Langeweile zum Guten nutzen

Ilka Biermann im Gespräch mit dem Geschäftsführer des Sozialverband VdK Berlin-Brandenburg, Klaus Sprenger

Ilka Biermann im Gespräch mit dem Geschäftsführer des Sozialverband VdK Berlin-Brandenburg, Klaus Sprenger

Als ich sie fragte, ob ihr je langweilig sei, antwortet sie „Ja!“ … ich stockte und staunte. Mit dieser Antwort hatte ich nicht gerechnet. Es war nicht meine erste Frage und wer Ilka Biermann eine Weile zuhört, ist der festen Überzeugung, dass dieser Frau nie langweilig sein kann. Sie löst mein Erstaunen auf: Langeweile haben, bedeutet Zeit haben und das sei für sie positiv besetzt. Hat sie Zeit, kann sie in kreative Prozesse einsteigen und damit etwas bewegen. Ihre Aufklärung überzeugt sofort und ich nehme mir vor, über diese unerwartete Erkenntnis zu reflektieren. Es ist nicht die einzige Antwort, über die ich staune. Schon ihr früherer Arbeitskollege Reiner Hoffmann bescheinigte ihr, der Zeit immer ein Stück voraus zu sein.

Ilka Biermann ist in Steglitz-Zehlendorf ganz besonders durch ihre Arbeit im Jugendamt Steglitz-Zehlendorf bekannt. 21 Jahre lang leitete sie das Jugendamt und ging im November 2012 in Pension. 21 Jahre, in denen sie dieses Amt durch Fusionierung der Bezirke und zahlreiche Neuerungen der Schulsozialarbeit, Sozialraumorientierung sowie Jugendhilfe führte. Wer sie als aktive Amtsleiterin kannte, dem war klar, dass es auch nach der Pensionierung keinen Stillstand mit ihr geben würde. Die Seniorenvertretung hatte unter anderem das Glück, auch künftig mit ihrem Engagement rechnen zu dürfen. Dort setzte sie sich bis zu diesem Jahr insbesondere in den generationsübergreifenden Bereichen ein, für die gerade sie ob ihrer früheren Tätigkeit prädestiniert war.

Aus einer aktiven Familie kommend wurde ehrenamtliches Engagement für Ilka Biermann Bestandteil ihres gesellschaftlichen Lebens. Die Mutter war im kirchlichen Frauenbund aktiv, der Vater Karnevalist, wodurch Gemeinschaft und Solidarität wichtige Bestandteile der Erziehung waren. Sozialistisch schon durch den Großvater geprägt, setze sie alle vorgelebten Ideale um – auf ihre Weise. Neben der  AG 60+ oder der AG QueerSozis sind auch die Organisation politischer Tagesfahrten ihrem Engagement zuzurechnen, das damit noch lange nicht erschöpft ist. Sie sagt von sich selber, dass sie immer offen ist, neue Ideen aufzunehmen, zu entwickeln und sich von vielem begeistern lässt. Fesselt sie eine Idee, muss sie eher Obacht geben, nicht zu sehr vorzupreschen.

So findet man sie im Verwaltungsrat der BARMER GEK. Dieses oberste Beschlussgremium der Krankenkasse setzt sich ausschließlich aus ehrenamtlichen Versicherten zusammen. In ihrem dort hinterlegten Porträt finden wir den Biermann prägenden Satz: „Man kann immer etwas für andere tun – auch im Ruhestand!“ Sie ist externe Beraterin einer integrierten Gesamtschule und unterstützt als Partnerin ein Mehrgenerationenhaus und eine Freizeiteinrichtung. Überall dort, wo Generationen zusammenkommen oder Kinder- und Jugendarbeit zum Tragen kommt, kann man ihr Engagement erwarten. Die studierte Psychologin kombiniert geschickt Profession, Berufserfahrung und eigenes Interesse, um mitgestalten zu können und die Qualität der Versorgung Hilfebedürftiger zu verändern.

