Familie. Jedes Kind hat auf andere Weise reagiert, alle haben einen langen Weg der Selbstfindung hinter sich.

Bei Daryn spitzte sich der Konflikt nach einem sechswöchigem Aufenthalt in Libanon zu. Sie fand es schrecklich in dem für sie fremden Land, rebellierte, war unausstehlich und wollte zurück nach Deutschland. Die Folge war, dass die große Familie auf das Kind aufmerksam geworden war. Verwandte setzten die Eltern in Gesprächen unter Druck, dass man das Kind verheiraten müsse um sie nicht zu verlieren. Die Eltern waren im Zwiespalt, war das dann doch nicht der Plan, den der Vater für seine Tochter hatte. Doch die Familienbande sind mächtig und Daryn bekam Angst. Mit einer Freundin entzog sie sich dem Zugriff und war zwei Monate für die Familie verschwunden. Heute bedauert sie, dass sie damals nicht wusste, welche Möglichkeiten es für junge Mädchen gibt, sich helfen zu lassen, welche Rechte sie hat und welche Beratungen man in Anspruch nehmen kann. Damals wurde vermittelt und es kam zur Aussprache mit ihrem Vater. Der Vater und auch Daryn machten ihre Vorstellungen, Ängste und Wünsche deutlich. Der Vater wollte eine abgeschlossene Ausbildung, einen sicheren Beruf, die Jungfräulichkeit. Wollte, dass Daryn ihre Chancen nutzt und ihre Dankbarkeit in Form einer selbständigen Bürgerin zeigt … Daryn wollte Freiheit! … Die Bedingungen des Vaters waren verständlich und akzeptabel. Sie wurde nicht verheiratet und konnte einen selbständigen, selbstbewussten Weg wählen.

Der Konflikt zwischen den Kulturen ist für Daryn nicht vorbei, aber sie hat gelernt, wo die Vorteile beider Kulturen für sie selber zu finden sind. Sie geht einen selbstbestimmten Weg und ist heute diejenige, die die Eltern bei allen administrativen Angelegenheiten unterstützt. Im Straßenbild fällt sie kaum mehr auf und doch gibt es sie noch oft, die Situationen, die ihr das Anderssein bewusst machen. Situationen in der Arbeit, wenn neue Eltern sie kennenlernen und sie die Skepsis bemerkt. Und ihr wird aus der eigenen Geschichte bewusst, was die Kinder aus der Ferienschule und alle anderen Flüchtlingskinder bei uns durchmachen. Sie kennt das Schutzbedürfnis und den Wunsch der Kinder gehört zu werden. Sie spürt den Respekt der Kinder, in deren Augen sie die eine ist, die es geschafft hat. Daryn ist bewusst, dass das was die Flüchtlingskinder in der Ferienschule erlebt haben für sie etwas ganz besonderes ist. Kinder aus solchen Ländern wachsen anders auf als Kinder hier. Sie sind viel mehr auf sich selbst gestellt und müssen oft ihre eigene Geschichte alleine kompensieren. Die Mitarbeit in der Ferienschule hat bei Daryn viele Erinnerungen und Gedanken ausgelöst. Trotzdem ist sie froh, dass sie es mit ihren KollegInnen erlebt hat. Es sei etwas ganz besonderes gewesen und sie hatte das Gefühl etwas erreicht zu haben. Sie konnte diese Kinder ein paar Tage begleiten und weiß, welchen Weg sie vor sich haben. Sie weiß, dass der Konflikt zwischen den Kulturen diese Kinder und ihre Eltern vor schweren Prüfungen stellen wird. Die Eltern, weil die ihre Kultur den Kindern erhalten wollen und Wertvorstellungen aus einem anderen Land mit einbringen, stehen gegenüber den Kindern, die in einem westlichen Land aufwachsen, dazugehören möchten und das bewusste Erleben des Ursprungslandes in die Vergangenheit rücken.

Daryn hat diese Kinder – und ihren Vater – verstanden.

Die Sache mit dem Klettergerüst

Foto: ©-Kara-Fotolia.com

Foto: ©-Kara-Fotolia.com

Ein bekanntes Beispiel für die Diskrepanz zwischen dem Wunsch einer Mutter, ihr Kind in Sicherheit zu wissen und dem Bewegungs- und Entdeckerdrang eines Kindes ist wohl das Klettergerüst. Kinder wollen es erobern, so hoch als möglich klettern und oben stolz beweisen, dass sie es geschafft haben. Die Mutter steht unten, beobachtet, muss sich schwer zusammenreißen, nicht wie ein jonglierender Tanzbär unter dem Kind herumzutanzen und die rettenden Arme aufzuhalten. Selbst den eingezogenen Zischlaut der Mutter, falls das Kind schwankt, sollte es nicht mitbekommen, um nicht das Gefühl zu bekommen, die Mutter zweifele an seinen Fähigkeiten. Kinder brauchen und wollen Sicherheit, die sich aber mit jedem Lebensjahr verändert und oft sehr von der Vorstellung der Eltern abweicht.

