Schreiben gegen Rechts – ein Buch der Zuversicht!

Schreiben gegen Rechts

Eine Momentaufnahme in Berlin: Ich gehe in die Markthalle, kaufe beim Wurststand Salami am Stück. Der Verkäufer, der mir sehr freundlich mein Rückgeld gibt, hat asiatische Augen. Die Steinpilze beim Gemüsehändler bekomme ich von einem offensichtlich türkischen Mitbürger. Die Bäckereiverkäuferin antwortet mir in breitestem Schwäbisch. Nachher ruhe ich mich im Café aus. Dort sitzen an einem Tisch englischsprachige Studenten. Am nächsten Tisch unterhalten sich ein deutsches Paar und ein Mann mit holländischem Akzent. Als ich später in den Bus einsteige, lasse ich einer Mutter, die ein Kopftuch trägt, mit ihren Kindern den Vortritt und den Busfahrer kann ich von seinem nationalen Hintergrund her nicht einschätzen. Zuhause angekommen treffe ich vor der Haustür meinen syrischen Nachbarn und grüße ihn herzlich. Kaum habe ich die Haustür hinter mir geschlossen, ruft mich meine Schwägerin an, die aus Kenia stammt. Das ist Realität in Deutschland.

Eine Momentaufnahme nach der Bundestagswahl: Die einen feiern einen für sie großartigen Sieg. 72 Jahre nach Kriegsende zieht eine rechtsgerichtete Partei in den Bundestag ein. Die anderen sind entrüstet und können kaum glauben, was da passiert. Etablierte Parteien und Medien gehen auf Ursachensuche und ringen sich fadenscheinige Begründungen ab. Viele üben sich in Gleichgültigkeit und der Hoffnung, dass das schon wieder vorbeigehen wird. Was haben wir eigentlich bei dieser Wahl erwartet? Dass die rechteste aller Parteien tatsächlich unter fünf Prozent bleibt? Dass es vielleicht nur 6 oder 7 Prozent werden? Und dann? Wäre es weniger schlimm gewesen? Haben wir nicht, wenn wir ehrlich sind, alle gewusst, dass diese gewisse Partei, die eben keine Alternative ist, einen Wahlsieg feiern wird, um den einen oder anderen Prozentpunkt hin oder her?

Lange war klar, dass Probleme in unserem Land nicht rechtzeitig aufgegriffen, lange verschleppt wurden und Unzufriedenheit siegt. Für diese Unzufriedenheit wurde zu lange die Flüchtlingspolitik als Platzhalter hergenommen, ohne zu merken, dass die Probleme viel tiefer sitzen. Zu viele fühlen sich abgehängt in einer Gesellschaft, die sich stolz Sozialstaat und Wirtschaftsmacht nennt und doch das steigende Armutsrisiko zulässt. Zu viele fühlen sich nicht zugehörig, trotz dessen, dass es die Mauer schon 28 Jahre nicht mehr gibt.

Zudem haben wir gewusst, wenn wir ehrlich bleiben, dass rechtes Gedankengut immer unter uns war. Nach dem 2. Weltkrieg und in all den Jahren danach. Begriffe wie Kriegskinder und Kriegsenkel werden erst jetzt aufgearbeitet, in einer Zeit, in der die Kriegskindergeneration langsam von uns geht. Wurden die Kriegsenkel im Schulunterricht mit der Geschichte der Nationalsozialisten überfüttert, können viele Jugendliche heute nicht einmal mehr erzählen, warum sich vierzig Jahre eine Mauer durch Deutschland zog. Menschen mit rechtem Gedankengut waren immer unter uns, konnten sich aber in etablierten Parteien wiederfinden. Erst als sich die etablierten Parteien auf die politische Mitte zu bewegten und sich Flüchtlingen öffneten, brauchten Menschen mit ihrem rechten Gedankengut eine neue Partei, die ihnen eine Heimat gibt. Die fand sich und es wurde wieder gesellschaftsfähig rechte Gedanken öffentlich und ohne Scham zu brüllen. Lange haben wir skeptisch über die Landesgrenzen geschaut, in Länder, die alle mit rechten Parteien haderten und gejubelt, wenn diese keine Mehrheiten gewinnen konnten. Wir haben mit Entsetzen die Wahl des amerikanischen Präsidenten beobachtet, der seinen Nationalismus seither dummdreist verbreitet. Nun hat es uns selber getroffen … mit Abgeordneten im Bundestag, die einem Wahlprogramm folgen, das wundern lässt, warum es nur eine einzige Stimme bekommen hat.

Ich habe lange gebraucht um es so anzuerkennen wie es ist: Die ewig Gestrigen spannen populistische Parolen vor ihren Karren und gehen auf Stimmenfang bei den ewig Unzufriedenen. Politiker kümmern sich auch nach der Wahl eher um ihren politischen Einfluss, als den Menschen einmal klar zu signalisieren, dass sie es verstanden haben und sich um die Probleme der kleinen Leute kümmern und zuhören werden. Medien kümmern sich um ihre Zugriffszahlen, füttern uns mit Negativschlagzeilen und bieten den Rechten eine Bühne, die ihnen nicht zusteht. Es waren 12,6 Prozent  … nur 12,6 Prozent oder schon 12,6 Prozent … das haben wir alle künftig in der Hand.

Die Dekadenz mit der wir hier unseren Wohlstand ausleben ist für mich der Punkt, der mir am meisten zu schaffen macht. Wir erleben einen Wohlstand, der sich durch 72 Jahre Frieden in dieser Region aufgebaut hat. Wir leben in einem der sichersten und reichsten Ländern der Welt. Unsere Waffen liefern wir in fremde Länder – sollen sie sich doch die Köpfe einschlagen, solange wir daran verdienen. Wir schotten unseren Reichtum vor denen ab, deren Länder durch Kriege zerstört sind und keine Sicherheit mehr bieten. Wir schließen unsere Grenzen, wenn heimatlose Menschen bei uns Schutz suchen. Wir bewerten, dass das Verhungern kein wirklicher Asylgrund bei uns ist. Und wenn wir als großartige Nation bei deren Aufbau wieder mithelfen, ist nicht selten der Gedanke der Bereicherung dabei. Wir könnten tausende Menschen noch zu uns reinlassen ohne das Geringste zu entbehren. Wenn ich auf die Zahlen der Zwangswanderungen nach dem 2. Weltkrieg schaue, staune ich, dass wir überhaupt über Obergrenzen debattieren. Wir erlauben uns zu bewerten, dass allein unsere Kultur die einzig richtige ist. Lassen aber zu, dass Konzerne auf fremden Kontinenten selbst Wasser als Grundrecht den Menschen vorenthalten. Das Niveau auf dem wir klagen, ist so unglaublich hoch, dass nationalsozialistische Gedanken schon irrational wirken. Die verschobene Realität nationalistischer Menschen so widersinnig und weltfremd, dass man schon fast verzweifeln müsste.

