Ich rieche, höre, fühle, schmecke … nur sehen kann ich nichts!

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Es sind sehr zaghafte Schritte, vorsichtig und gerade – einer nach dem anderen. Der rechte Arm ist wärmer als der Linke, also ist die Sonne rechts. Von rechts kommen die Kindergeräusche, dort ist der Spielplatz. Und auch der Schatten auf dieser Seite gibt mir eine Ahnung, wo die großen Bäume stehen. Vor mir auf dem Boden rollt eine Kugel, immer hin und her. Die ist verbunden mit einem langen Stab und der liegt in meiner Hand. Ich merke an meinen Schritten den Unterschied von Sand-, Stein- und Holzboden. Mehr habe nicht ich als Orientierungshilfe. Nur eine Brille auf den Augen, die mir vermittelt, wie sich ein Mensch fühlt, der nur noch vier Sinne zur Verfügung hat.

Meine Neugierde war geweckt. Ich hatte zuvor eine E-Mail von meiner Kollegin bekommen. Manuela schreibt nicht viel, diesmal bekam ich jedoch einen langen Text von ihr, der mir von ihrem Treffen mit Kathrin erzählte. Manuela ist die Projektleiterin im Gutshaus Lichterfelde, einem Nachbarschaftshaus. Im Rahmen der Nachbarschaftsarbeit hatte sie Kathrin kennengelernt und gemeinsam bieten sie Nachmittage an, an denen Besucher mit Kathrin in Gespräch kommen können. Kathrin ist gesetzlich blind. An diesem Nachmittag kam keiner und so kamen beide Frauen ins Gespräch.

Manuela schreibt mir darüber: „Wir bieten diese Gesprächsrunden an. Es geht um Barrierefreiheit. Was heißt es eigentlich, nicht sehen zu können, nicht hören zu können oder in einem Rollstuhl zu sitzen? Wir wollen aufklären und Austausch möglich machen. Aber wo fängt das an? Ab heute weiß ich, wo ich anfangen muss. Sensibilisieren heißt das Schlüsselwort. Kathrin hat ihren Laptop dabei. Darauf zeigt sie mir, wie sie Nachrichten schreibt und liest, bzw. wie sie ihr vorgelesen werden. Die Tastatur hat erhöhte Punkte, die ihr eine Orientierung über die Buchstaben geben. Bilder erkennt sie mittels der Audiodeskription, das ist eine akustische Bildbeschreibung. Für mich ist es faszinierend, wie sie sich so im Internet bewegen kann. Etwas, was für uns sehende Menschen selbstverständlich ist, wird für sie möglich. Ich bin vollkommen beeindruckt. 

Später erklärt Kathrin mir, wie sie sich in den Straßen bewegt. Dafür hat sie den langen Blindenstock und trotzdem ist es wie eine Abenteuerreise ins Nirgendwo. Sie erzählt von den fehlenden Gehwegmarkierungen, von den Hindernissen, die im Weg stehen und so ihre Orientierung zunichte machen. Ich kann mir nicht wirklich vorstellen, was damit gemeint ist, aber dafür hatte Kathrin eine Lösung. Sie greift in ihre Tasche und hat eine Brille in der Hand, die im ersten Moment wie eine kleine Taucherbrille aussieht, aber sie hat Tücken. Als ich die Brille aufsetze, sehe ich nichts mehr. Nur noch einen kleinen hellen Punkt. Den Ort an dem ich stehe, kenne ich seit vielen Jahren. Mit der Brille merke ich sofort meine Unsicherheit. Meine Orientierung ist wie ausgelöscht. Aber ich bekomme noch den Stock in die Hand. Ich laufe los, oder besser, ich versuche loszulaufen. Mir wird ganz heiß, ich habe Angst und fühle mich völlig hilflos, obwohl ich weiß, dass Kathrin in meiner Nähe ist.“ 

Angst und Hilflosigkeit löst die simulierte Blindheit bei Manuela aus, bei mir eher die Neugier, wie sich meine anderen Sinne bewähren. Wir können die Situation jedoch unterbrechen. Kathrin nicht – sie lebt damit, jedoch nicht von Anfang an. „Retinopathia pigmentosa“ diagnostizieren die Ärzte als sie 15 Jahre alt war. Für die Eltern ein herber Schlag, dass das jüngste der fünf Kinder mit Blindheit geschlagen sein sollte. Nur ab wann, konnte keiner vorher sagen. Informationen vom Arzt gab es nicht, die musste sie sich zusammensuchen und erfuhr so von ihrem Krankheitsbild und auch, dass nie jemand sagen konnte, wann die Blindheit so gravierend sein würde, dass ein „normales“ Leben nicht mehr möglich sein würde. Die Eltern reagierten dennoch sofort und belegten Radfahren, Rollschuh fahren oder Zeitungen austragen mit Verboten. Für eine 15-jährige junge Frau schwer zu verstehen und zu ertragen, noch ging ja alles. Erst mit 38 Jahren erlebte sie einen großen Schub, der in der Folge die Bezeichnung „gesetzlich blind“ einbrachte. Schwierig war für Kathrin die Zeit, in der sie sich zur Krankheit bekennen musste. Sie vermied Treffen in Restaurants, sie lernte Toilettengänge in der Stadt zu umgehen, aber doch standen zahlreiche Laternen im Weg, die letztendlich das Bekenntnis zur Krankheit verlangten. So war der berufliche Weg auch von Fachschulen begleitet. Über die gelernte Masseurin zur Büroleitung erlebte sie viel Abwechslung und viele Änderungen. Den Lebenspartner lernte sie schon nach der Ausbildung kennen, verlor ihn aber früh durch ein Herzversagen.