Wohl zu den schönsten Gefühlen in der Erziehung gehört der Moment, in dem Mutter oder Vater realisieren, dass das Kind Vertrauen, Zuneigung und Schutz beim Elternteil sucht. Besonders, wenn einem klar wird, dass diese Zuneigung, dieses Schutzbedürfnis, nur einem selbst gilt. Der Moment, wenn sich das erste Mal die Hand des Säuglings um die der Eltern schließt oder das Kind den Kopf vertrauensvoll auf der Schulter ablegt. Dieses Urvertrauen, das das Kind entgegenbringt ist so unglaublich schön und so schwer zu erschüttern – doch es verändert sich. Ist es beim Säugling noch sehr durch Nähe und Körperkontakt bestimmt, löst es sich immer weiter, erforscht und erobert seinen Lebenskreis. Eltern werden zur Zuflucht, wenn es in der Ferne nicht mehr stimmt. Je selbstständiger und selbstbewusster das Kind wird, desto weniger bedarf es den familiären Schutz. Desto größer werden seine Kreise, die für die Eltern immer schwerer zu kontrollieren sind.

Das Maß, wie stark der Schutz sein muss, den Kinder bedürfen, ist individuell und von Kind zu Kind unterschiedlich. Es gibt Kinder, die von Anfang an selbstbewusst, stark und neugierig durch ihre Erlebniswelt streifen, aber auch Kinder, die eher zögerlich und zurückhaltend sind. Genauso wie Eltern: Die einen, die Angst vor jeder Veränderung und Gefahr für das Kind haben oder Eltern, die es entspannt schaffen, das Kind seine Erfahrungen machen zu lassen. Für alle Kinder gilt, dass sie nur aus den Erfahrungen, die sie machen dürfen, lernen und ihr Verhalten entsprechend einstellen.

Kinder sind von Natur aus neugierig und möchten die Welt erfahren. So ist es durchaus sinnvoll, Schutzmaßnahmen zu treffen und vorausschauend die nähere Umgebung zu prüfen, was zur Gefahr werden könnte. Sind das beim Säugling im Krabbelalter noch herumliegende Kleinteile, muss beim laufenden Kind geprüft werden, wo es sich stoßen und verletzen könnte. Gefährliche Substanzen sollten immer gut bewahrt und offene Fenster oder Türen gesichert werden. Scharfe Gegenstände gehören ebenso nicht unbeobachtet in Kinderhände, da gilt nach wie vor der alte Spruch: „Messer, Gabel, Schere, Licht, ist für kleine Kinder nicht!“ Wer Kinder im Haus hat, sollte in allen Lebensbereichen gut prüfen, wo es nachhaltige Maßnahmen zu treffen gilt, die Unfälle vermeiden und so manchen Kummer ersparen.

Dennoch sollte man auch nicht übervorsichtig sein. Ein Kind, dass den Umgang mit Messer und Schere nicht lernt, ist eher in Gefahr, sich damit zu verletzen. Ein Kind, dass nie eine Kerze anzünden darf, wird früher oder später dem Reiz, es im Verborgenen zu tun, unterliegen. Besser als die schützende Glasglocke ist der altersentsprechende Lernprozess und das Gespräch über Gefahren. Dieser Lernprozess gilt auch für Bereiche außerhalb der Wohnstätte. Ein Kind, das nicht schwimmen kann, wird an einen Schwimmbadbesuch keinen Spaß haben. Ein Kind, das nicht lernt, wie man vernünftig einem Tier begegnet, baut Ängste auf, die es in Gefahr bringen. Gut ist, sich zu informieren, wo Kinder in allen Lebensbereichen lernen können und dürfen, und so immer bereichernde Erfahrungen machen.

Ist es in jüngeren Jahren eher der körperliche Schutz und Lernprozess, sind es mit dem Heranwachsen mehr die ideellen Erfahrungswerte. Kinder fangen mehr oder weniger im Alter von 10 Jahren an, sich für Handys und Internet zu interessieren. Verbieten bringt wenig. Sinn macht ein begleitetes Heranführen, was für viele Eltern heute einem gemeinsamen Lernen gleich kommt. Ein Kind muss heute lernen, wo sich Abofallen beim Handy verbergen; muss lernen, welche Gefahren das Internet mit sich bringt; muss wissen, was Datenweitergabe in Netzwerken bedeutet. Meist wird in der Grundschule mit Referaten begonnen, die im Internet recherchiert werden müssen, und wer kennt nicht die gute alte PowerPoint-Präsentation, die ein beliebtes Medium ist. Ein Computer muss ins Haus. Die Ausrede von Erziehungsberechtigten, selber keine Ahnung davon zu haben, hat heutzutage keinen Bestand mehr. Kinder müssen damit umgehen können, da heutzutage nahezu kein beruflicher Weg, geschweige denn viele private Angelegenheiten, ohne die digitale Technik auskommen. Hier kann man mit dem Kind lernen und Angebote nutzen, die vielfältig bereit stehen. Das wichtigste dabei bleibt jedoch, wie bei allen Erziehungsangelegenheiten, mit dem Kind im Gespräch zu bleiben. Nur dadurch kann man beobachten, herausfinden, was aktuell von Interesse ist und notfalls rechtzeitig eingreifen – im Idealfall. Welche Absprachen man trifft, welche Regeln gelten sollen, ist Individuell und familiärer Natur, muss aber immer wieder entsprechend des Kindesalters neu verhandelt werden.