Das tun wir aber nicht – Verzweiflung hat noch nie jemandem genutzt. Ich muss was tun und ich brauche die Gemeinschaft der Menschen, die diese Probleme sehen, aber dennoch an das Gute in der Welt glauben. Es ist mir schon immer schwer gefallen meinen Mund zu halten und ich will es auch gar nicht. Es hat so unglaublich gut getan den Rückhalt zu spüren als ich 2016 zur Blogparade „Schreiben gegen Rechts“ aufgerufen habe. Es kamen 81 wunderbare Beiträge zusammen, die auch heute alle aktuell sind. Das möchte ich gerne mit euch allen weiterführen. Waren es vor einem Jahre die Flüchtlingszahlen, die in aller Munde waren, ist es heute das stärker werden der Rechten. Nehmen wir ihnen die Bühne und geben sie unseren Idealen zurück. Öffnen wir den Blick für Mitmenschlichkeit, eine multikulturelle Gesellschaft und eine Welt, die zusammenrückt:

Lasst uns wieder Beiträge sammeln in einer offenen Blogparade. Offen in der Hinsicht, dass sie nicht zeitlich begrenzt ist. Beteiligt euch mit Beiträgen, die Geschichten von multikulturellem Zusammenleben erzählen. Beiträge über Fakten, die positive Beispiele einer offenen Gesellschaft zeigen. Erzählt von Initiativen und gelungenen Projekten aus der Flüchtlingsarbeit. Erzählt von eurem Untermieter, der erst mit der Zeit eure Worte verstand. Berichtet von Ereignissen über Landesgrenzen hinweg. Beteiligt euch mit Gedichten oder Bildern, die eine bunte, aber eben die tatsächliche Realität in anderen Ländern und unserem Land zeigen. Überlegt, was jeder einzelne von uns aktiv tun kann, um den Rechten ihren Platz zu weisen. Es gibt so wunderbare Möglichkeiten von einer offenen, freien und bunten Gesellschaft zu erzählen. Bedient euch nicht der Sprache der Populisten und der Rechten. Zeigt, dass man Anliegen, Proteste oder Bedenken durchaus respektvoll und konstruktiv darstellen kann. Ich werde keine Beiträge bewerten oder auswählen. Ich fasse sie zusammen.

Veröffentlicht eure Beiträge in eurem Blog mit der Verlinkungen zu diesem Aufruf. Hier setzt ihr euren Link ein, damit er allen zugänglich wird. Ich sammle bis zu einhundert Beiträge und erstelle daraus wieder ein Buch. Dieses Buch ist allen zugänglich, die es lesen möchten. Niemand verdient daran. Es soll ein Buch werden, das einen klaren Standpunkt vermittelt. Ein Buch, dass Bewusstsein schafft. Ein Buch, dass Hoffnung schenkt – ein „Buch der Zuversicht!“.

Ich freue mich von euch zu hören … erzählt anderen davon, denn es geht weiter mit dem „Schreiben gegen Rechts – für Toleranz und Vielfalt!“

Sie spielen immer …

annaschmidt-berlin.com_kartenspiel1Beate ist meine Nachbarin – Büronachbarin. Wir sind beide Mütter, erinnern uns gerne an die gleiche weltbeste Kita, in der unsere Kinder waren und haben mit unseren Familien und Häuschen auch so viele gemeinsame Themen. Immer mal wieder, wenn ich einen Beitrag im Blog veröffentlicht habe, kommt Beate zu mir rüber und gibt mir ihre Rückmeldungen dazu. Rückmeldungen, auf die ich nicht verzichten möchte, weil sie mich weiter bringen. Oder sie gibt mir den Denkanstoß zu einem Beitrag. Zum Beispiel fragte sie mich einmal „Was kostet ein Menschenleben!“, weshalb der Beitrag entstand. Als ich „Nur alte Familiengeschichten“ veröffentlicht hatte, dauerte es nicht lange bis sie zu mir rüber kam und meinte, sie hätte mir etwas mitgebracht. In ihrem Büro zeigte sie mir ein altes Fotoalbum der Eltern mit dem Bild der Karten spielenden Kindern in den Ruinen. Ich war sofort von diesem dem Bild fasziniert und wollte mehr darüber wissen. Das hat Beate mir dann auch erzählt … natürlich nicht im Büro. 😉

Das Foto zeigt fünf spielende Kinder in einem Haufen von Trümmern, von denen ein umgestürzter Mauerblock als Kartentisch dient. Die Kinder scheinen im Spiel versunken, als ob sie in einem ganz normalen Zimmer an einem Tisch sitzen und das Drumherum keine Rolle spielt. Die Szene könnte in jeder Zeit (seit dem es Spielkarten gibt) in jedem Kinderzimmer ablaufen, nur gab es in der Zeit keine intakten Kinderzimmer, wenn es denn überhaupt Zimmer gab. Der Ort ist die Ecke vom Hindenburgdamm zur Manteuffelstraße in Berlin Lichterfelde. Das ist für mich ebenso berührend, weil wir zwei Querstraßen weiter wohnen. Ich kenne die Ecke seit vielen Jahren. Heute erinnert nichts mehr daran, dass hier einmal alles in Trümmern lag. Wolf Hantschel, der Vater von Beate, ist der Junge ganz links. Er hatte dazu erzählt, dass die Kinder hier Karten spielten als ein Fotograf, Herr Bratke, von der Arbeit nach Hause kam. Als er die Kinder sah, fragte er, ob sie eine kleine Weile warten würden damit er seinen Fotoapparat holen könne um sie zu fotografieren. Wie wir sehen, taten die Kinder das auch. Herr Bratke wohnte damals in der gegenüberliegenden Straßenseite, allerdings war im Internet nichts mehr über ihn zu finden. Wohl aber über den Ort: Ich fragte Wolfgang Holtz, ein Heimathistoriker am Ort, der mit unglaublichen Wissen über die Geschichte des Bezirks immer wieder fasziniert. Aus seinem Archiv bekam ich zwei Bilder. Die eine Postkarte zeigt den Hindenburgdamm 1928 … ich wusste nicht, dass hier einmal eine Straßenbahn fuhr und man sieht die wunderschönen Häuser, die damals die Straße säumten. Die zweite Postkarte, am 14.8.1941 abgestempelt, zeigt genau die gegenüberliegende Ecke des Bildes mit den spielenden Kindern. Hätten die Kinder aufgeschaut, hätten sie die Gaststätte „Alt Lichterfelde“ gesehen, in dem Haus das heute noch dort steht, nur nennt die Gaststätte sich nicht mehr so. Wir gehen gerne dort hin und wieder essen.