Es wundert nicht weiter, dass auch der VdK auf das Engagement von Ilka Biermann zählen darf. Der Verbandsname „VdK“ war ursprünglich eine Abkürzung: Gegründet wurde der Sozialverband VdK Deutschland im Jahr 1950 unter dem Namen „Verband der Kriegsbeschädigten, Kriegshinterbliebenen und Sozialrentner Deutschlands e. V.“. In den vergangenen 60 Jahren hat der Verband sich vom ehemaligen Kriegsopferverband zum großen, modernen Sozialverband entwickelt. Heute heißt der Verband offiziell Sozialverband VdK Deutschland
e. V. Innerhalb dieses Verbandes ist Ilka Biermann gleich auf mehreren Ebenen aktiv. Den Kreisverband Steglitz-Zehlendorf unterstützt sie als Beisitzerin für die Öffentlichkeitsarbeit und den Landesverband Berlin-Brandenburg u.a. als stellvertretende Vorsitzende. Innerhalb des Verbandes arbeitet sie noch als Gesellschafterin für tandem BQG und die Ki.D.T. Kinder- und Jugendambulanz, beides Tochtergesellschaften des VdK.

Spätestens jetzt stellt sich sicherlich der ein oder andere die Frage, wann sie das alles trotz Ruhestand eigentlich macht. Ilka Biermann lacht dazu und sagt, dass alles mit der Zeit gewachsen ist. Zum VdK kam sie auf die Bitte eines Freundes und in der Art ergab sich einfach Vieles auf ihrem Weg. Sie möchte bewegen, gesellschaftlich verändern und vielleicht auch manchem in ihrem Engagement Vorbild sein. Zeigen, dass jeder auf seine Weise etwas für die Gesellschaft tun kann. Hier frage ich mich insgeheim erneut, wann Ilka Biermann Zeit hat um Langeweile zu haben. Bevor ich mir diese Frage beantworten kann, erzählt sie mir weiter, wie gerne sie in Konzerte, ins Theater oder Kabarett geht, gemeinschaftliches Kochen und Essen liebt, aber auch gerne einmal alleine ist. Ilka Biermann fasziniert und langweilig wird es mit ihr auf keinem Fall!

szs_mittelpunkt_september-2016_titelEin Beitrag aus dem Magazin „Im Mittelpunkt“ September/Oktober 2016 mit dem Leitthema „Bürgerschaftliches Engagement“
Das ganze Magazin als eBook oder interaktives Pdf kann man hier herunterladen.

Träume in Realität verwandeln

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Aus einem Wunsch wird ein Traum, aus dem Traum ein Ziel und aus dem Ziel wird Realität. Damit ist fast alles gesagt. Die jährliche Klausurtagung des Stadtteilzentrums Steglitz e.V. (SzS) steht an. 25 ProjektleiterInnen treffen sich in der Geschäftsstelle um Perspektiven des Vereins für die künftige Arbeit zu definieren. Alle freuen sich auf diesen Tag, da es nicht oft vorkommt in dieser Gruppierung gemeinsame Zeit verbringen zu können. Es sind auch gemischte Gefühle dabei, bedeutet Klausurtagung unter anderem sich kritisch mit dem Vergangenen auseinanderzusetzen. Aber: Der Geschäftsführer hat ein gemeinsames Frühstück als ersten offiziellen Tagungsordnungspunkt festgelegt, was die Stimmung erheblich fördert. Das bunte Buffet hat für jeden reichlich zu bieten und die Gelegenheit Neuigkeiten auszutauschen wird reichlich genutzt. Doch irgendwann ist auch der beste Esser gesättigt, der Erzähldrang erfüllt – es geht an die Arbeit.

Thomas Mampel ist Gründer und Geschäftsführer des gar nicht mehr so kleinen Vereins. Er kennt seine ProjektleiterInnen seit vielen Jahren. In diesem Jahr sind drei neue Gesichter dabei. Er begrüßt alle und erklärt, was es mit dem Motto des Tages auf sich hat. Räumt ein, dass er etwas nervös ist, weil er nicht weiß, ob sich seine ProjektleiterInnen auf seine Idee einlassen, ob er alles gut durchdacht hat und wie das Ergebnis des Tages sein wird. Er erläutert den Tagesablauf und wird konkreter mit dem zweiten Tagesordnungspunkt. „Wie wird das Stadtteilzentrum Steglitz e.V. im Jahr 2026 aussehen!“ Wo sieht sich jeder einzelne, wie hat sich seine berufliche Laufbahn, sein Projekt oder seine Einrichtung verändert – in 10 Jahren! Wir sind aufgefordert uns in die Zukunft zu versetzen. Uns unsere Wünsche bewusst zu machen, unsere Träume wahrzunehmen und Wunschvorstellungen zu konkretisieren. Wir haben eine Stunde Zeit unsere Gedanken dazu in irgendeiner Weise darzustellen – alles ist offen. Alle ProjektleiterInnen suchen sich alleine oder zu zweit einen ruhigen Platz um die Aufgabe zu erfüllen. Es wird geschrieben, geplant, gemalt, gelacht, auch mal durchgestrichen und geändert. Vage Vorstellungen werden mutiger, der Spaß gewinnt Oberhand, der Sinn ist verstanden. Jeder wird sich seiner eigenen Ressourcen bewusst, seiner fachlichen Qualitäten, macht sich bewusst, was ihn am Ist-Zustand stört oder ärgert. Jeder weiß, wo er hin will und mischt das alles mit wagemutigen Wunschvorstellungen. Die Stunde ist zu schnell vorbei – Träumen macht Spaß!