So auch die Regeln, die den Ausgang betreffen und ganz besonders der Umgang mit Alkohol. Irgendwann, und da fasse sich bitte jeder an die eigene Nase, wird der Nachwuchs (wenn er es denn nicht heimlich tut) sein erstes Bier trinken. Hier mit Entsetzen, harten Strafen und Moralpredigten zu reagieren, macht wenig Sinn. Er/sie wird es wieder tun, dann aber erst recht heimlich. Es ist besonders in diesem Bezug wichtig, miteinander zu reden, mit Offenheit zu versuchen einen Weg zu finden, der Eltern und dem Kind entgegen kommt.

Einen ganz besonderen Aspekt der Sicherheit für ein Kind dürfen wir aber nie vergessen: Kinder brauchen Rückendeckung und Vertrauen. Wenn sie sich stets sicher sein können, dass das Zuhause ein Ort ist, der Unterstützung und Verständnis bietet, werden sie sich in der Welt freier und sicherer bewegen. Sicherheit bedeutet, erzählen dürfen ohne Angst zu haben verurteilt zu werden. Sicherheit bedeutet, so sein zu dürfen, wie man ist. Schwäche, Enttäuschung, Wut zeigen zu dürfen, ein offenes Ohr zu finden und im Gespräch Lösungen aufzuzeigen. Sie sind es wert und was Eltern an Zeit in die Erziehung und Sicherheit der Kinder investieren, zahlt sich später vielfach aus. Gute Eltern werden nicht geboren, auch das müssen sie lernen. Wenn wir dabei den Blick in die eigene Kindheit nicht vergessen, mit einem guten Bauchgefühl, viel Liebe und einer gewaltigen Portion Humor in die Erziehungsarbeit einsteigen, kommen wunderbare kleine Persönlichkeiten dabei heraus, auf die wir – berechtigt – stolz sein können. Kinder können ganz oben auf dem gedachten Klettergerüst stehen, wenn ihre Eltern den richtigen Balanceakt zwischen Sicherheit und Freiheit gemeistert haben!

zeit0515

Stadtteilzeitung Steglitz-ZehlendorfNr. 187 • Mai 2015

Mit Sicherheit „JA!“

annaschmidt-berlin.com_sicherheit

Foto: Henriette Schmidt

Die größtmögliche Vermeidung eines jeglichen Risikos, das unsere Person, Familie oder unsere Lebensumstände stört, um den Zustand der Sicherheit (lat. sēcūritās) zu erreichen, liegt von Natur aus im Bestreben der Menschen. Diese Sicherheit unterliegt jedoch permanenter Veränderung, da Fortschritt und Weiterentwicklung ebenso in seiner Natur liegen. Wenn sich nun Grenzen verändern, Lebensumstände untragbar werden, Kriege ein Leben unmöglich machen, fängt der Mensch an zu wandern und das Sicherheitsgefüge vieler gerät ins wanken. Diejenigen, die sicher beheimatet sind, möchten den Zustand bewahren. Diejenigen, die wandern, möchten den Zustand erlangen. Auch aus dem zweiten Aspekt, dort wo Wenige mehr haben als Viele und Ungerechtigkeit eine Überlebensfrage wird, wandert der Mensch und wird das Sicherheitsempfinden anderer ins Wanken bringen. Das richtige Mittelmaß beider Gruppen zu sättigen, würde die Flüchtlingsfrage, den Ursprung von Rassismus und Ausländerfeindlichkeit dauerhaft lösen

Aber dieses Mittelmaß wird es nie geben und es wird immer eine Frage der Bereitschaft bleiben, Veränderungen zuzulassen oder sich ihnen entgegenzustellen. Es wird immer Menschen geben, die teilen und helfen, oder Menschen, denen die eigene Besitzstandswahrung wichtiger ist. Es gibt immer Menschen, die sich für Flüchtlinge engagieren und die Flüchtlingsarbeit als gesellschaftliche Aufgabe und Verantwortung sehen. Genauso wie es Menschen gibt, die aus eigener Unsicherheit oder Ängsten für diese Arbeit nicht zu öffnen sind oder ganz einfach nicht zuhören und verstehen wollen. Umso wichtiger ist es, dass die Einsichtigen den Flüchtlingen helfen, sich mit ihnen auseinander setzen, ihre Motive hören und versuchen zu verstehen, warum sie sich auf unglaubliche Wege machen, Gefahren in Kauf nehmen und einer vollkommen ungewissen Zukunft entgegen gehen.

