Fassungslos …

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Im Fernseher laufen Nachrichten, in den sozialen Netzwerken berichten Live-Ticker über jede Veränderung und auch die Zeitungen sind gefüllt mit Beiträgen. Ein schweres Unglück erschüttert das Land und die Fassungslosigkeit lähmt. Unvorstellbar das Leid der Angehörigen … der Kopf weigert sich, die Vorstellung zu erwägen, selber betroffen zu sein. Aus zwei unabhängigen Richtungen höre ich dennoch trotzige Kritik, warum gerade dieses Unglück so dermaßen viel Aufmerksamkeit auf sich zieht und warum hier eine Schweigeminute abgehalten wird, bei anderen Unglücken aber nicht. Ist ein Unglück bedenkenswerter als ein anderes? Wohl kaum!

Was in diesem Fall besonders bestürzt ist Nähe. Es ist fast vor der Haustür passiert, die Passagiere wären eine Stunde später auf deutschem Boden ausgestiegen, wurden von Angehörigen erwartet. Die Wahrscheinlichkeit ein Opfer zu kennen, ist eben nicht unwahrscheinlich. Jeder der ein Schulkind zuhause hat, mag nicht wahrhaben, was dort passiert ist. Jeder, der in ein paar Monaten eine Reise plant, will nicht hören was diesen Reisenden widerfuhr. Es ist so nah passiert, gehört in unseren Alltag und den Menschen, die betroffen sind könnten wir jeden Tag begegnen. Dieses Unglück ist gegenwärtig. Den Angehörigen, wo immer sie leben, ist zu wünschen, dass sie optimalen Trost, Kraft und Versöhnung mit dem Schicksal finden werden.

Am Tag des Unglücks hat es eine weitere „kleine“ Nachricht geschafft in den Nachrichtenstrom einzudringen. Sie fällt mir auf, weil sie an diesem Tag so anders ist. Boko Haram hat erneut 500 Frauen und Mädchen entführt um Druck auf Wahlen auszuüben. Diese 500 Frauen und Mädchen schafften es nicht, die Bestürzung der Weltgemeinschaft auf sich zu lenken, verleiten keinen Staatschef dazu, eine Stellungnahme abzugeben, kein Flugzeug wird sich in ihre Richtung bewegen um zu helfen. Wenn ich an dem Tag aufmerksamer gewesen wäre oder nicht von dem aktuellen Unglück so bestürzt, wären mir sicherlich noch weitere Nachrichten aufgefallen, in denen Menschen Furchtbares widerfährt. Wir lesen täglich von Kriegen, Morden, Amokläufen, Vergewaltigungen, Misshandlungen, Entführungen, Folter, … So viele Nachrichten, die ohnmächtig machen, so dass es eigentlich einem Wunder gleich kommt, dass noch ein Mensch in dieser Welt lachen kann.

Es stellt sich die Frage, ob wir überhaupt noch in der Lage sind, das alles zu erfassen. Setzt ein Selbstschutz-Mechanismus ein, um uns davor zu bewahren, in Depressionen und Hilflosigkeit zu fallen? Stumpfen wir emotional ab? Woher nehmen wir Lebensmut, Optimismus, Neugierde in die Zukunft? Warum arbeiten wir weiter, versuchen unser Leben bestmöglich zu gestalten, wenn uns eine Welt voll Grausamkeit und Horror vor Augen gehalten wird?

Eine erhebliche Rolle dabei spielen die Medien. Es geht um nichts weiter als Auflagezahlen oder Klicks in den Netzwerken. Wer als erster die auffallendste Nachricht, das kompromittierendste Bild veröffentlichen kann. Von Pietät, Einfühlungsvermögen, Rücksicht oder gar Zurückhaltung ist nicht das mindeste erkennbar. Warum muss gleich diskutiert werden, was Opfer an Entschädigung zu erwarten haben? Was soll eine Headline, die nach Suizid oder Mord fragt? Warum kann man Schüler einer Schule nicht alleine trauern lassen? Wen interessiert der Aktienkurs der Gesellschaft? Wer entlockt als erster einem Freund des Piloten ein bloßstellendes Zitat? Es geht um Sensationen, Voyeurismus, Quoten … und hat nichts mehr mit Einfühlungsvermögen und objektiver Berichterstattung zu tun. Diese Katastrophen werden instrumentalisiert, genutzt um sich selber ins Spiel zu bringen, aber nicht um mit guten Journalismus zu glänzen, sondern ein Publikum zu bedienen, dass von dieser Medienmache erzogen wurde. Und ist die Nachricht drei Tage alt, hoffen wir wieder, dass sich ein neuer Schauplatz eröffnet, um das Spiel weiterzutreiben.