Klausutag_Januar-2016_SzS_2Präsentation heißt der dritte Tagesordnungspunkt: 25 ProjektleiterInnen sitzen im Kreis und wissen, dass sie bald an der Reihe sein werden. Die Spannung und Erwartungen sind zu spüren. Thomas Mampel erklärt, dass nun jedem 5 Minuten zur Verfügung stehen um vorzustellen, wo wir im Jahr 2026 sein werden. Ein Feuerwerk beginnt – die Mutigen stehen als Erste vor ihrem vertrauten Publikum. An diesem Punkt sei gewarnt – jetzt wird’s lang. Die Visionen der KollegInnen sind jedoch so spannend, dass hier keine ausgelassen wird. Wem das zu lang wird kann gerne zu dem Punkt • an den Anfang des 11. Absatz springen – aber – ihr verpasst was!

Im Jahr 2026: Der Erste ist mit den Jahren ein virtueller Geschichten-Erzähler geworden, eine Tätigkeit in der er seine Vorliebe, Prozesse zu beobachten und zu begleiten, voll ausleben kann. Unabhängig von jeglichen Grenzen erzählt er die Erfolgs-Geschichte eines ehemals kleinen Vereins, bei der alle an einem Strang zogen und wie man eine solche Geschichte verwirklichen kann. Die Zweite ist weit entfernt vom Ruhestand, der nur eine Randerscheinung ihres Lebenslaufs war. Sie ist aktiv in der Seniorenvertretung des Bezirks (Insider vermuten, sie wird sie leiten) und moderiert eine Gruppe von 30 Ehrenamtlichen, die in verschiedenen Einrichtungen aktiv sind. Finanziert wird ihre Idee von einem Programm 60+ und auch 80+. Die Gesellschaft hat also verstanden die Erfahrungen der älteren Generation zu nutzen. Im Jahr 2026 feiert sie als Ehrenvorsitzende das Jubiläum des Kunst-Kultur-Zentrums und freut sich ungemein, dass sie zum rechten Zeitpunkt ihre Nachfolge im Beruf aufgebaut und gefördert hat. Die nächste Projektleiterin hat es geschafft aus ihrer kleinen Einrichtung im sozialen Brennpunkt eine grüne Oase „lebendiges Gardening!“ zu machen. Dem ist ein multikulturelles Beratungszentrum angeschlossen, so dass der soziale Brennpunkt schon lange keiner mehr ist.

Der nächste Projektleiter ist soweit, völlig entspannt in den Ruhestand zu gehen, da er sich selber überflüssig gemacht hat. Er blickt zufrieden auf die vergangenen Jahre zurück, in denen er den ehemals kleinen Verein in eine berlinweit operierende „Stadtteil Berlin gGmbH“ umgewandelt hat. Mit den richtigen Mitarbeitern und der richtigen Strategie kann er fortan die weiteren Erfolge aus der Ferne beobachten. Auf der anderen Seite des Erdballs haben sich die Ziele einer weiteren Projektleiterin verwirklicht. In Brasilien leitet das SzS ein Kinderheim für Straßenkinder und selbstverständlich gibt es ein umfangreiches Austauschprogramm mit Deutschland. Und auch ihre Kollegin hat ein neues Projekt gegründet. „Ein Ort für Alle!“ ist ein Projekt, das Menschen hilft, sich ihrer Kräfte bewusst zu werden und diese dafür einsetzen zu können, mit Kreativität und Energie ihr selbständiges Leben zu gestalten. Der Nächste ist weltberühmt geworden, hat er doch mit seinem „Jugendfilm-Produktionshaus“ einen Oskar gewonnen (wir verraten jetzt nicht, was sein Hobby ist). Er plant weitere Filme mit seinen Jugendgruppen und sein Name wird unter der Hand schon in die Reihe großer Regisseure eingereiht.