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Kathrin bei einem Vortrag über Assistenzhunde der Fürst Donnersmark Stiftung am 25. Juni 2014

Das hört sich alles nicht so wirklich prickelnd an, wäre da nicht der Mensch Kathrin. Lernt man sie kennen, sind Frustration und Resignation die letzten Vokabeln, die einem einfallen würden. Wir erleben eine Frau, die sich Platz macht, mit lauter Stimme sagt, was sie braucht, die sich einmischt und mitredet und – nicht zuletzt – lacht und einen Humor verbreitet, den sich Menschen ohne Sehbehinderung kaum in ihrer Gegenwart zutrauen würden. Kathrin ist mittendrin, mischt mit, macht mit, redet mit. Der Bezirksbehindertenbeirat, die Seniorenvertretung, das Führhundehalter-Portal, der Apple-Stammtisch, der Runde Tisch, die AG Mobilität … alle dürfen mit ihrer Wortmeldung, ob bequem oder eben meistens auch nicht, rechnen. Sie versteht sich als Multiplikator, sozusagen als Werbeplattform in eigener Sache und nutzt die sozialen Medien, meist Facebook oder die eigene Homepage um ihre Sache voranzutreiben. Die da wäre?

Kathrin möchte eine Welt, die für alle bedienbar ist. Das Wort „Inklusion“ mag sie nicht hören und hofft, dass ich meine Frage wieder vergessen, tue ich aber nicht. Sie mag Inklusion nicht, weil wir darüber sprechen müssen, dabei sollte eine für alle nutzbare Welt Selbstverständlichkeit sein. Und zu viele, die selber nicht betroffen sind, erklären uns, was Inklusion heißt. Nur erklären sie nicht, dass eine behindertengerechte Toilette für einen sehbehinderten Menschen nicht gerade das El Dorado an Hygiene ist. Das gehbehinderte, hörbehinderte und sehbehinderte Menschen völlig andere Bedürfnisse haben. Und selber sagt sie, dass es eine 100 % Barrierefreiheit nicht geben kann, dass man aber für Barrierefreiheit in den Köpfen der Menschen noch viel tun könnte.

Dazu schreibt Manuela in ihrer Mail an mich weiter: „Wir nicht körperlich behinderten Menschen können uns in der Welt behaupten. Wir können uns aber nicht in die Lage eines Menschen mit Behinderung hineinversetzen. Wie fühlt es sich an, wenn man alles abgenommen bekommt oder merkt, dass andere nicht wahrnehmen, wo ich gerade Hilfe benötige. Was ist es für ein Gefühl, wenn mein ausgebildeter Blindenführhund von Räumen oder Versammlungen ausgeschlossen ist, die ich besuchen möchte. Das, obwohl der Hund die notwendige Sicherheit und Orientierung gibt. Ich wünsche mir, dass die Menschen nicht aus Mitleid helfen, das keinem nutzt. Ich wünsche mir, dass sich die Menschen dafür interessieren, was Menschen mit Handicap brauchen. Dass sie offen auf die anderen zugehen und einfach ehrlich fragen, ob Hilfe gewünscht, notwendig oder nicht erforderlich ist. Ich werde weiter mit Kathrin sprechen, weiter versuchen andere zu sensibilisieren und weithin Gesprächsmöglichkeiten schaffen, die Menschen mit und ohne Behinderungen zusammen bringen.“ 

Wie notwendig das ist, erklärt mir Kathrin weiter. So selbstständig sie ihr Leben eingerichtet hat, gibt es immer wieder Bereiche, die alleine nicht zu bewältigen sind. So lese ich in einem Facebook Kommentar von ihr, dass sie bei einem Einkauf eine kleine Flasche Joghurt kaufte, der ja bei den Milchprodukten zu finden war und sich auch so anfühlte. Zuhause stelle sich dies jedoch, nach einem herzhaften Schluck aus der Flasche, als Ölprodukt heraus. Eigentlich zum Lachen und tragisch zugleich. Einkaufen, sagt Kathrin, sei ein sehr schwieriger Bereich. Für sehbehinderte Menschen sind Preise, Ausschilderungen und Sortiment-Änderungen kaum zu erkennen. Dort müssen sie warten und hoffen, dass entweder eine Verkäuferin, ein Verkäufer oder ein aufmerksamer Kunde Zeit hat und hilft.

Wie sensibel die ganze Geschichte ist, verstehe ich spätestens, als wir uns schon fast verabschieden. Als diese beeindruckende Frau mir erzählt, dass es Tage gibt, an denen es ihr gut geht, an denen sie Hilfe annehmen möchte und kann. Aber es gibt auch Tage, an denen sie genau diese Hilfe nicht ertragen kann. Es gibt nur eine einzige Sache, die dies Lösen kann: Wir müssen uns trauen, fragen und auf Menschen mit Behinderung zugehen, Scheuklappen abbauen, offen sein und sie in unserem Alltag willkommen heißen!

Wer mehr über Kathrin Backhaus wissen möchte, wird auf ihrer Homepage Backis Welt fündig!

Informationen über die Fürst Donnersmarck-Stiftung: „Rehabilitation, Betreuung, Förderung und Unterstützung“ von Menschen mit Behinderung in drei Arbeitsbereichen um: Rehabilitation, Touristik, Bildung.