Dies alles bedenkend kann es nicht unsere Aufgabe oder Ziel sein, zu resignieren oder hinzunehmen. Statt zu kotzen und alles zu verdammen, müssen wir bewussten Medienumgang lernen, einfordern und auch handhaben. Journalismus in seine Schranken zu weisen muss möglich und erlaubt sein. Insbesondere, wenn der Journalismus in Hinblick auf sich selber und einer Katastrophe wie Charlie Hebdo Moralität für sich selber einfordert!

Und in Hinblick auf alle Katastrophen, die den Menschen heute passieren und von denen wir lesen – Resignation ist die falsche Haltung. Nie in der Menschengeschichte gab es so wenige Kriege, Unglücke und Gewalt. Nur hören wir dank der Medien so viel davon, als ob jedes im Wohnzimmer passiert. Und doch sind sie weit genug weg, dass wir sie ausblenden können. Jedes einzelne Verbrechen, jedes Unglück, jeder Krieg ist für den Einzelnen und die Weltgemeinschaft furchtbar. Unsere Aufgabe muss es sein hinzusehen, bewusst zu machen, Veränderungen zuzulassen und an ihnen mitzuarbeiten. Das können wir alle tun und vor der eigenen Haustür anfangen … da fallen mir spontan sehr viele Beispiele ein. Die Welt, die Zukunft und Veränderungen zum Guten und zu Humanität geht uns alle etwas an. Deshalb bleibe ich bei der Überzeugung, so schrecklich die Ereignisse sind, dass jede Schweigeminute, jede echte Anteilnahme und jede Stimme, die sich erhebt, ein Schritt in die richtige Richtung sind. Und viele dieser Schritte – mit Optimismus gepaart – machen eine großartige Weltreise aus.

Ich rieche, höre, fühle, schmecke … nur sehen kann ich nichts!

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Es sind sehr zaghafte Schritte, vorsichtig und gerade – einer nach dem anderen. Der rechte Arm ist wärmer als der Linke, also ist die Sonne rechts. Von rechts kommen die Kindergeräusche, dort ist der Spielplatz. Und auch der Schatten auf dieser Seite gibt mir eine Ahnung, wo die großen Bäume stehen. Vor mir auf dem Boden rollt eine Kugel, immer hin und her. Die ist verbunden mit einem langen Stab und der liegt in meiner Hand. Ich merke an meinen Schritten den Unterschied von Sand-, Stein- und Holzboden. Mehr habe nicht ich als Orientierungshilfe. Nur eine Brille auf den Augen, die mir vermittelt, wie sich ein Mensch fühlt, der nur noch vier Sinne zur Verfügung hat.

Meine Neugierde war geweckt. Ich hatte zuvor eine E-Mail von meiner Kollegin bekommen. Manuela schreibt nicht viel, diesmal bekam ich jedoch einen langen Text von ihr, der mir von ihrem Treffen mit Kathrin erzählte. Manuela ist die Projektleiterin im Gutshaus Lichterfelde, einem Nachbarschaftshaus. Im Rahmen der Nachbarschaftsarbeit hatte sie Kathrin kennengelernt und gemeinsam bieten sie Nachmittage an, an denen Besucher mit Kathrin in Gespräch kommen können. Kathrin ist gesetzlich blind. An diesem Nachmittag kam keiner und so kamen beide Frauen ins Gespräch.

Manuela schreibt mir darüber: „Wir bieten diese Gesprächsrunden an. Es geht um Barrierefreiheit. Was heißt es eigentlich, nicht sehen zu können, nicht hören zu können oder in einem Rollstuhl zu sitzen? Wir wollen aufklären und Austausch möglich machen. Aber wo fängt das an? Ab heute weiß ich, wo ich anfangen muss. Sensibilisieren heißt das Schlüsselwort. Kathrin hat ihren Laptop dabei. Darauf zeigt sie mir, wie sie Nachrichten schreibt und liest, bzw. wie sie ihr vorgelesen werden. Die Tastatur hat erhöhte Punkte, die ihr eine Orientierung über die Buchstaben geben. Bilder erkennt sie mittels der Audiodeskription, das ist eine akustische Bildbeschreibung. Für mich ist es faszinierend, wie sie sich so im Internet bewegen kann. Etwas, was für uns sehende Menschen selbstverständlich ist, wird für sie möglich. Ich bin vollkommen beeindruckt. 