Hilfreich ist sicherlich, wenn wir den Begriff der Sicherheit einmal für uns selber definieren. Uns selber klar machen, was wir brauchen um uns wohl, angenommen, beschützt, akzeptiert zu fühlen um uns in unserem Umfeld frei und glücklich entfalten zu können. Haben wir das für uns deutlich gemacht, wird auch klar, was diese Menschen alles nicht haben. Nicht einmal, wenn sie es tatsächlich geschafft haben in diesem Land anzukommen.

„Sicherheit ist wie ein Käse mit Löchern.“ sagt Veronika Mampel. Sie hat sich von Anfang an für Flüchtlinge eingesetzt, als die Notunterkunft in der Sporthalle, Lippstädter Straße, eingerichtet wurde. Sie hat mit den Menschen gesprochen, dafür gesorgt, dass sie mit dem Nötigsten versorgt wurden, sich um viele administrative Dinge gekümmert und letztlich dafür gesorgt, dass eine Möglichkeit für diese Menschen bestand, außerhalb der Halle einen Ort zu haben, an dem sie Ruhe finden und sich entspannen können. Das KiJuNa – Kinder-, Jugend- und Nachbarschaftszentrum öffnete für sie die Türen und fortan kamen jeden Tag bis zu 40 Flüchtlinge in die Einrichtung. Man lernte sie kennen, sie erzählten und „Flüchtling“ war kein Wort mehr ohne Gesicht.

Man muss sich vorstellen, sagt Veronika Mampel, dass sie bei Ankunft erst einmal Polizisten sehen. Dann werden sie beispielsweise in einer Halle untergebracht, in der Bett an Bett steht. In der Halle leben Menschen aus verschiedenen Ländern, ggf. aus den Ländern mit denen sich die eigene Heimat im Krieg befindet. Sie wissen nicht, ob ihre Nationalität hier anerkannt ist, können die Anträge nicht verstehen, die sie stellen müssen. Bei allen Fragen, Bedürfnissen, Befürchtungen müssen sie hoffen einen Dolmetscher zu finden der helfen kann. Einzig sicher ist nur das Dach über dem Kopf und das was sie am Körper tragen können. Selbst außerhalb der Halle wissen sie nicht, was für Gefahren in Form von Widerständen, Ablehnung, Fremdenhass, ihnen entgegen tritt. Nur dieser Zustand ist ihnen sicher, solange bis eventuell einmal ihr Status geklärt sein wird. Dürfen sie bleiben, bekommen sie vielleicht ein Gefühl von Sicherheit. Müssen sie gehen, bleibt einzig die Hoffnung, doch noch irgendwo in dieser Welt einen Ort zu leben zu finden.

Die, die erst einmal bleiben dürfen, bis der Status geklärt ist, leben in einer Erstunterkunft. Eine Sozialpädagogin, die sich mit einem Team um diese Menschen kümmert, erzählt uns, dass diese Menschen in großer Unsicherheit leben solange der Status nicht geklärt ist. Das bringt große Probleme in Alltag mit sich, den sie so gerne planen und regeln würden. Dies insbesondere, weil sie das Gefühl haben, in einem Land zu sein, in dem alles möglich ist. Aber, sie erzählt auch von dem großen Vertrauen, das diese Menschen ihnen entgegenbringen, weil sie verstanden haben, dass sie hier nur eine Chance haben, wenn sie sich integrieren. Und natürlich lernt man sie mit der Zeit kennen, versteht die Schicksale, die sie mitbringen. Wenn dann einer von ihnen den Bescheid bekommt, dass er hier bleiben darf, ist es auch immer etwas mit Wehmut verbunden und der Hoffnung auf einen glücklichen weiteren Weg.

Aber es gibt ebenso diejenigen, die nicht anerkannt werden und wieder ihn ihr Heimatland zurück müssen. So ist es auch in der Notunterkunft geschehen und Menschen, mit denen man die ein oder andere Stunde verbracht hat, müssen zurück. Die Ratlosigkeit und Enttäuschung sind dabei kaum in Worte zu fassen. Aber ihre Worte sollten gesagt werden und so folgten ein paar von ihnen einer Einladung zu einem Gespräch im KiJuNa. Es waren serbokroatische und albanische Menschen, die dort saßen und von ihrem Weg erzählten, der sie illegal über Ungarn und Österreich nach Deutschland führt. Alle von der Hoffnung getrieben in ein besseres Leben zu laufen. Sie erzählten von 10stündigen Fußwegen, von den Gefahren und Hindernissen und besonders der Ausweglosigkeit, falls sie wieder zurückkehren müssen. Davon, dass sie sich Geld geliehen hätten um hierher kommen zu können und nicht zu wissen, wie sie es je bei der Rückkehr zurück geben könnten. Der Blick in ihre Gesichter genügt um die menschliche Ratlosigkeit dahinter zu erahnen.