Das unglückliche Schulsystem von 2016 wurde von unserem Kollegen aus der Schulsozialarbeit vollkommen revolutioniert. 2026 gibt es keine Rahmenlehrpläne mehr, Pädagogen sind in der Lage individuell auf Kinder einzugehen, da ihnen ein sozial-pädagogisches Beratungszentrum immer offen steht. Versteht sich von selbst, wer das leitet! Die musikalische Kindertagesstätte kann kaum mehr die Wünsche der Voranmeldungen erfüllen, seitdem die Kollegin ihre Vision der singenden Kita verwirklicht hat. Ihr Team hat sich mit den Jahren durch Umorientierung und Weiterbildungen so gestärkt, dass es nahezu eine Idealbesetzung ist und sie neue Visionen verfolgen kann. Den demographischen Wandel hat eine andere Kita-Leiterin rechtzeitig erkannt und die Weichen für eine erfolgreiche Zukunft gestellt. Aus der ehemaligen Kita ist ein Mehrgenerationen-Haus geworden, in dem sich die Generationen ergänzen können. Personalknappheit gibt es schon lange nicht mehr, da ein MitarbeiterInnen-Pool geschaffen wurde, der keinerlei Engpässe mehr entstehen lässt. Dieser Pool steht selbstverständlich allen Einrichtungen des Vereins zur Verfügung. Und auch der dritte Kita-Leiter hat rechtzeitig die Weichen für ein Projekt gestellt, dass die gesundheitsfördernden Maßnahmen für alle Mitarbeiter im Fokus hat. Wir werden ja alle nicht jünger, aber dank dieses Projektes werden MitarbeiterInnen im Jahr 2026 weniger häufig krank und können länger arbeiten. Den Chef freut’s!

Aus dem ehemaligen Jugendfreizeithaus ist ein Familien- und Therapiezentrum Lichterfelde geworden. Kinder und ihre Familien finden hier präventiv Hilfe in allen Lebensbereichen. Man kann effektiv und nachhaltig arbeiten, da die Finanzierung durch die Senatsverwaltung für Gesundheit und Soziales auf Jahre gesichert ist. Geleitet wird das Zentrum durch den ehemaligen Projektleiter eines Schülerclubs, der sich in den Jahren immer weiter entwickeln und steigern konnte – Ende nicht in Sicht. Der nächste Kollege hat sich im Netzwerk „Aus Steglitz für Berlin“ verwirklicht. Es ist eine Ausgründung aus dem ehemaligen Stadtteilzentrum. In diesem Netzwerk gibt es keine Hierarchie mehr, die Mitarbeiter freuen sich über das Bedingungslose Grundeinkommen und sie wählen ihre Leitung demokratisch. Aufgrund der freien Arbeitsbedingungen ist dieses Netzwerk in ganz Berlin sehr erfolgreich. Der SzS-Campus wird vom nächsten Kollegen vorgestellt. Er hat im Jahr 2026 die Schulen in den Grenzen von 2016 abgelöst. Man hatte verstanden, dass lebenslanges Lernen für die Förderung der Menschen von elementarster Bedeutung und ein Grundrecht ist. Schulen gibt es nur noch in freier Trägerschaft, womit Berlin eine bundesweite Vorreiterrolle übernommen hat.

Ja, man erkennt, dass das SzS sich im Jahr 2026 sehr verändert hat, was natürlich auch große Auswirkungen auf die Verwaltung des Vereins hatte. Doch die Zeichen wurden rechtzeitig erkannt und mit den Jahren eine papierlose Verwaltung geschaffen. Das digitalisierte System ist so gut, dass alle ProjektleiterInnen ortsunabhängig optimal arbeiten können. Diese Kollegin bereitet sich auf die Altersteilzeit vor, aber ihr System ist so gut, dass sie bundesweit Workshops und Vorträge anbietet, um auch andere freie Träger von dem Nutzen der Digitalisierung zu überzeugen. 2020 war ein furchtbares Jahr in der sozialen Arbeit – die öffentliche Jugendhilfe war kollabiert und ein neues System wurde geschaffen. Von diesen Erfahrungen geprägt wurde damals aus einer Koordinatorin eine „feel-good-Managerin“. Ihr Netzwerk ist in der Lage junge Familien so vortrefflich in Erziehungsfragen zu unterstützen, dass tatsächlich die Geburtenrate 2026 auf einem neuen Rekordstand ist.