Später erklärt Kathrin mir, wie sie sich in den Straßen bewegt. Dafür hat sie den langen Blindenstock und trotzdem ist es wie eine Abenteuerreise ins Nirgendwo. Sie erzählt von den fehlenden Gehwegmarkierungen, von den Hindernissen, die im Weg stehen und so ihre Orientierung zunichte machen. Ich kann mir nicht wirklich vorstellen, was damit gemeint ist, aber dafür hatte Kathrin eine Lösung. Sie greift in ihre Tasche und hat eine Brille in der Hand, die im ersten Moment wie eine kleine Taucherbrille aussieht, aber sie hat Tücken. Als ich die Brille aufsetze, sehe ich nichts mehr. Nur noch einen kleinen hellen Punkt. Den Ort an dem ich stehe, kenne ich seit vielen Jahren. Mit der Brille merke ich sofort meine Unsicherheit. Meine Orientierung ist wie ausgelöscht. Aber ich bekomme noch den Stock in die Hand. Ich laufe los, oder besser, ich versuche loszulaufen. Mir wird ganz heiß, ich habe Angst und fühle mich völlig hilflos, obwohl ich weiß, dass Kathrin in meiner Nähe ist.“ 

Angst und Hilflosigkeit löst die simulierte Blindheit bei Manuela aus, bei mir eher die Neugier, wie sich meine anderen Sinne bewähren. Wir können die Situation jedoch unterbrechen. Kathrin nicht – sie lebt damit, jedoch nicht von Anfang an. „Retinopathia pigmentosa“ diagnostizieren die Ärzte als sie 15 Jahre alt war. Für die Eltern ein herber Schlag, dass das jüngste der fünf Kinder mit Blindheit geschlagen sein sollte. Nur ab wann, konnte keiner vorher sagen. Informationen vom Arzt gab es nicht, die musste sie sich zusammensuchen und erfuhr so von ihrem Krankheitsbild und auch, dass nie jemand sagen konnte, wann die Blindheit so gravierend sein würde, dass ein „normales“ Leben nicht mehr möglich sein würde. Die Eltern reagierten dennoch sofort und belegten Radfahren, Rollschuh fahren oder Zeitungen austragen mit Verboten. Für eine 15-jährige junge Frau schwer zu verstehen und zu ertragen, noch ging ja alles. Erst mit 38 Jahren erlebte sie einen großen Schub, der in der Folge die Bezeichnung „gesetzlich blind“ einbrachte. Schwierig war für Kathrin die Zeit, in der sie sich zur Krankheit bekennen musste. Sie vermied Treffen in Restaurants, sie lernte Toilettengänge in der Stadt zu umgehen, aber doch standen zahlreiche Laternen im Weg, die letztendlich das Bekenntnis zur Krankheit verlangten. So war der berufliche Weg auch von Fachschulen begleitet. Über die gelernte Masseurin zur Büroleitung erlebte sie viel Abwechslung und viele Änderungen. Den Lebenspartner lernte sie schon nach der Ausbildung kennen, verlor ihn aber früh durch ein Herzversagen.

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Kathrin bei einem Vortrag über Assistenzhunde der Fürst Donnersmark Stiftung am 25. Juni 2014

Das hört sich alles nicht so wirklich prickelnd an, wäre da nicht der Mensch Kathrin. Lernt man sie kennen, sind Frustration und Resignation die letzten Vokabeln, die einem einfallen würden. Wir erleben eine Frau, die sich Platz macht, mit lauter Stimme sagt, was sie braucht, die sich einmischt und mitredet und – nicht zuletzt – lacht und einen Humor verbreitet, den sich Menschen ohne Sehbehinderung kaum in ihrer Gegenwart zutrauen würden. Kathrin ist mittendrin, mischt mit, macht mit, redet mit. Der Bezirksbehindertenbeirat, die Seniorenvertretung, das Führhundehalter-Portal, der Apple-Stammtisch, der Runde Tisch, die AG Mobilität … alle dürfen mit ihrer Wortmeldung, ob bequem oder eben meistens auch nicht, rechnen. Sie versteht sich als Multiplikator, sozusagen als Werbeplattform in eigener Sache und nutzt die sozialen Medien, meist Facebook oder die eigene Homepage um ihre Sache voranzutreiben. Die da wäre?