Und trotzdem äußern sie die Dankbarkeit, die sie empfinden, wie sie hier behandelt und aufgenommen wurden. Sagen auch, dass die deutschen Behörden richtig und nach den Gesetzen handeln. Bedanken sich für die Stunden der Abwechslung, der Ruhe und Anteilnahme, die ihnen in der Nachbarschaftseinrichtung entgegengekommen ist.

In diesem Video können sie die Menschen sehen, wie sie von ihrem Leben, der Zukunftsangst und Perspektivlosigkeit sprechen. In ihren Sprachen mit zusammengefassten Übersetzungen. Sicherlich ist nicht alles für uns zu verstehen, dass Gefühl, was diese Menschen durchmachen und erleben wird dennoch transportiert.

Geschichte der Flüchtlinge

Diese Erlebnisse und nicht zuletzt die furchtbaren Nachrichten aus dem Mittelmeer machen deutlich, dass sich Europa für Hilfe suchende Menschen öffnen muss. Es spielt keine Rolle, ob Menschen wegen Krieg oder Verfolgung flüchten müssen oder ob Hunger, Armut und Perspektivlosigkeit die Gründe sind. Immer steht einzig der Wunsch auf ein sicheres Leben im Hintergrund. Unsere vordergründige Sicherheit ist keine Rechtfertigung einen einzigen verzweifelten Menschen ins Elend zurückzuschicken. Und bevor unsere Sicherheit auch nur einen einzigen Kratzer abbekommt, können wir noch sehr viele dieser Menschen an unserem Wohlstand teilhaben lassen! Die Antwort auf die Frage, ob wir Flüchtlingen helfen oder nicht, kann daher nur sein: „Mit Sicherheit JA!“

Einen herzlichen Dank an Veronika Mampel (Gespräch) und Kristoffer Baumann (Video), wodurch dieser Beitrag möglich wurde!

Leitartikel der Homepage des
Stadtteilzentrum Steglitz e.V. vom 27. April 2015

Fassungslos …

annaschmidt-berlin.com_unglueck-und-medien

Im Fernseher laufen Nachrichten, in den sozialen Netzwerken berichten Live-Ticker über jede Veränderung und auch die Zeitungen sind gefüllt mit Beiträgen. Ein schweres Unglück erschüttert das Land und die Fassungslosigkeit lähmt. Unvorstellbar das Leid der Angehörigen … der Kopf weigert sich, die Vorstellung zu erwägen, selber betroffen zu sein. Aus zwei unabhängigen Richtungen höre ich dennoch trotzige Kritik, warum gerade dieses Unglück so dermaßen viel Aufmerksamkeit auf sich zieht und warum hier eine Schweigeminute abgehalten wird, bei anderen Unglücken aber nicht. Ist ein Unglück bedenkenswerter als ein anderes? Wohl kaum!

Was in diesem Fall besonders bestürzt ist Nähe. Es ist fast vor der Haustür passiert, die Passagiere wären eine Stunde später auf deutschem Boden ausgestiegen, wurden von Angehörigen erwartet. Die Wahrscheinlichkeit ein Opfer zu kennen, ist eben nicht unwahrscheinlich. Jeder der ein Schulkind zuhause hat, mag nicht wahrhaben, was dort passiert ist. Jeder, der in ein paar Monaten eine Reise plant, will nicht hören was diesen Reisenden widerfuhr. Es ist so nah passiert, gehört in unseren Alltag und den Menschen, die betroffen sind könnten wir jeden Tag begegnen. Dieses Unglück ist gegenwärtig. Den Angehörigen, wo immer sie leben, ist zu wünschen, dass sie optimalen Trost, Kraft und Versöhnung mit dem Schicksal finden werden.

Am Tag des Unglücks hat es eine weitere „kleine“ Nachricht geschafft in den Nachrichtenstrom einzudringen. Sie fällt mir auf, weil sie an diesem Tag so anders ist. Boko Haram hat erneut 500 Frauen und Mädchen entführt um Druck auf Wahlen auszuüben. Diese 500 Frauen und Mädchen schafften es nicht, die Bestürzung der Weltgemeinschaft auf sich zu lenken, verleiten keinen Staatschef dazu, eine Stellungnahme abzugeben, kein Flugzeug wird sich in ihre Richtung bewegen um zu helfen. Wenn ich an dem Tag aufmerksamer gewesen wäre oder nicht von dem aktuellen Unglück so bestürzt, wären mir sicherlich noch weitere Nachrichten aufgefallen, in denen Menschen Furchtbares widerfährt. Wir lesen täglich von Kriegen, Morden, Amokläufen, Vergewaltigungen, Misshandlungen, Entführungen, Folter, … So viele Nachrichten, die ohnmächtig machen, so dass es eigentlich einem Wunder gleich kommt, dass noch ein Mensch in dieser Welt lachen kann.