Der Pachtvertrag wurde nicht verlängert. Wegen der optimalen Pflege und Nutzung ging das Gutshaus Lichterfelde in den Besitz des SzS über. Der Verein nutzte die Chance und so blickt die Projektleiterin des Hauses 2026 zufrieden von der Terrasse ihrer Einrichtung für fitte Senioren auf den generationsübergreifenden Fitness-Parcours. Seinen eigenen Quereinstieg als Projektleiter einer Notunterkunft hat ein anderer Kollege genutzt, um seine persönlichen Erfahrungen für den sozialen Bereich zu nutzen. Er hat es geschafft ein Projekt zu gründen, dass als zentrale Aufgabe hat, die Personalressourcen geflüchteter Menschen optimal einzusetzen. Ein Projekt, dessen Erfolg sich herum gesprochen hat und nicht nur die geflüchteten Menschen und das SzS profitieren. Das neue „Live-Zentrum SzS“ wird 2026 durch die Leiterin von einem mobilen Büro aus geleitet. Die mittlerweile sieben Kindertagesstätten bilden das Herzstück des Zentrums, das aber neben den Kindern, Tieren, Häusern mit Land, Garten und Seegrundstücken durchaus generationsübergreifend arbeitet. Wir arbeiten 2026 nur noch vier Tage in der Woche – ja, wir sind effektiver geworden und haben die work-live-Balance verwirklicht.

Natürlich wäre es schade, wenn wir uns bei derart hoher fachlicher Qualifikation auf das Schulwesen beschränken. Auch wir werden älter und müssen für junge Fachkräfte sorgen. So wurde die social-work-Akademie von der nächsten Projektleiterin gegründet. Der Erfolgsfaktor der Akademie ist recht einfach: Wir fungieren als Vorbilder im Umgang mit MitarbeiterInnen und Kunden. Die Akademie ist ein Aus- und Fortbildungszentrum für Sozialarbeit und Sozialmanagement. 2026 sucht man schon neue Räume. Unterstützt wird die Akademie durch den kleinen Verlag der sich im Bereich der Öffentlichkeitsarbeit gegründet hat. Derart viele fachliche Qualifikationen und Kompetenzen müssen natürlich publiziert werden. Es wurde ein ganzer Arbeitsbereich aus einer ehemals Halbtagsstelle, deren Leiterin allerdings viel unterwegs ist. Macht nichts, denn auch sie trägt in Vorträgen die Botschaft des SzS in andere Städte. Wie lange sie das machen wird, wissen wir nicht, da das Rentenalter abgeschafft wurde und jeder so lange arbeiten darf, wie er sich weiter verwirklichen kann!

Punkt • An diesem Punkt ist es 13.00 Uhr und wir kehren, gefüllt von Visionen, ins Jahr 2016 zurück. Thomas Mampel blickt beeindruckt in die Runde und ist erstaunt, welches Potential er losgelassen hat. Eine Pause ist angesagt und sofort gehen die neugierigen Gespräche los. Bei dem ein oder anderen müssen wir mehr wissen, Zustimmung und Lob äußern. Dazu sei erwähnt, dass sich wahre Talente der Vortragskunst offenbar haben. Wenig später ging es weiter mit einem sogenannten Fish-Bowl, eine Methode in einer großen Gruppe eine Diskussion zu führen. In zwei Kreisen sitzen alle beisammen. Im Inneren der Diskussionsleiter, der bei den Vorträgen eifrig mitgeschrieben hat, und drei Gesprächspartner. Ein Stuhl ist frei. Auf den freien Stuhl setzt sich immer derjenige, der zu dem Gesagten eine Frage hat. Die Gesprächspartner wechseln. So kommt jeder an die Reihe und vorher vorgestellte Visionen, Wünsche, Träume, Ziele werden genauer unter die Lupe genommen. Auch dieser Tagesordnungspunkt ist von großer Kurzweiligkeit geprägt. Die Ergebnisse werden zusammengefasst und am Ende steht die kleine Hausaufgabe, dass jeder seine Visionen schriftlich fixiert.