Kathrin möchte eine Welt, die für alle bedienbar ist. Das Wort „Inklusion“ mag sie nicht hören und hofft, dass ich meine Frage wieder vergessen, tue ich aber nicht. Sie mag Inklusion nicht, weil wir darüber sprechen müssen, dabei sollte eine für alle nutzbare Welt Selbstverständlichkeit sein. Und zu viele, die selber nicht betroffen sind, erklären uns, was Inklusion heißt. Nur erklären sie nicht, dass eine behindertengerechte Toilette für einen sehbehinderten Menschen nicht gerade das El Dorado an Hygiene ist. Das gehbehinderte, hörbehinderte und sehbehinderte Menschen völlig andere Bedürfnisse haben. Und selber sagt sie, dass es eine 100 % Barrierefreiheit nicht geben kann, dass man aber für Barrierefreiheit in den Köpfen der Menschen noch viel tun könnte.

Dazu schreibt Manuela in ihrer Mail an mich weiter: „Wir nicht körperlich behinderten Menschen können uns in der Welt behaupten. Wir können uns aber nicht in die Lage eines Menschen mit Behinderung hineinversetzen. Wie fühlt es sich an, wenn man alles abgenommen bekommt oder merkt, dass andere nicht wahrnehmen, wo ich gerade Hilfe benötige. Was ist es für ein Gefühl, wenn mein ausgebildeter Blindenführhund von Räumen oder Versammlungen ausgeschlossen ist, die ich besuchen möchte. Das, obwohl der Hund die notwendige Sicherheit und Orientierung gibt. Ich wünsche mir, dass die Menschen nicht aus Mitleid helfen, das keinem nutzt. Ich wünsche mir, dass sich die Menschen dafür interessieren, was Menschen mit Handicap brauchen. Dass sie offen auf die anderen zugehen und einfach ehrlich fragen, ob Hilfe gewünscht, notwendig oder nicht erforderlich ist. Ich werde weiter mit Kathrin sprechen, weiter versuchen andere zu sensibilisieren und weithin Gesprächsmöglichkeiten schaffen, die Menschen mit und ohne Behinderungen zusammen bringen.“ 

Wie notwendig das ist, erklärt mir Kathrin weiter. So selbstständig sie ihr Leben eingerichtet hat, gibt es immer wieder Bereiche, die alleine nicht zu bewältigen sind. So lese ich in einem Facebook Kommentar von ihr, dass sie bei einem Einkauf eine kleine Flasche Joghurt kaufte, der ja bei den Milchprodukten zu finden war und sich auch so anfühlte. Zuhause stelle sich dies jedoch, nach einem herzhaften Schluck aus der Flasche, als Ölprodukt heraus. Eigentlich zum Lachen und tragisch zugleich. Einkaufen, sagt Kathrin, sei ein sehr schwieriger Bereich. Für sehbehinderte Menschen sind Preise, Ausschilderungen und Sortiment-Änderungen kaum zu erkennen. Dort müssen sie warten und hoffen, dass entweder eine Verkäuferin, ein Verkäufer oder ein aufmerksamer Kunde Zeit hat und hilft.

Wie sensibel die ganze Geschichte ist, verstehe ich spätestens, als wir uns schon fast verabschieden. Als diese beeindruckende Frau mir erzählt, dass es Tage gibt, an denen es ihr gut geht, an denen sie Hilfe annehmen möchte und kann. Aber es gibt auch Tage, an denen sie genau diese Hilfe nicht ertragen kann. Es gibt nur eine einzige Sache, die dies Lösen kann: Wir müssen uns trauen, fragen und auf Menschen mit Behinderung zugehen, Scheuklappen abbauen, offen sein und sie in unserem Alltag willkommen heißen!

Wer mehr über Kathrin Backhaus wissen möchte, wird auf ihrer Homepage Backis Welt fündig!

Informationen über die Fürst Donnersmarck-Stiftung: „Rehabilitation, Betreuung, Förderung und Unterstützung“ von Menschen mit Behinderung in drei Arbeitsbereichen um: Rehabilitation, Touristik, Bildung.
 