Es stellt sich die Frage, ob wir überhaupt noch in der Lage sind, das alles zu erfassen. Setzt ein Selbstschutz-Mechanismus ein, um uns davor zu bewahren, in Depressionen und Hilflosigkeit zu fallen? Stumpfen wir emotional ab? Woher nehmen wir Lebensmut, Optimismus, Neugierde in die Zukunft? Warum arbeiten wir weiter, versuchen unser Leben bestmöglich zu gestalten, wenn uns eine Welt voll Grausamkeit und Horror vor Augen gehalten wird?

Eine erhebliche Rolle dabei spielen die Medien. Es geht um nichts weiter als Auflagezahlen oder Klicks in den Netzwerken. Wer als erster die auffallendste Nachricht, das kompromittierendste Bild veröffentlichen kann. Von Pietät, Einfühlungsvermögen, Rücksicht oder gar Zurückhaltung ist nicht das mindeste erkennbar. Warum muss gleich diskutiert werden, was Opfer an Entschädigung zu erwarten haben? Was soll eine Headline, die nach Suizid oder Mord fragt? Warum kann man Schüler einer Schule nicht alleine trauern lassen? Wen interessiert der Aktienkurs der Gesellschaft? Wer entlockt als erster einem Freund des Piloten ein bloßstellendes Zitat? Es geht um Sensationen, Voyeurismus, Quoten … und hat nichts mehr mit Einfühlungsvermögen und objektiver Berichterstattung zu tun. Diese Katastrophen werden instrumentalisiert, genutzt um sich selber ins Spiel zu bringen, aber nicht um mit guten Journalismus zu glänzen, sondern ein Publikum zu bedienen, dass von dieser Medienmache erzogen wurde. Und ist die Nachricht drei Tage alt, hoffen wir wieder, dass sich ein neuer Schauplatz eröffnet, um das Spiel weiterzutreiben.

Dies alles bedenkend kann es nicht unsere Aufgabe oder Ziel sein, zu resignieren oder hinzunehmen. Statt zu kotzen und alles zu verdammen, müssen wir bewussten Medienumgang lernen, einfordern und auch handhaben. Journalismus in seine Schranken zu weisen muss möglich und erlaubt sein. Insbesondere, wenn der Journalismus in Hinblick auf sich selber und einer Katastrophe wie Charlie Hebdo Moralität für sich selber einfordert!

Und in Hinblick auf alle Katastrophen, die den Menschen heute passieren und von denen wir lesen – Resignation ist die falsche Haltung. Nie in der Menschengeschichte gab es so wenige Kriege, Unglücke und Gewalt. Nur hören wir dank der Medien so viel davon, als ob jedes im Wohnzimmer passiert. Und doch sind sie weit genug weg, dass wir sie ausblenden können. Jedes einzelne Verbrechen, jedes Unglück, jeder Krieg ist für den Einzelnen und die Weltgemeinschaft furchtbar. Unsere Aufgabe muss es sein hinzusehen, bewusst zu machen, Veränderungen zuzulassen und an ihnen mitzuarbeiten. Das können wir alle tun und vor der eigenen Haustür anfangen … da fallen mir spontan sehr viele Beispiele ein. Die Welt, die Zukunft und Veränderungen zum Guten und zu Humanität geht uns alle etwas an. Deshalb bleibe ich bei der Überzeugung, so schrecklich die Ereignisse sind, dass jede Schweigeminute, jede echte Anteilnahme und jede Stimme, die sich erhebt, ein Schritt in die richtige Richtung sind. Und viele dieser Schritte – mit Optimismus gepaart – machen eine großartige Weltreise aus.

Schenk’ mir doch ein bisschen Zeit …

annaschmidt-berlin_zeit

Sie wischte die beiden letzten Tische noch ab, stellte die Stühle wieder gerade ran und warf den Lappen auf die Ablage. Ihr Blick ging noch einmal durch den großen Raum – nur nichts vergessen. Dann schob sie den Wagen in die Abstellkammer, zog den Kittel aus, den Mantel an und machte sich auf den Heimweg. Unten auf der Straße kamen ihr dann all die Gedanken und Sorgen wieder in den Sinn, die sie so erfolgreich für ein paar Stunden verdrängt hatte. Weihnachten kündigte sich an.