Gemeinsam schauen wir zum Abschluss den Film „Augenhöhe“. Ein Film mit dem Thema, wie gemeinsam die Arbeitswelt verändert werden kann. Dieser Film soll Inspiration für alle sein, die in ihrem Umfeld Impulse für eine andere Arbeitswelt setzen möchten. Passt also zu unserem Tagesthema. In einer Abschlussrunde fassen wir die Ergebnisse des Tages zusammen und haben Gelegenheit unsere persönlichen Eindrücke zu äußern. Es fällt durchweg positiv aus und wer die Runde dieser Projektleiter kennt, weiß, dass viele Visionen durchaus ernst zu nehmende Ziele sind. Thomas Mampel blickt auf einen erfüllten Tag zurück und freut sich, dass sich alle auf seine Form, diesen Tag zu gestalten, so bereitwillig eingelassen haben.

Fazit: Manch einer könnte uns für größenwahnsinnig halten. Nein, wir wollen nicht tonangebend in der sozialen Arbeit sein. Wir wollen sie zukunftsträchtig, unter Berücksichtigung aller zeitlichen Entwicklungen und Energien verbundener Menschen in der sozialen Arbeit, mitgestalten. Wenn wir beobachten welche Entwicklungen und Veränderungen allein das Stadtteilzentrum Steglitz e.V. in den letzten Jahren durchlebt hat, ist es nicht schwer sich auch künftige, rasante Entwicklungen vorzustellen. Und wie kann man einen Menschen am besten motivieren, seine optimalen Kräfte für eine gute Sache einzusetzen? Man lässt in seine Träume und Ziele verwirklichen … wir haben 2016 angefangen das Jahr 2026 vorzubereiten … und lassen garantiert von uns hören.

Leitartikel der Homepage des Stadtteilzentrum Steglitz e.V. vom 1. Februar 2016

Ich rieche, höre, fühle, schmecke … nur sehen kann ich nichts!

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Es sind sehr zaghafte Schritte, vorsichtig und gerade – einer nach dem anderen. Der rechte Arm ist wärmer als der Linke, also ist die Sonne rechts. Von rechts kommen die Kindergeräusche, dort ist der Spielplatz. Und auch der Schatten auf dieser Seite gibt mir eine Ahnung, wo die großen Bäume stehen. Vor mir auf dem Boden rollt eine Kugel, immer hin und her. Die ist verbunden mit einem langen Stab und der liegt in meiner Hand. Ich merke an meinen Schritten den Unterschied von Sand-, Stein- und Holzboden. Mehr habe nicht ich als Orientierungshilfe. Nur eine Brille auf den Augen, die mir vermittelt, wie sich ein Mensch fühlt, der nur noch vier Sinne zur Verfügung hat.

Meine Neugierde war geweckt. Ich hatte zuvor eine E-Mail von meiner Kollegin bekommen. Manuela schreibt nicht viel, diesmal bekam ich jedoch einen langen Text von ihr, der mir von ihrem Treffen mit Kathrin erzählte. Manuela ist die Projektleiterin im Gutshaus Lichterfelde, einem Nachbarschaftshaus. Im Rahmen der Nachbarschaftsarbeit hatte sie Kathrin kennengelernt und gemeinsam bieten sie Nachmittage an, an denen Besucher mit Kathrin in Gespräch kommen können. Kathrin ist gesetzlich blind. An diesem Nachmittag kam keiner und so kamen beide Frauen ins Gespräch.

Manuela schreibt mir darüber: „Wir bieten diese Gesprächsrunden an. Es geht um Barrierefreiheit. Was heißt es eigentlich, nicht sehen zu können, nicht hören zu können oder in einem Rollstuhl zu sitzen? Wir wollen aufklären und Austausch möglich machen. Aber wo fängt das an? Ab heute weiß ich, wo ich anfangen muss. Sensibilisieren heißt das Schlüsselwort. Kathrin hat ihren Laptop dabei. Darauf zeigt sie mir, wie sie Nachrichten schreibt und liest, bzw. wie sie ihr vorgelesen werden. Die Tastatur hat erhöhte Punkte, die ihr eine Orientierung über die Buchstaben geben. Bilder erkennt sie mittels der Audiodeskription, das ist eine akustische Bildbeschreibung. Für mich ist es faszinierend, wie sie sich so im Internet bewegen kann. Etwas, was für uns sehende Menschen selbstverständlich ist, wird für sie möglich. Ich bin vollkommen beeindruckt. 