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Außer den Fakten hat Beates Vater jedoch mehr aus der Zeit erzählt und ich kann mir vorstellen, wie gerne und dankbar die Tochter ihm zuhörte. Er erzählte vom Murmelspiel bei dem ein einfaches Loch im Boden als Tor ausreichte. Er erzählte von den Fahrradspeichen, die als Reifen mit einem Stock die Straße entlang getrieben wurden. Kinder in der Nachkriegszeit mussten erfinderisch sein. Hinkelstein mit Steinen spielen war ein leichtes, Stelzen wurden selbst gebastelt. Fand sich nichts zum Spielen, wurde in den Trümmern, von denen es reichlich gab, nach brauchbaren Gegenständen gesucht. So erzählte der Vater, dass sie ein vergrabenes Bajonett und einen Säbel fanden, mit denen man wunderbar fiktive Kämpfe fechten konnte. Mussten sie nach Hause, wurden die Waffen in einer Ruine in einer Schornsteinklappe versteckt. Irgendwann hat sie aber ein anderer gefunden und mitgenommen. Langweilig wurde es trotzdem nicht. Die Kinder sammelten alte Lumpen, die sie bei Lumpenpiefchen abgeben konnte. Das wurde nach Gewicht mit ein paar Groschen entlohnt. Also beschwerten sie ihre Lumpensammlung mit Steinen, was natürlich nur funktionierte bis Lumpenpiefchen es merkte. Zu finden gab es dennoch genug und andere Einnahmequellen gab es auch. Als sie eine alte Badewanne fanden, brachten sie diese zum Schrotthändler, was ebenso belohnt wurde. Schnell war ihnen klar, dass daran mehr zu verdienen war. So holten sie die Wanne nachts wieder ab, zersägten sie und veräußerten sie bei eben dem Händler erneut. Ein anderes Ziel der Beschäftigung war der Schuhladen. Eine Freundin bat den Vater dort hinzugehen um Tante Martha’s Schuhe abzuholen. Als er im Laden danach fragte, wurde der Schuster äußerst ungnädig und der Vater fand heraus, dass er der fünfte war, den die Freundin dorthin geschickt hatte um Tante Martha’s Schuhe abzuholen. Wir können uns das Lachen der Freundin über den Vater und seine Vorgänger bestens vorstellen. Der Kreis in dem die Kinder sich bewegten, nach brauchbaren Dingen suchten und ihr Spiel ausweiteten war groß. Es gab niemanden, der fragte wo sie waren. So fanden sie am Teltowkanal eine Ente und fingen sie ein. Unter der Jacke wurde die Ente in Richtung nach Hause getragen, aber der Hunger machte den Besuch beim Bäcker notwendig. Durch ein Missgeschick konnte das Tier sich befreien, woraufhin ein kurzweiliger Wettlauf im Kreis zwischen Ente, Kindern und Bäcker entstand.

Das sind Erinnerungen vom Vater an die Tochter weitergegeben, die auch die Enkelkinder erfahren und weitergetragen werden. Erinnerungen, die uns verstehen lassen, wie es Kindern damals ergangen ist. Kinderspiele, die sich heute kaum einer noch vorstellen kann, in einer Welt, in der wir alles haben. Erinnerungen, die uns schmunzeln lassen. Und doch zeigt es nur die eine Seite der damaligen Kinderwelt. Diese Kinder auf dem Bild haben einen Krieg erlebt, sind in ihn hineingeboren worden und waren erst am Beginn eines Weges in ein einigermaßen geregeltes Leben. Sie hatten keine Eltern, die sich von morgens bis abends um sie kümmern konnten. Die Eltern waren selber mit sich und dem Überleben der Familie aus- und belastet. Bekannt ist, wie viel Munition und Waffen in den Trümmern und Ruinen lagen. Das war für Kinder natürlich ein besonderer Reiz damit zu spielen, wenn es ordentlich knallt. Auch in meiner Familie gibt es die Geschichte vom Vater der als Junge eine LKW-Ladung mit Munition unbrauchbar machte. Nur ist das nicht immer gut ausgegangen. Es gab niemanden, der Zeit hatte zu fragen, wo die Kinder sind und mit was sie sich die Zeit vertrieben. Kinder waren in der Zeit auf sich selbst gestellt – eine harte und lehrreiche Schule des Lebens.

Mich persönlich berührt das Foto sehr. Es ist nicht irgendein Bild aus der Nachkriegszeit. Es zeigt damalige Kinder, die hier in unmittelbarer Umgebung gespielt haben. In einer Straße, die ich kenne. Die eigentliche Szene des Kartenspiels ist real und gleichzeitig so unwirklich in dem Trümmerhaufen, in dem sie spielt. Schließlich zeigt sie auch die Bedingungen, in denen die Kinder von damals aufwuchsen. Weit entfernt von einer heilen Welt wie wir sie heute kennen. Automatisch gehen die Gedanken weiter, wie das Zuhause der Kinder wohl ausgesehen haben mag. Hatten sie eine Schule oder lag auch die in Trümmern. Hatten sie einen geregelten Tagesablauf? Was haben sie vorher erlebt? Waren ihre Familie noch vollständig? Was mussten sie alles verarbeiten? Was ist aus ihnen geworden und was machen sie heute? Wolf Hantschel ist Vater geworden und ist heute noch aktiver Opa, der erzählen kann! 😃

Eine andere kleine Erinnerung kam mir als ich das Bild sah: Als Kind wohnte ich mit meiner Familie in einer kleinen Stadt. In unmittelbarer Nähe lag ein Ruinengelände. Uns Kindern war es streng verboten dort hinzugehen, aber der Zaun hatte ein Loch. Natürlich haben wir dort Nachmittage verbracht. Einige Trümmersteine lagen so, dass sie eine wunderbare Höhle bildeten. Heute mag ich mir gar nicht vorstellen, was gewesen wäre, hätte sich ein Block verschoben. Ich kann mich aber an den Reiz und Spaß erinnern, an die Versunkenheit im Spiel mit meinen Freunden. Kinder brauchen das Spiel, brauchen die Möglichkeit in Rollen oder Welten zu versinken, die mit der Realität nichts zu tun haben. Brauchen es ganz besonders in schweren Zeiten. Kinder spielen immer … wie schön, wenn jemand da ist, der – mit oder ohne Bild – erzählen kann wie, was und wo er früher gespielt hat!