Fine war eine Kämpferin, war sie schon immer, aber im Moment ging ihr ein bisschen die Luft aus. Die ersten paar Jahre mit den Kindern waren sehr schwer für sie. Sobald es aber ging und die Kinder im Kindergarten bleiben konnten, hatte sie sich wieder Arbeit gesucht und sich tapfer durchgeschlagen. Zu dem einem Job nahm sie auch noch einen zweiten an und so schaffte sie es, sich und die Kinder recht gut über die Runden zu bringen. Wenn nicht so Sachen wie Klassenfahrt, eine Brille, neue Schuhe oder eben Weihnachten dazwischen kam. Dann wurde es schwierig. Vor ein paar Tagen hatten ihr dann Tom und Lena ihre Wunschzettel gegeben. Die lagen in ihrer Tasche und Fine traute sich nicht die Wunschzettel zu lesen.

Sie hatte Angst. Angst, dass dort Wünsche standen, die sie nicht erfüllen konnte. Angst vor der Enttäuschung der Kinder und vor dem Gefühl versagt zu haben. So ging sie nach Hause, wo ja auch noch ein bisschen Arbeit auf sie wartete. Zuhause im Hausflur traf sie wieder mit Frau Müller zusammen. Als wenn die alte Dame immer darauf warten würde, dass sie nach Hause kommt. Frau Müller hatte eine Ader dafür ihr auch dieses Gefühl von Versagen zu geben. Ständig fragte sie, ob sie etwas helfen könne oder ihr mal die Kinder abnehmen soll. Aber das wollte sie nicht, sie wollte alles alleine schaffen.

Tom und Lena kamen ihr schon an der Tür entgegen und nach der freudigen Begrüßung machten sie gemeinsam Abendessen. Das war die einzige Zeit am Tag, wo sie ein paar Dinge erzählen und besprechen konnten. Tom erzählte von seinem Nachmittag mit seinem Freund und Lena hatte sich mit einem Mädchen in der Schule gestritten. Fine hörte mit halben Ohr zu und war in Gedanken schon bei der Hausarbeit. Bis Lena fragte, ob der Weihnachtsmann wohl schon ihre Wunschzettel gelesen hätte. Fine stand sofort auf und meinte nur „Ganz bestimmt!”

So ging es viele Tage weiter. Fine arbeitete, ging nach Hause, ging wieder zur Arbeit. Immer gehetzt und bemüht alles richtig zu machen. Doch die Wunschzettel las sie nicht. Kleinigkeiten hatte sie besorgt, für jedes Kind drei verschiedene Sachen, aber eben Kleinigkeiten. Das schlechte Gewissen war groß, aber die Angst vor den Wünschen größer. Am Sonntagnachmittag vor Weihnachten klingelte Frau Müller. In den Händen hielt sie ein Tablett mit einer großen Kugel drauf. „Ich habe einen Teig geknetet und jetzt tun mir meine Hände so weh, dass ich fragen wollte, ob ich mir die Kinder zum Plätzchen ausstechen leihen könnte.“ Fine guckte sie mit großen Augen an. Das war doch nur ein Vorwand, dachte sie, aber da standen schon Tom und Lena an ihrer Seite und wie sollte sie da nein sagen. „Ok, wenn es wirklich hilft, natürlich gerne.“ und schon waren die Kinder verschwunden – Frau Müller mit einem fröhlichen Lächeln auch.

Fine schloss nachdenklich die Haustür. Das war jetzt ein günstiger Moment für die Wunschzettel. Zuvor wollte sie jedoch die Wäsche aufhängen, den Küchenschrank endlich mal aussortieren, die Schuhe putzen, die Betten frischen beziehen, das Bad putzen, zwei Überweisungen ausfüllen … oh, was war sie doch für ein Feigling. Abends war alles fertig und geputzt, die Kinder wieder zuhause und das Gewissen immer noch schlecht. Als sie schlafen ging, schaute sie noch einmal ins Kinderzimmer. Blickte verliebt auf die schlafenden Kinder und nahm sich ganz fest vor am nächsten Tag zu lesen.

Und plötzlich war Weihnachten da. Fine musste nur bis mittags arbeiten, das Büro in dem sie putzte war zu. Sie ließ die Kinder schlafen, es waren ja eh Ferien und machte sich auf den Weg. Sie hätte sich so gerne gefreut, auf heute Abend, auf ein paar freie Tag, auf ein bisschen gemeinsame Zeit mit den Kindern. Hätte sie doch nur rechtzeitig die Wunschzettel gelesen. Nun war es zu spät. Immerhin hatte sie etwas Leckeres zu essen besorgt und auch ein kleines Bäumchen hatte sie heimlich auf dem Balkon versteckt. Die kleinen Geschenke waren in schönes Papier gehüllt und sicherlich würde Frau Müller ein paar der gebackenen Plätzchen rüber bringen. So hatte sie ja einen Grund zu klingeln.