Rabenmütter … gibt es nicht

©-Kati-Molin-Fotolia.com

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Mit etwa 20 Jahren saß ich bei meiner Mutter in der Küche. In den Nachrichten berichteten sie von einem Fall, in dem einem Kind Gewalt angetan worden war. Sehr entrüstet äußerte ich, dass ich nicht verstehen könne, wie eine Mutter ihrem Kind so etwas antun kann. Meine Mutter kochte seelenruhig weiter und meinte nur: „Doch, ich kann es mir vorstellen. Es gibt Situationen in denen man einfach nicht mehr anders kann.“ Nun saß ich dort und wusste nicht, worüber ich mich mehr aufregen sollte. Über den geschilderten Fall aus den Nachrichten oder über meine eigene Mutter, die so eine Ungeheuerlichkeit geäußert hatte. 

Meine Mutter hatte etwas ausgesprochen, was für mich als ihr Kind nicht sein durfte. Ich fühlte mich persönlich verletzt und angegriffen. Ich wollte an dem Bild einer Idealmutter festhalten. Einer Mutter, die alles, aber auch alles für ihr Kind gibt und sich selber dafür in den Hintergrund stellt. Ich wollte an eine heile Welt glauben, in der Kinder sicher leben und Mütter aufopfernd und mit großer Fürsorge ihre Kinder großziehen.

Aber es gibt sie immer wieder, die Nachrichten von Kindern, die Furchtbares erleben müssen. Das Entsetzen darüber schlägt meistens in sprachlose Fassungslosigkeit um. Ist von Wut und Hilflosigkeit begleitet. Anders als bei Fällen, die Kindesmissbrauch zum Thema haben, hört und liest man kaum vorschnelle Urteile, die diesen Müttern jegliche Rechte und körperliche Unversehrtheit absprechen. Solche Fälle darf es in unseren Köpfen einfach nicht geben. Wir fühlen uns alle als Kind einer Mutter. Eine Mutter, die ihrem Kind nicht gerecht werden will oder kann, ist etwas was, das nach unserer Vorstellung gegen die Natur und gegen unser Wunschdenken geht.

Ich wurde selber Mutter, viele Jahre später. Machte eigene Erfahrungen als Mutter und musste mir eingestehen, dass es dieses Bild der Idealmutter nicht gibt. Ich erfuhr meine Grenzen, stellte fest, dass das „Mutter sein“ nicht vor Krankheit, Sorgen oder aufgebrauchten Kraftreserven schützt. Das Bild von Mutter und Kind, welches wir in den Medien, meist mit Weichzeichner, vermittelt und vorgespielt bekommen, ist nicht real. Doch niemand erzählt, wie es wirklich ist, wenn man Kinder hat. Die Gesellschaft möchte funktionierende Mütter, welche die eigene Belange auf Jahre hinten anstellen. Mütter, die für ihre Kinder die anderen Facetten ihrer Persönlichkeit ausblenden und diese erst nach Volljährigkeit der Kinder wie aus einem Dornröschenschlaf wieder erwachen lassen. Nur gibt es diese Mütter nicht, auch wenn es niemand hören möchte.

Man kann es nicht lernen – Mutter zu sein. Man kann sich in Kursen bestmöglich vorbereiten, meistens nur auf die Geburt. Man kann Fachbücher zu Rate ziehen, was man oft erst tut, wenn ein Problem auftaucht. Man kann um Rat bitten und bekommt erfahrungsgeprägte unterschiedliche Meinungen. Mutter wird man und ist es dann für immer. Und ist man erst Mutter geworden, stellt man fest, dass sich die eigene Geschichte, die eigene Erziehung, Erfahrungen, Gelerntes mit dem Alltag vermischen. Besonders am Anfang möchte man alles richtig machen und steht im Umfeld, mehr vor sich selbst, vor einem immensen Erwartungsdruck. Alles soll funktionieren, man möchte sich stolz zeigen, Anerkennung bekommen und alles richtig machen. So lange, bis irgendeine Komponente aus dem Gleichgewicht fällt.