Träume in Realität verwandeln

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Aus einem Wunsch wird ein Traum, aus dem Traum ein Ziel und aus dem Ziel wird Realität. Damit ist fast alles gesagt. Die jährliche Klausurtagung des Stadtteilzentrums Steglitz e.V. (SzS) steht an. 25 ProjektleiterInnen treffen sich in der Geschäftsstelle um Perspektiven des Vereins für die künftige Arbeit zu definieren. Alle freuen sich auf diesen Tag, da es nicht oft vorkommt in dieser Gruppierung gemeinsame Zeit verbringen zu können. Es sind auch gemischte Gefühle dabei, bedeutet Klausurtagung unter anderem sich kritisch mit dem Vergangenen auseinanderzusetzen. Aber: Der Geschäftsführer hat ein gemeinsames Frühstück als ersten offiziellen Tagungsordnungspunkt festgelegt, was die Stimmung erheblich fördert. Das bunte Buffet hat für jeden reichlich zu bieten und die Gelegenheit Neuigkeiten auszutauschen wird reichlich genutzt. Doch irgendwann ist auch der beste Esser gesättigt, der Erzähldrang erfüllt – es geht an die Arbeit.

Thomas Mampel ist Gründer und Geschäftsführer des gar nicht mehr so kleinen Vereins. Er kennt seine ProjektleiterInnen seit vielen Jahren. In diesem Jahr sind drei neue Gesichter dabei. Er begrüßt alle und erklärt, was es mit dem Motto des Tages auf sich hat. Räumt ein, dass er etwas nervös ist, weil er nicht weiß, ob sich seine ProjektleiterInnen auf seine Idee einlassen, ob er alles gut durchdacht hat und wie das Ergebnis des Tages sein wird. Er erläutert den Tagesablauf und wird konkreter mit dem zweiten Tagesordnungspunkt. „Wie wird das Stadtteilzentrum Steglitz e.V. im Jahr 2026 aussehen!“ Wo sieht sich jeder einzelne, wie hat sich seine berufliche Laufbahn, sein Projekt oder seine Einrichtung verändert – in 10 Jahren! Wir sind aufgefordert uns in die Zukunft zu versetzen. Uns unsere Wünsche bewusst zu machen, unsere Träume wahrzunehmen und Wunschvorstellungen zu konkretisieren. Wir haben eine Stunde Zeit unsere Gedanken dazu in irgendeiner Weise darzustellen – alles ist offen. Alle ProjektleiterInnen suchen sich alleine oder zu zweit einen ruhigen Platz um die Aufgabe zu erfüllen. Es wird geschrieben, geplant, gemalt, gelacht, auch mal durchgestrichen und geändert. Vage Vorstellungen werden mutiger, der Spaß gewinnt Oberhand, der Sinn ist verstanden. Jeder wird sich seiner eigenen Ressourcen bewusst, seiner fachlichen Qualitäten, macht sich bewusst, was ihn am Ist-Zustand stört oder ärgert. Jeder weiß, wo er hin will und mischt das alles mit wagemutigen Wunschvorstellungen. Die Stunde ist zu schnell vorbei – Träumen macht Spaß!

Klausutag_Januar-2016_SzS_2Präsentation heißt der dritte Tagesordnungspunkt: 25 ProjektleiterInnen sitzen im Kreis und wissen, dass sie bald an der Reihe sein werden. Die Spannung und Erwartungen sind zu spüren. Thomas Mampel erklärt, dass nun jedem 5 Minuten zur Verfügung stehen um vorzustellen, wo wir im Jahr 2026 sein werden. Ein Feuerwerk beginnt – die Mutigen stehen als Erste vor ihrem vertrauten Publikum. An diesem Punkt sei gewarnt – jetzt wird’s lang. Die Visionen der KollegInnen sind jedoch so spannend, dass hier keine ausgelassen wird. Wem das zu lang wird kann gerne zu dem Punkt • an den Anfang des 11. Absatz springen – aber – ihr verpasst was!

Im Jahr 2026: Der Erste ist mit den Jahren ein virtueller Geschichten-Erzähler geworden, eine Tätigkeit in der er seine Vorliebe, Prozesse zu beobachten und zu begleiten, voll ausleben kann. Unabhängig von jeglichen Grenzen erzählt er die Erfolgs-Geschichte eines ehemals kleinen Vereins, bei der alle an einem Strang zogen und wie man eine solche Geschichte verwirklichen kann. Die Zweite ist weit entfernt vom Ruhestand, der nur eine Randerscheinung ihres Lebenslaufs war. Sie ist aktiv in der Seniorenvertretung des Bezirks (Insider vermuten, sie wird sie leiten) und moderiert eine Gruppe von 30 Ehrenamtlichen, die in verschiedenen Einrichtungen aktiv sind. Finanziert wird ihre Idee von einem Programm 60+ und auch 80+. Die Gesellschaft hat also verstanden die Erfahrungen der älteren Generation zu nutzen. Im Jahr 2026 feiert sie als Ehrenvorsitzende das Jubiläum des Kunst-Kultur-Zentrums und freut sich ungemein, dass sie zum rechten Zeitpunkt ihre Nachfolge im Beruf aufgebaut und gefördert hat. Die nächste Projektleiterin hat es geschafft aus ihrer kleinen Einrichtung im sozialen Brennpunkt eine grüne Oase „lebendiges Gardening!“ zu machen. Dem ist ein multikulturelles Beratungszentrum angeschlossen, so dass der soziale Brennpunkt schon lange keiner mehr ist.

Der nächste Projektleiter ist soweit, völlig entspannt in den Ruhestand zu gehen, da er sich selber überflüssig gemacht hat. Er blickt zufrieden auf die vergangenen Jahre zurück, in denen er den ehemals kleinen Verein in eine berlinweit operierende „Stadtteil Berlin gGmbH“ umgewandelt hat. Mit den richtigen Mitarbeitern und der richtigen Strategie kann er fortan die weiteren Erfolge aus der Ferne beobachten. Auf der anderen Seite des Erdballs haben sich die Ziele einer weiteren Projektleiterin verwirklicht. In Brasilien leitet das SzS ein Kinderheim für Straßenkinder und selbstverständlich gibt es ein umfangreiches Austauschprogramm mit Deutschland. Und auch ihre Kollegin hat ein neues Projekt gegründet. „Ein Ort für Alle!“ ist ein Projekt, das Menschen hilft, sich ihrer Kräfte bewusst zu werden und diese dafür einsetzen zu können, mit Kreativität und Energie ihr selbständiges Leben zu gestalten. Der Nächste ist weltberühmt geworden, hat er doch mit seinem „Jugendfilm-Produktionshaus“ einen Oskar gewonnen (wir verraten jetzt nicht, was sein Hobby ist). Er plant weitere Filme mit seinen Jugendgruppen und sein Name wird unter der Hand schon in die Reihe großer Regisseure eingereiht.