Als sie zuhause vor der Wohnungstür stand, klebte ein großes buntes Plakat an der Tür. „Weihnachtszone – drei Tage nicht stören!“ stand darauf. Jetzt musste Fine ja doch lachen. Viele bunte Kugeln, Tannenzweige, Nikoläuse und Engel hatten die Kinder darauf gemalt. Und ganz unten in der Ecke stand in ganz kleiner Schrift „Außer Frau Müller!“ Hm, dachte Fine, die Kinder scheinen Frau Müller ja in ihr Herz geschlossen zu haben. Sie schloss die Haustür auf und schon im Flur sah sie die Veränderung. Ging weiter und sah die Kinder fröhlich im Wohnzimmer stehen, wo sie ganz fleißig unglaublich viele Papiersterne aufhängten. Überall, in der ganzen Wohnung hingen Sterne, in allen Farben und Formen. Tom und Lena schauten Fine ernst an. „Gefällt es dir?“ fragte Lena zaghaft. „Es ist wunderschön,“ sagte Fine und das Lächeln der Kinder machte sie ganz glücklich.

Sie machte sich einen Kaffee und schaute den Kindern zu, bis sie ihr Werk vollendet hatten. Dann schmückten sie gemeinsam das Bäumchen. Fine deckte den Tisch und dekorierte ein bisschen und ging dann in die Küche um das Essen vorzubereiten. Danach hatte sie keine Ausrede mehr um die Bescherung hinauszuzögern. Sie schickte die Kinder ins Kinderzimmer, legte die kleinen Geschenke unter den Baum und zündete die Kerzen an. Genau in dem Moment klingelte es. „Nicht jetzt – nicht jetzt, Frau Müller!“ schimpfte sie vor sich her. Aber nicht öffnen ging ja auch nicht. Frau Müller stand mit einem strahlenden Lächeln vor der Tür. Natürlich mit einem Tablett in der Hand auf dem ein großer Plätzchenteller stand, in der einen Ecke noch eine Flasche Wein und zwei kleine Geschenkpakete. Dazwischen steckte ein Briefumschlag. „Also, ich wollte das hier abgeben. Nicht das Tablett,“ sagte Frau Müller. „den blauen Umschlag, den müssen sie lesen.“ Was Fine in dem Moment dachte, beschreiben wir hier lieber nicht, aber sie nahm den Umschlag und las: „Liebe Frau Müller, wir möchten nicht, dass sie alleine Weihnachten feiern müssen und weil sie immer Zeit für uns haben, möchten wir sie gerne zu uns am Nachmittag einladen. Zusammen macht das viel mehr Spaß. Also bitte kommen – Tom und Lena!”

Jetzt holte Fine ganz tief Luft, drehte sich um und bevor sie etwas sagen konnte, hingen schon die Kinder an ihr und sagten „Bitte, bitte, Mama!“ Sie musste in Sekundenbruchteilen entscheiden, ob sie jetzt wütend wird und den Nachmittag verdirbt oder den Wunsch der Kinder erfüllt. Der Blick in drei Paare Augen genügte. „Na, dann kommen sie mal rein, Frau Müller. Aber ich weiß nicht, ob das Essen dann reicht.“ „Na, dann trinken wir halt einen Schluck Wein mehr. Ich hab’ auch noch Nachschub zuhause,“ meinte Frau Müller nur und schob sich mit Tablett an Fine vorbei.

Sie gingen gemeinsam ins Wohnzimmer, wo leise die Weihnachtsmusik spielte. Ein paar Lieder sangen sie mit, die Kinder sagten zwei wunderschöne Gedichte auf und dann wünschten sie sich frohe Weihnachten. Danach machten die Kinder ihre Geschenke auf und zu Fines Überraschung waren beide vergnügt und freuten sich sehr. Das Essen reichte natürlich für alle und Frau Müller stellte sich als wahrer Scherzbold heraus, so hatten sie schon lange nicht mehr gelacht. Als die Kinder im Bett waren, unterhielt sich Fine noch lange mit Frau Müller. Sie erzählte einmal ihren ganzen Kummer von der Seele. Das tat ihr richtig gut und sie konnte später auch das Angebot von Frau Müller annehmen, sich ein bisschen mehr mit den Kindern zu beschäftigen. Als sie Frau Müller verabschiedete, dachte sie, dass die alte Dame doch sehr nett ist.

Es war ein sehr schöner Abend gewesen und als Ruhe einkehrte, kamen Fine wieder die Wunschzettel in den Sinn. Nun traute sie sich, ging zur Tasche, nahm beide Umschläge heraus und öffnete sie. Als sie fertig gelesen hatte, standen ihr die Tränen in den Augen. Sie ging wieder zur Kinderzimmertür und schaute auf die schlafenden Kinder. In beiden Wunschzetteln stand nur ein einziger Wunsch: „Lieber Weihnachtsmann, schenke doch der Mama ein bisschen Zeit!”