Später erklärt Kathrin mir, wie sie sich in den Straßen bewegt. Dafür hat sie den langen Blindenstock und trotzdem ist es wie eine Abenteuerreise ins Nirgendwo. Sie erzählt von den fehlenden Gehwegmarkierungen, von den Hindernissen, die im Weg stehen und so ihre Orientierung zunichte machen. Ich kann mir nicht wirklich vorstellen, was damit gemeint ist, aber dafür hatte Kathrin eine Lösung. Sie greift in ihre Tasche und hat eine Brille in der Hand, die im ersten Moment wie eine kleine Taucherbrille aussieht, aber sie hat Tücken. Als ich die Brille aufsetze, sehe ich nichts mehr. Nur noch einen kleinen hellen Punkt. Den Ort an dem ich stehe, kenne ich seit vielen Jahren. Mit der Brille merke ich sofort meine Unsicherheit. Meine Orientierung ist wie ausgelöscht. Aber ich bekomme noch den Stock in die Hand. Ich laufe los, oder besser, ich versuche loszulaufen. Mir wird ganz heiß, ich habe Angst und fühle mich völlig hilflos, obwohl ich weiß, dass Kathrin in meiner Nähe ist.“ 

Angst und Hilflosigkeit löst die simulierte Blindheit bei Manuela aus, bei mir eher die Neugier, wie sich meine anderen Sinne bewähren. Wir können die Situation jedoch unterbrechen. Kathrin nicht – sie lebt damit, jedoch nicht von Anfang an. „Retinopathia pigmentosa“ diagnostizieren die Ärzte als sie 15 Jahre alt war. Für die Eltern ein herber Schlag, dass das jüngste der fünf Kinder mit Blindheit geschlagen sein sollte. Nur ab wann, konnte keiner vorher sagen. Informationen vom Arzt gab es nicht, die musste sie sich zusammensuchen und erfuhr so von ihrem Krankheitsbild und auch, dass nie jemand sagen konnte, wann die Blindheit so gravierend sein würde, dass ein „normales“ Leben nicht mehr möglich sein würde. Die Eltern reagierten dennoch sofort und belegten Radfahren, Rollschuh fahren oder Zeitungen austragen mit Verboten. Für eine 15-jährige junge Frau schwer zu verstehen und zu ertragen, noch ging ja alles. Erst mit 38 Jahren erlebte sie einen großen Schub, der in der Folge die Bezeichnung „gesetzlich blind“ einbrachte. Schwierig war für Kathrin die Zeit, in der sie sich zur Krankheit bekennen musste. Sie vermied Treffen in Restaurants, sie lernte Toilettengänge in der Stadt zu umgehen, aber doch standen zahlreiche Laternen im Weg, die letztendlich das Bekenntnis zur Krankheit verlangten. So war der berufliche Weg auch von Fachschulen begleitet. Über die gelernte Masseurin zur Büroleitung erlebte sie viel Abwechslung und viele Änderungen. Den Lebenspartner lernte sie schon nach der Ausbildung kennen, verlor ihn aber früh durch ein Herzversagen.

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Kathrin bei einem Vortrag über Assistenzhunde der Fürst Donnersmark Stiftung am 25. Juni 2014

Das hört sich alles nicht so wirklich prickelnd an, wäre da nicht der Mensch Kathrin. Lernt man sie kennen, sind Frustration und Resignation die letzten Vokabeln, die einem einfallen würden. Wir erleben eine Frau, die sich Platz macht, mit lauter Stimme sagt, was sie braucht, die sich einmischt und mitredet und – nicht zuletzt – lacht und einen Humor verbreitet, den sich Menschen ohne Sehbehinderung kaum in ihrer Gegenwart zutrauen würden. Kathrin ist mittendrin, mischt mit, macht mit, redet mit. Der Bezirksbehindertenbeirat, die Seniorenvertretung, das Führhundehalter-Portal, der Apple-Stammtisch, der Runde Tisch, die AG Mobilität … alle dürfen mit ihrer Wortmeldung, ob bequem oder eben meistens auch nicht, rechnen. Sie versteht sich als Multiplikator, sozusagen als Werbeplattform in eigener Sache und nutzt die sozialen Medien, meist Facebook oder die eigene Homepage um ihre Sache voranzutreiben. Die da wäre?