Das unglückliche Schulsystem von 2016 wurde von unserem Kollegen aus der Schulsozialarbeit vollkommen revolutioniert. 2026 gibt es keine Rahmenlehrpläne mehr, Pädagogen sind in der Lage individuell auf Kinder einzugehen, da ihnen ein sozial-pädagogisches Beratungszentrum immer offen steht. Versteht sich von selbst, wer das leitet! Die musikalische Kindertagesstätte kann kaum mehr die Wünsche der Voranmeldungen erfüllen, seitdem die Kollegin ihre Vision der singenden Kita verwirklicht hat. Ihr Team hat sich mit den Jahren durch Umorientierung und Weiterbildungen so gestärkt, dass es nahezu eine Idealbesetzung ist und sie neue Visionen verfolgen kann. Den demographischen Wandel hat eine andere Kita-Leiterin rechtzeitig erkannt und die Weichen für eine erfolgreiche Zukunft gestellt. Aus der ehemaligen Kita ist ein Mehrgenerationen-Haus geworden, in dem sich die Generationen ergänzen können. Personalknappheit gibt es schon lange nicht mehr, da ein MitarbeiterInnen-Pool geschaffen wurde, der keinerlei Engpässe mehr entstehen lässt. Dieser Pool steht selbstverständlich allen Einrichtungen des Vereins zur Verfügung. Und auch der dritte Kita-Leiter hat rechtzeitig die Weichen für ein Projekt gestellt, dass die gesundheitsfördernden Maßnahmen für alle Mitarbeiter im Fokus hat. Wir werden ja alle nicht jünger, aber dank dieses Projektes werden MitarbeiterInnen im Jahr 2026 weniger häufig krank und können länger arbeiten. Den Chef freut’s!

Aus dem ehemaligen Jugendfreizeithaus ist ein Familien- und Therapiezentrum Lichterfelde geworden. Kinder und ihre Familien finden hier präventiv Hilfe in allen Lebensbereichen. Man kann effektiv und nachhaltig arbeiten, da die Finanzierung durch die Senatsverwaltung für Gesundheit und Soziales auf Jahre gesichert ist. Geleitet wird das Zentrum durch den ehemaligen Projektleiter eines Schülerclubs, der sich in den Jahren immer weiter entwickeln und steigern konnte – Ende nicht in Sicht. Der nächste Kollege hat sich im Netzwerk „Aus Steglitz für Berlin“ verwirklicht. Es ist eine Ausgründung aus dem ehemaligen Stadtteilzentrum. In diesem Netzwerk gibt es keine Hierarchie mehr, die Mitarbeiter freuen sich über das Bedingungslose Grundeinkommen und sie wählen ihre Leitung demokratisch. Aufgrund der freien Arbeitsbedingungen ist dieses Netzwerk in ganz Berlin sehr erfolgreich. Der SzS-Campus wird vom nächsten Kollegen vorgestellt. Er hat im Jahr 2026 die Schulen in den Grenzen von 2016 abgelöst. Man hatte verstanden, dass lebenslanges Lernen für die Förderung der Menschen von elementarster Bedeutung und ein Grundrecht ist. Schulen gibt es nur noch in freier Trägerschaft, womit Berlin eine bundesweite Vorreiterrolle übernommen hat.

Ja, man erkennt, dass das SzS sich im Jahr 2026 sehr verändert hat, was natürlich auch große Auswirkungen auf die Verwaltung des Vereins hatte. Doch die Zeichen wurden rechtzeitig erkannt und mit den Jahren eine papierlose Verwaltung geschaffen. Das digitalisierte System ist so gut, dass alle ProjektleiterInnen ortsunabhängig optimal arbeiten können. Diese Kollegin bereitet sich auf die Altersteilzeit vor, aber ihr System ist so gut, dass sie bundesweit Workshops und Vorträge anbietet, um auch andere freie Träger von dem Nutzen der Digitalisierung zu überzeugen. 2020 war ein furchtbares Jahr in der sozialen Arbeit – die öffentliche Jugendhilfe war kollabiert und ein neues System wurde geschaffen. Von diesen Erfahrungen geprägt wurde damals aus einer Koordinatorin eine „feel-good-Managerin“. Ihr Netzwerk ist in der Lage junge Familien so vortrefflich in Erziehungsfragen zu unterstützen, dass tatsächlich die Geburtenrate 2026 auf einem neuen Rekordstand ist.

Der Pachtvertrag wurde nicht verlängert. Wegen der optimalen Pflege und Nutzung ging das Gutshaus Lichterfelde in den Besitz des SzS über. Der Verein nutzte die Chance und so blickt die Projektleiterin des Hauses 2026 zufrieden von der Terrasse ihrer Einrichtung für fitte Senioren auf den generationsübergreifenden Fitness-Parcours. Seinen eigenen Quereinstieg als Projektleiter einer Notunterkunft hat ein anderer Kollege genutzt, um seine persönlichen Erfahrungen für den sozialen Bereich zu nutzen. Er hat es geschafft ein Projekt zu gründen, dass als zentrale Aufgabe hat, die Personalressourcen geflüchteter Menschen optimal einzusetzen. Ein Projekt, dessen Erfolg sich herum gesprochen hat und nicht nur die geflüchteten Menschen und das SzS profitieren. Das neue „Live-Zentrum SzS“ wird 2026 durch die Leiterin von einem mobilen Büro aus geleitet. Die mittlerweile sieben Kindertagesstätten bilden das Herzstück des Zentrums, das aber neben den Kindern, Tieren, Häusern mit Land, Garten und Seegrundstücken durchaus generationsübergreifend arbeitet. Wir arbeiten 2026 nur noch vier Tage in der Woche – ja, wir sind effektiver geworden und haben die work-live-Balance verwirklicht.

Natürlich wäre es schade, wenn wir uns bei derart hoher fachlicher Qualifikation auf das Schulwesen beschränken. Auch wir werden älter und müssen für junge Fachkräfte sorgen. So wurde die social-work-Akademie von der nächsten Projektleiterin gegründet. Der Erfolgsfaktor der Akademie ist recht einfach: Wir fungieren als Vorbilder im Umgang mit MitarbeiterInnen und Kunden. Die Akademie ist ein Aus- und Fortbildungszentrum für Sozialarbeit und Sozialmanagement. 2026 sucht man schon neue Räume. Unterstützt wird die Akademie durch den kleinen Verlag der sich im Bereich der Öffentlichkeitsarbeit gegründet hat. Derart viele fachliche Qualifikationen und Kompetenzen müssen natürlich publiziert werden. Es wurde ein ganzer Arbeitsbereich aus einer ehemals Halbtagsstelle, deren Leiterin allerdings viel unterwegs ist. Macht nichts, denn auch sie trägt in Vorträgen die Botschaft des SzS in andere Städte. Wie lange sie das machen wird, wissen wir nicht, da das Rentenalter abgeschafft wurde und jeder so lange arbeiten darf, wie er sich weiter verwirklichen kann!