Beginnend mit der Geburt … wer erzählt denn, dass es Wochenbett-Depressionen gibt? Dass das Stillen meist nicht auf Anhieb klappt. Dass Schmerzen noch eine Weile Begleiter sind? Dass nicht alle Babys wie Porzellanpuppen aussehen und Kinder am liebsten schreien, wenn Frau selber vor Müdigkeit kaum denken kann. Wer erzählt, dass es oft Situationen gibt, in denen man sich überfordert fühlt, nicht mehr weiter weiß, man vor Hilflosigkeit wütend wird? Wer gibt zu, dass es Momente gibt, in denen wir unser Kind in dem Arm halten, versuchen zu trösten, während das Kind in uns selber weint? Wer sagt, dass das alles normal und erlaubt ist? Wer berichtet von dem Quatsch, den sich Mütter bei Spielplatz-Gesprächen selber antun, in dem sie wetteifern, welches Kind sich schneller entwickelt? Von dem Wettrennen, welches Kind begabter ist und vor dem Schuleintritt schon lesen kann? Von den Endlos-Diskussionen unter Eltern verschiedener Ansichten? Von der Peinlichkeit, eine Therapie für das Kind suchen zu müssen? Von Schulproblemen, Pubertätsproblemen, dem ersten Liebeskummer, von Abgrenzung des eigenen Kindes zur Mutter. Das erzählt vorher keiner so genau und wir würden es sehr wahrscheinlich nicht hören wollen. Wir würden gerne so lange als möglich glauben, dass ausgerechnet wir die ideale Mutter sein können. Was passiert, wenn das Leben unseres Kindes unsere eigene Vergangenheit wieder zum Leben erweckt? Die Barrieren sind da, besonders wenn eigene Geschichte, schlechte Erfahrungen, elterliche Prägung sich mischt mit dem täglichen Erleben. Wenn Sorgen auftreten, partnerschaftliche Spannungen, Existenz-Ängste, Verlust-Ängste, das normale Leben auf harte Belastungsproben stellt.

In einem Gespräch mit einer älteren Frau sagte ich einmal, dass es meinen Kindern nur gut gehen könne, wenn es mir selber gut geht. Als Antwort bekam ich von ihr zu hören, dass eine Mutter sich gefälligst zusammen zu reißen und ausschließlich für die Kinder da zu seinen habe. Eine Ansicht, die mir als junger Mutter genauso erschreckend erschien, wie damals die Aussage meiner Mutter. Meine Perspektive hatte sich geändert. Ich hatte erfahren, was es bedeutet Mutter zu sein. Jede Mutter lernt schnell die Mauern kennen, die blockieren und den Alltag, die Harmonie zum Kind empfindlich belasten können.

Jede Mutter handelt aus ihrer eigenen Geschichte heraus. So hat meine Mutter fünf Kinder und die Endpunkte der Belastbarkeit in alle Richtungen erfahren. Die ältere Frau hatte ein Kind ohne Vater groß gezogen, in einer Zeit in der ein uneheliches Kind noch als Bastard galt. Beide sprachen aus ihrem persönlichen Erleben. Ich muss nicht ihrer Meinung sein, kann ihre Beweggründe aber verstehen und nachvollziehen. So haben auch Schuldzuweisungen oder Vorwürfe Müttern gegenüber nicht den geringsten Nutzen, denn jede kann nur so handeln, wie ihre momentane Verfassung und die Umstände es erlauben. Bevor man ein Urteil über eine Mutter äußert, sollte man sehr genau hinschauen, warum etwas so ist.

Es muss einer Mutter gesellschaftlich erlaubt sein, zu sagen „Ich kann nicht mehr!“. Es darf keinem Versagen gleichkommen, sich Hilfe zu holen. Hilfe gibt es, bei Ämtern, bei freien Trägern, Initiativen und im medizinischen Bereich. Nur um Hilfe annehmen zu können, muss ich mir bewusst machen, dass ich ein Problem habe und dieses Problem seine Berechtigung hat. Ich darf nicht dem Gefühl unterliegen, dadurch versagt zu haben. Die anderen, das Umfeld, sollten genau hinschauen. Fragen, wenn sich Unstimmigkeiten abzeichnen, Hilfe anbieten, Verständnis zeigen, hinschauen und nicht weggucken. Mütter zu unterstützen, ihnen eine solide soziale Basis zu ermöglichen, sie finanziell gut aufzustellen und ihre Leistung zu würdigen und anzuerkennen, ist der primärste Kinderschutz, den eine Gesellschaft leisten kann.

Die erste Frage, die sich eine Mutter stellen sollte ist: „Was kann ich für mich tun, damit es meinem Kind gut geht!“. Und noch ein kleiner Ausflug ins Tierreich – wussten Sie, dass sich Rabenmütter noch fürsorglich um ihren Nachwuchs kümmern, selbst wenn die Jungvögel aus dem Nest gefallen sind?

„Zur Erziehung eines Kindes braucht man ein ganzes Dorf.“ besagt ein afrikanisches Sprichwort – nicht Mütter alleine, wir alle stehen in der Verantwortung Kindern gute Mütter zu geben!

Leitartikel der Homepage des Stadtteilzentrum Steglitz e.V.
vom 19. Mai 2014