Kathrin möchte eine Welt, die für alle bedienbar ist. Das Wort „Inklusion“ mag sie nicht hören und hofft, dass ich meine Frage wieder vergessen, tue ich aber nicht. Sie mag Inklusion nicht, weil wir darüber sprechen müssen, dabei sollte eine für alle nutzbare Welt Selbstverständlichkeit sein. Und zu viele, die selber nicht betroffen sind, erklären uns, was Inklusion heißt. Nur erklären sie nicht, dass eine behindertengerechte Toilette für einen sehbehinderten Menschen nicht gerade das El Dorado an Hygiene ist. Das gehbehinderte, hörbehinderte und sehbehinderte Menschen völlig andere Bedürfnisse haben. Und selber sagt sie, dass es eine 100 % Barrierefreiheit nicht geben kann, dass man aber für Barrierefreiheit in den Köpfen der Menschen noch viel tun könnte.

Dazu schreibt Manuela in ihrer Mail an mich weiter: „Wir nicht körperlich behinderten Menschen können uns in der Welt behaupten. Wir können uns aber nicht in die Lage eines Menschen mit Behinderung hineinversetzen. Wie fühlt es sich an, wenn man alles abgenommen bekommt oder merkt, dass andere nicht wahrnehmen, wo ich gerade Hilfe benötige. Was ist es für ein Gefühl, wenn mein ausgebildeter Blindenführhund von Räumen oder Versammlungen ausgeschlossen ist, die ich besuchen möchte. Das, obwohl der Hund die notwendige Sicherheit und Orientierung gibt. Ich wünsche mir, dass die Menschen nicht aus Mitleid helfen, das keinem nutzt. Ich wünsche mir, dass sich die Menschen dafür interessieren, was Menschen mit Handicap brauchen. Dass sie offen auf die anderen zugehen und einfach ehrlich fragen, ob Hilfe gewünscht, notwendig oder nicht erforderlich ist. Ich werde weiter mit Kathrin sprechen, weiter versuchen andere zu sensibilisieren und weithin Gesprächsmöglichkeiten schaffen, die Menschen mit und ohne Behinderungen zusammen bringen.“ 

Wie notwendig das ist, erklärt mir Kathrin weiter. So selbstständig sie ihr Leben eingerichtet hat, gibt es immer wieder Bereiche, die alleine nicht zu bewältigen sind. So lese ich in einem Facebook Kommentar von ihr, dass sie bei einem Einkauf eine kleine Flasche Joghurt kaufte, der ja bei den Milchprodukten zu finden war und sich auch so anfühlte. Zuhause stelle sich dies jedoch, nach einem herzhaften Schluck aus der Flasche, als Ölprodukt heraus. Eigentlich zum Lachen und tragisch zugleich. Einkaufen, sagt Kathrin, sei ein sehr schwieriger Bereich. Für sehbehinderte Menschen sind Preise, Ausschilderungen und Sortiment-Änderungen kaum zu erkennen. Dort müssen sie warten und hoffen, dass entweder eine Verkäuferin, ein Verkäufer oder ein aufmerksamer Kunde Zeit hat und hilft.

Wie sensibel die ganze Geschichte ist, verstehe ich spätestens, als wir uns schon fast verabschieden. Als diese beeindruckende Frau mir erzählt, dass es Tage gibt, an denen es ihr gut geht, an denen sie Hilfe annehmen möchte und kann. Aber es gibt auch Tage, an denen sie genau diese Hilfe nicht ertragen kann. Es gibt nur eine einzige Sache, die dies Lösen kann: Wir müssen uns trauen, fragen und auf Menschen mit Behinderung zugehen, Scheuklappen abbauen, offen sein und sie in unserem Alltag willkommen heißen!

Wer mehr über Kathrin Backhaus wissen möchte, wird auf ihrer Homepage Backis Welt fündig!

Informationen über die Fürst Donnersmarck-Stiftung: „Rehabilitation, Betreuung, Förderung und Unterstützung“ von Menschen mit Behinderung in drei Arbeitsbereichen um: Rehabilitation, Touristik, Bildung.