Punkt • An diesem Punkt ist es 13.00 Uhr und wir kehren, gefüllt von Visionen, ins Jahr 2016 zurück. Thomas Mampel blickt beeindruckt in die Runde und ist erstaunt, welches Potential er losgelassen hat. Eine Pause ist angesagt und sofort gehen die neugierigen Gespräche los. Bei dem ein oder anderen müssen wir mehr wissen, Zustimmung und Lob äußern. Dazu sei erwähnt, dass sich wahre Talente der Vortragskunst offenbar haben. Wenig später ging es weiter mit einem sogenannten Fish-Bowl, eine Methode in einer großen Gruppe eine Diskussion zu führen. In zwei Kreisen sitzen alle beisammen. Im Inneren der Diskussionsleiter, der bei den Vorträgen eifrig mitgeschrieben hat, und drei Gesprächspartner. Ein Stuhl ist frei. Auf den freien Stuhl setzt sich immer derjenige, der zu dem Gesagten eine Frage hat. Die Gesprächspartner wechseln. So kommt jeder an die Reihe und vorher vorgestellte Visionen, Wünsche, Träume, Ziele werden genauer unter die Lupe genommen. Auch dieser Tagesordnungspunkt ist von großer Kurzweiligkeit geprägt. Die Ergebnisse werden zusammengefasst und am Ende steht die kleine Hausaufgabe, dass jeder seine Visionen schriftlich fixiert.

Gemeinsam schauen wir zum Abschluss den Film „Augenhöhe“. Ein Film mit dem Thema, wie gemeinsam die Arbeitswelt verändert werden kann. Dieser Film soll Inspiration für alle sein, die in ihrem Umfeld Impulse für eine andere Arbeitswelt setzen möchten. Passt also zu unserem Tagesthema. In einer Abschlussrunde fassen wir die Ergebnisse des Tages zusammen und haben Gelegenheit unsere persönlichen Eindrücke zu äußern. Es fällt durchweg positiv aus und wer die Runde dieser Projektleiter kennt, weiß, dass viele Visionen durchaus ernst zu nehmende Ziele sind. Thomas Mampel blickt auf einen erfüllten Tag zurück und freut sich, dass sich alle auf seine Form, diesen Tag zu gestalten, so bereitwillig eingelassen haben.

Fazit: Manch einer könnte uns für größenwahnsinnig halten. Nein, wir wollen nicht tonangebend in der sozialen Arbeit sein. Wir wollen sie zukunftsträchtig, unter Berücksichtigung aller zeitlichen Entwicklungen und Energien verbundener Menschen in der sozialen Arbeit, mitgestalten. Wenn wir beobachten welche Entwicklungen und Veränderungen allein das Stadtteilzentrum Steglitz e.V. in den letzten Jahren durchlebt hat, ist es nicht schwer sich auch künftige, rasante Entwicklungen vorzustellen. Und wie kann man einen Menschen am besten motivieren, seine optimalen Kräfte für eine gute Sache einzusetzen? Man lässt in seine Träume und Ziele verwirklichen … wir haben 2016 angefangen das Jahr 2026 vorzubereiten … und lassen garantiert von uns hören.

Leitartikel der Homepage des Stadtteilzentrum Steglitz e.V. vom 1. Februar 2016

Wir müssten mal wieder …

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Wer kennt es nicht: Man ist unterwegs und trifft alte Freunde oder Bekannte aus längst vergangenen Tagen wieder. Die Freude ist groß, man grüßt sich, fragt wie es geht, tauscht spannende Dinge aus, die sich zwischenzeitlich ergeben haben und stellt fest, dass die Sympathie doch noch die gleiche ist wie früher. Und eh man sich versieht, sagt einer von beiden: „Wir müssten mal wieder …!“ Gegenseitig verspricht man sich zu melden und geht wieder getrennter Weg … Zuhause erzählen wir vielleicht von der Begegnung, gehen ins Tagesgeschehen über und vergessen in der Regel ziemlich schnell dieses „Wir müssten mal wieder …!“

Ich sage es selber und halte mir zugute, dass ich es ehrlich so meine – solange bis ich wieder in meinem eigenen Trott bin. Schuld daran ist natürlich die Zeit, die ich nie habe. Das glaube ich jedenfalls, wenn ich denkfaul bin oder eine Ausrede parat haben möchte. Tatsächlich bin ich diejenige, die ihre Zeit verwaltet und ja, ich habe inzwischen gelernt, dass es nicht die Zeit ist, die ich nicht habe. Es sind die Prioritäten, die allein ich selber festlege. Doch gerade diese Prioritäten sind es, die sich von Zeit zu Zeit verschieben und sich aus meiner jeweiligen Lebenssituation ergeben. Dieses „Wir müssten mal wieder …!“ ist eigentlich der Wunsch an etwas Vergangenem anzuknüpfen, das es in der damaligen Form nicht mehr gibt.

Der Kern ist, dass sich die Menschen, mit denen wir uns umgeben, immer wieder in der Zusammensetzung verändern. Es gibt einige wenige, die für immer bleiben. Die Familie bleibt, wenn man ein gutes Verhältnis hat, und ein paar Freunde, von denen uns, wenn wir Glück haben, ein paar das ganze Leben begleiten. Alle anderen Freunde wie Bekannte, ArbeitskollgInnen, Freunde aus Interessensgruppen, Menschen, die man aus bestimmten Aktualitäten kennt, kommen und gehen, meist ohne bewusstem Beginn oder Abschied. Man kann diese Menschen nicht festhalten. Muss akzeptieren, dass die Dinge sich ändern und Freundschaften ihre Zeit haben, so schmerzlich es manchmal ist.

Es ist ein langer Prozess, dies zu erkennen und, vor allen Dingen, auch zu akzeptieren. Definiert man sich in jungen Jahren oft über viele Freunde und dem Wunsch einer Gruppe anzugehören, setzt sich mit steigendem Alter immer mehr durch, dass eher die Qualität als die Zahl der Freunde von Bedeutung ist. Die Erkenntnis, dass jeder wirkliche Freund einen besonderen Stellenwert hat und zu anderen nicht vergleichbar ist, kommt ebenso hinzu. So ist der Freund mit dem ich prima philosophieren kann, nicht minder demjenigen, der der ideale Partner ist um zum Beispiel Museen und Ausstellungen zu besuchen. Genauso wie das Heer von Bekannten, die je nach Kontext eine andere Funktion erfüllen.

Ein gutes Beispiel dafür sind unsere Schulfreunde, mit denen wir jahrelang die gleichen Stundenpläne, Lehrer, Schulstreiche und Notenkonferenzen teilen. Kaum vorstellbar für den Schüler, diesen Verband zu verlassen – bis zum letzten Zeugnis. Damit trennt sich dann die Gemeinsamkeit und allein die Berufswahl schickt alle in verschiedene Richtungen. Wie schön sind da Klassentreffen, bei denen sicherlich oft das ein oder andere „Wir müssten mal wieder …!“ gesprochen wird. Mit Studienfreunden verhält es sich genauso, wie mit Freunden aus Sport oder Hobby. Freundschaften trennen sich, wenn Paare beschließen alleine zu bleiben oder Kinder zu bekommen. Hat man Kinder, lernt man viele Bekannte unter den Eltern von Kita und Schule kennen. Elternabende und Schulfeste verbinden für ein paar Jahre und trotz Sympathie verliert man sich später aus den Augen. Trifft man sich dann beim Einkauf, hört man, wie sich die Kinder entwickelt haben und kann sich dieses „Wir müssten mal wieder …!“ vielleicht gerade noch verkneifen. Man hat die Realität verstanden oder fürchtet zu wenig Gesprächsstoff für ein ganzes Treffen. Die wenigsten bleiben übrig und nur dann, wenn das eigene Lebensmodell sich mit dem des Freundes oder Bekannten überschneidet, wenn eine Grundhaltung die gleiche ist oder ein anderes Interesse eine Fortführung der Freundschaft stützt.

Das schöne daran ist, dass man im Laufe seines Lebens unglaublich viele tolle Menschen und Erinnerungen an sie sammeln kann. Akzeptiert man, dass alles seine Zeit hat, bleibt in manchen Fällen vielleicht etwas Wehmut und Bedauern. Bei manchen Fällen, seinen wir ehrlich, bemerkten wir den Verlust kaum oder sind vielleicht sogar froh darüber. Andererseits kommen ja auch immer wieder neue Bekanntschaften hinzu, die sich vielleicht in Freundschaften wandeln. Es gibt viele Menschen, die ich kennengelernt habe, mit denen ich sehr gerne befreundet wäre. Viele, die ich leider hinter mir lassen musste. Viele, die ich bewundere, die aber aus den verschiedensten Gründen nicht zu meiner Lebensweise, Familie oder Umfeld passen. Doch welch glücklicher Umstand, dass es keine Grenze gibt, wie viele Bekannte ein Mensch verkraften kann. Das ist etwas, was ich an den sozialen Netzwerken sehr genieße: Zwar trifft man sich nicht mehr im realen Leben, kann aber doch ab und zu lesen, wie es dem anderen ergeht. Wer weiß, was daraus wird. Ich persönlich mag Menschen – viele, vielfältig, multikulturell und grenzenlos.

Nun, vielleicht ist dieses „Wir müssten mal wieder …!“ aber auch ein zaghaftes Abtasten, ob sich ein neuer Anknüpfungspunkt finden lässt. Oder es ist ein Test, ob der andere einen noch mag. Ein verlegener Satz eventuell, weil man sonst nicht weiß, wie man sich endgültig vom anderen trennen soll. Lassen wir sie gehen, diese vielen tollen Menschen und bedenken, dass „Vergangenheit ist, wenn es nicht mehr weh tut!“ – Mark Twain. Soll es aber nicht Vergangenheit sein, müssen wir den Augenblick nutzen. Dann gibt’s als Antwort auf das „Wir müssten mal wieder …!“ einzig ein bestimmendes „Wann?“

Was ist „Alt“?

©photo5000-Fotolia.com

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Wir saßen in einer fröhlichen Runde in einem Restaurant und waren mit verschiedenen Themen beschäftigt, die wir sehr spaßig durchsprachen. Bis die Frage aufkam, was eigentlich „Alt“ ist. Da wurden die Gesichter plötzlich ziemlich ernst. Wer fällt nun in das Muster, schienen die Gesichter zu fragen – die Altersspanne der Runde lag zwischen geschätzten Mitte 30 bis Anfang 60 – alle Jahrzehnte vertreten. Ich habe mal frech behauptet, dass „Alt“ eine Sache des Kopfes ist und relativ früh anfangen kann. Das, weil ich Menschen kenne, jünger als ich, die ich aber schon als sehr alt empfinde. Wirklich wissen tue ich nicht, wie sich Alter definiert. Wie komme ich dem also nun näher? Eine Definition muss her. Deshalb: Google ist mein Freund – ich gebe „definition alt“ ein (Google interessiert sich nicht für Groß- und Kleinschreibung) und bekomme 67.200.000 Einträge. Dafür habe ich keine Zeit. Also versuche ich mal aus dem Bauch raus das Thema zu beleuchten und meine „Altersweisheit“ zu Rate zu ziehen.

„Alt“ werden wir wohl immer nach der eigenen Jahreszahl, dem persönlichen Standpunkt und beruflichen Hintergrund definieren. Ich weiß noch genau, dass ich mit 18 Jahren meine Eltern als ganz schön alt empfand. Meine Mutter war damals 38 Jahre alt. Aus heutiger Sicht – mit 38 Jahren hatte ich gerade mal zwei kleine Kinder – ist 38 Jahre so richtig volle Kanne mittendrin. Mir war erst ziemlich spät klar, dass ich mit sehr jungen Eltern gesegnet war. Heute stehe ich manchmal da und denke bei manchen Leuten: „Die sind ja noch ganz schön jung.“ Das hat aber weniger mit ihrem Alter als eher mit ihrem Verhalten zu tun. Wenn sich mal wieder ein eigener Geburtstag nähert, staune ich tatsächlich darüber wie viele Jahre ich schon geschafft habe und mich trotzdem noch so jung fühlen kann. Wie jung es sich in meinem Kopf anfühlt, kann ja keiner von außen sehen. Zugegeben, manchmal stehe ich morgens auf und ohne Kaffee in der Hand, fühle ich mich mindestens 30 Jahre zu alt – manchmal. Zum Glück nicht oft – das überwiegende Morgens-Gefühl ist Neugierde auf den Tag – das fühlt sich ziemlich jung an.

Aus Sicht der Soziologie werde ich mir in Bezug auf das Alter wohl die Frage stellen, welche Rolle ich in der Gesellschaft erfülle. Bin ich noch in der Entwicklung oder am Anfang des Arbeitsprozesses, bin ich jung. Trage ich Verantwortung, im Beruf oder für Kinder/Familie, habe ich eine tragende Rolle, bin also im „besten“ Alter. Gebe ich Verantwortung ab, die Kinder wachsen aus dem Haus heraus, junge Kräfte wachsen im Arbeitsprozess nach, bin ich auf dem Weg ins Alter. Der Biologe schaut sich den Körper an und fragt nach dessen Leistungsfähigkeit oder beginnenden Abbauerscheinungen. Der Psychologe macht alles am Zustand der Psyche fest – ein sehr komplexer und umfassender Bereich.

Der beste Gradmesser für das eigene Alter ist wohl das Selbstempfinden, auch wenn das durch die Sicht der anderen empfindlich gestört werden oder manchmal sogar peinlich werden kann. Ich selbst empfinde mich also noch als ganz schön jung … bis im Bus ein netter junger Mann für mich aufsteht und fragt, ob ich mich setzen möchte. Zwischen Rührung (Er nimmt auf mich persönlich Rücksicht) und Entsetzen (Wie kommt der denn da drauf – als ob ich so aussehe), lehne ich natürlich dankend ab. Natürlich empfinde ich ein gewisses Alter, durch das ich mich aber noch lange nicht alt fühle, sondern es genießen kann. Ich weiß heute zum Beispiel, was ich nicht mehr will. Da gibt’s eine ganze Menge Sachen … habe ich alles ausprobiert – muss nicht mehr sein. Ich weiß, dass ich mich nicht mehr beweisen muss – vor anderen – vor mir selber schon, aber das ist eine andere Geschichte. Ich weiß, was ich unbedingt noch machen oder erleben möchte – das ziemlich bewusst und als Antriebsfeder. Und ich weiß, welche Menschen mir gut tun und welche nicht. Und tatsächlich bin ich auch auf dem Weg „Nein“ sagen zu lernen – dafür musste ich allerdings ganz schön alt werden. Also hängt alt sein eigentlich von der jeweiligen Sache und meiner Tagesform ab – aus meiner Sicht.

Der Körper freilich lässt unser Alter nicht leugnen. Ich bewundere Bilder von superfitten Senioren, die in Fitness-Studios locker mithalten können mit allen, die unter 25 Jahre alt sind. Aber das ist Werbung, die uns genauso ein falsches Bild vermitteln möchte, wie das der ständig superschlanken Frauen. Gehen wir in ein Bildarchiv und geben das Wort „Alt“ ein, strahlen uns zu 95 Prozent Bilder mit lachenden Alten an. Selbst auf Krankenhausbildern oder wo Omas gefüttert werden – die lachen alle. Eigentlich müsste das was richtig schönes sein, so wie die sich alle freuen. Tja, nur will keiner so alt sein. Die Realität sieht  dann doch anders aus und ich behaupte mal, dass derjenige ein Lügner ist, der mit 50 Jahren noch kein Zipperlein an sich entdeckt hat. Im Alter scheiden sich die Geister in diejenigen, die immer mehr und teurere Schönheitscremes brauchen und diejenigen, die tapfer jede Falte als Trophäe sammeln. In diejenigen, die heroisch zur kurzgeschorenen, offenen Frisur stehen, weil einfach keine Haare mehr da sind oder diejenigen, die jedes, aber auch jedes Haarwässerchen ausprobieren und Strähnchen hoch toupieren und pflegen. Es gibt definitiv keinen Jungbrunnen nach dem die Menschheit seit Jahrhunderten sucht – oder war’s der Gral? Na gut … vielleicht gibt’s dafür ja irgendwann einmal eine App.

Die Jugend und die Gesellschaft sind diejenigen, die uns erbarmungslos unsere Altersgrenzen aus ihrer Sicht aufzeigen. Wenn ich meine Kinder auffordere, dass sie mal wieder deutsch mit mir sprechen sollen, bedeutet das, ich verstehe ihre Jugendsprache nicht. Besonders allergisch reagiere ich auf: „Ey, alter!“ was so ziemlich einem konstanten Satzende bei ihnen gleich kommt. Sobald ich ein Wort in ihrer Sprache gelernt habe, kommt ein „Mama, das ist peinlich.“ Pfff … was denn nun? Fangen wir „Alten“ an „chillen“ in unseren Wortschatz aufzunehmen, sagt das schon kein Jugendlicher unter 20 mehr. Man will sich ja abgrenzen … Tja, und die Gesellschaft – die ist nicht viel besser als die Jugendlichen – die grenzt uns Ältere ab. Ich lese von Angeboten „50+“, Senioren-Bonus-Heften, Seniorenresidenz, Freizeit-Angebote speziell am Vormittag … Die Wirtschaft hat uns als zahlungskräftiges Potential – allerdings nur im Freizeit- und Pflegebereich entdeckt. Hallo? Und seien wir ehrlich, ab dem gesegneten Alter von 40 Jahren müssen wir bei einem Wechsel der Arbeitsstelle entweder verbeamtet sein, in irgendeinem Aufsichtsrat sitzen und Millionen verdienen oder mindestens eine wichtige Fähigkeit haben, damit das klappt. Das Potential und die Erfahrung der Normalbürger zu nutzen, hat unsere Wirtschaft noch nicht verstanden. Normalbürger schicken wir lieber in Rente, sonst werden sie zu teuer und Rente zahlen ja unsere Kinder – wie auch immer sie das einmal machen werden.

Bei allen Überlegungen über das Alter komme ich zu der Überzeugung, dass ich dennoch eines nicht will: Noch einmal Jung sein und alle Erfahrungen, die ich heute habe, noch einmal machen müssen. So wie es ist, ist es auch gut. Ich fühle mich im „besten“ Alter, aller Zipperlein und schönen Erinnerungen zum Trotz. Alt sein bleibt für mich eine Frage des Kopfes. Wenn ich den Kopf kein Futter mehr gebe, wird das auch nix mit der fitten Alten. Krampfhaft jung bleiben wollen funktioniert nicht. Wenn ich aufgebe – mich für nichts mehr interessiere – mich von nichts mehr begeistern lasse und nur noch von negativen Dingen beeinflussen lasse. Wenn ich mich über die Jugend aufrege und früher alles viel besser fand – wenn ich jeden Tag damit beschäftigt bin, mir selber leid zu tun und die Schuld meines Dilemmas bei anderen vorgeschobenen Dingen suche – dann bin ich alt. Möge dieser Tag nie kommen! Und wenn mich andere als alt empfinden, dann möchte ich die Persönlichkeit haben, das mit Würde – und ganz  besonders mit Humor – zu tragen und hoffe, dass meine Erfahrungen für Jüngere zum Nutzen sind. Alt werden kann ziemlich entspannend, schön und lustig sein. Alt sein – auch!