Nur alte Familiengeschichten?

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Es geht mir seit Tagen durch dem Kopf: Durch die Blogparade, die eine Resonanz bekommen hat mit der ich nicht gerechnet hatte, habe ich viele bewundernswerte Beiträge gelesen, die sich für eine offene, tolerante Gesellschaft aussprechen. Beiträge, die sich gegen Menschenverachtung und die Diskriminierung nicht nur von Menschen, sondern auch unserer Werte und Freiheiten richten. Beiträge, die mir Mut und Hoffnung machen und zeigen, dass ich mit meinen Ansichten in keiner Weise alleine bin. Wenn ich vom Blog in soziale Medien wechsele kommt die Ernüchterung durch zahlreiche Nachrichten aus der aktuellen Lage im Land. Lese ich dort, stellen sich mir immer wieder die Fragen: Wie kann es kommen, dass so viele Menschen nach Rechts tendieren oder mit unfassbarer Gleichgültigkeit, Dinge hinnehmen, die weder zeitgemäß sind, noch in ein modernes Land passen? Lesen sie nicht? Hören sie nicht zu? Begreifen sie nicht oder haben alles vergessen, was aufgeschrieben und erzählt wurde?

Natürlich kann man jede Haltung mit Unzufriedenheit über Politik, über Schwächen im sozialen System, über Berührungsängste und vielem anderen erklären. Aber das allein lässt nicht wirklich begreifen, warum Menschen Parteien wählen, die sie selber in letzter Konsequenz in ihren Freiheiten und Rechten massiv einschränken würde. Ich fürchte fast, dass es mit etwas zusammenhängt, was Uwe Junge von der Partei sagt, die eben keine Alternative ist: „Wir dürften die deutsche Geschichte nicht allein auf die 12 Jahre des Krieges reduzieren. Es wäre natürlich ein Schandfleck der deutschen Geschichte, wäre beileibe aber nicht alles, was die deutsche Geschichte ausmacht.“ Das hört sich rein rational richtig an. Es lässt aber vollkommen außer Acht, wie es zu diesen 12 Jahren kommen konnte und welche Auswirkungen eben diese Jahre nicht nur auf mehr als 6 Millionen tote Menschen hatte, sondern auch auf die Bevölkerung dieses und vieler anderer Länder sowie nachfolgenden Generationen bis heute. Hin und wieder höre ich auch, dass Leute sagen, sie wären im Krieg nicht dabei gewesen, hätten damals noch nicht gelebt, es wäre so lange schon vorbei und müsse auch mal gut sein. Muss es nicht, denn das was wir aktuell erleben, hat seinen unmittelbaren Ursprung in eben jener Zeit. Sind wir Geschichtsmüde geworden?

Doch bevor ich über andere urteile, muss ich bei mir selber schauen. Wenn ich das diesbezüglich tue, stoße ich oft und immer wieder über die in diesem Land ungeliebte Geschichte. Natürlich könnte ich versuchen darüber hinwegzusehen, es ignorieren oder leugnen, aber es hat direkt mit mir selber zu tun und wenn ich das verstehe, kann ich vielleicht auch die anderen verstehen. Ein Beispiel: Wir räumen das Haus der Schwiegermutter leer. In einer Schublade sind verschiedenste Unterlagen gesammelt. Darunter ist ein unscheinbarer A5 Umschlag. Als wir ihn öffnen, finden wir einen 10-seitigen Bericht eines Marinearztes, der die Zerstörung der Stadt Lübeck in der Nacht vom 28.3.1942 beschreibt. Es sind 10 Schreibmaschinenseiten, kein Durchschlag, dabei liegen zwei Zeitungsartikel in alten Drucklettern gesetzt, die den persönlichen Bericht unterstützen. Es ist ein Dokument, das uns erschüttert. Wir finden in der Kürze nicht heraus, was es mit der Familiengeschichte zu tun hat oder wie es in diese Schublade kam. Wir werden uns damit beschäftigen müssen. Ein zweites Beispiel: Ich stehe in einer Buchhandlung und sehe ein Buch in der Auslage. Der Titel besteht aus einem Wort und ich weiß sofort, dass ich angesprochen bin, dass dieses Buch von meiner Generation erzählt und ich es kaufen werde. Es heißt „Kriegsenkel“, wurde von Sabine Bode geschrieben. Erst später erfahre ich, dass es drei Bücher sind – „Die vergesse Generation“ und „Kriegskinder“ runden die Reihe ab. Die Bücher behandeln die Kriegstraumata unserer Großeltern und Eltern, die bis in die heutigen Generationen hineinwirken. Es ist so logisch und klar, was in diesen Büchern beschrieben wird, insbesondere ist es aber eine klare Auseinandersetzung damit, dass wir uns eben nicht mit der Vergangenheit in ausreichenden Maßen beschäftigt haben. Solche Beispiele laufen mir immer wieder über den Weg.

Es gibt keine Familie bei uns, die nicht irgendwo verdrängte Erlebnisse aus der Kriegs- und Nachkriegszeit hat, die nicht von der Teilung Deutschlands und der Wiedervereinigung betroffen war und ist. Es wurde zu keiner Zeit gerne darüber geredet, was diese Ereignisse mit den Familien gemacht haben und wie Lebensläufe dadurch verändert und beeinflusst wurden. In den Schulen wurde viel über die NS-Zeit gelehrt, im öffentlichen Bewusstsein das Gedenken hochgehalten, was es aber im engsten Kreis für Nachwirkungen mit sich zog, wurde stillschweigend erlebt und hingenommen. So gab es beispielsweise in meiner Großelterngeneration zwei politische Richtungen. Die eine Familie lebte und begrüßte das nationalsozialistische Gedankengut. Darin wurde mein Vater groß. Die andere Familie lebte nach sozialistischen, eher kommunistischen Lehren, worin meine Mutter aufwuchs. Meine Eltern habe ich nicht anders erlebt als weltoffene und an fremden Nationen interessierte Menschen. Mit den einen Großeltern war ein Gespräch über Vergangenheit unmöglich, die anderen sprachen oft darüber. Mein Vater sprach oft über Toleranz, Menschenachtung, Motivation und Wertschätzung und es war ein dringendes Bestreben in ihm, das seinen Kindern mitzugeben, in einer Intensität, die uns Kinder eher belastet hat. Warum er, aus einem nationalsozialistischen Elternhaus kommend, seine Ansichten und sein Leben so drastisch änderte, konnte auch meine Mutter nicht mehr beantworten. Heute würde ich andere Fragen stellen als damals. Ihn kann ich nicht mehr fragen.

Auch in der Familie meines Mannes hat die Vergangenheit gravierende Spuren hinterlassen. Sie haben Nachwirkungen bis heute: Die demente Schwiegermutter beschwört von Zeit zu Zeit immer wieder, dass die Papiere des Vaters nicht den Russen in die Hände fallen dürften. Die Familie war Jahrzehnte durch die jeweils Herrschenden schwer belastet. Als Sozialdemokrat unter NS-Herrschaft wurde der Großvater meines Mannes inhaftiert, konnte sich aber durch hohe Fürsprecher in der Marine und im NS-Stab über die Zeit retten. In der DDR Zeit wurde er als NS-Verfolgter nicht enteignet, musste aber Haftzeiten und Repressalien wegen seiner offenen Meinung ertragen. Schulbesuche und gewünschte Ausbildung- und Studiengänge der Kinder wurden immer wieder deshalb blockiert. Letztendlich ist mein Mann ein mit 6 Jahren aus der DDR freigekauftes Kind, damit er bei seiner Mutter im Westen aufwachsen konnte. Die Teilung Deutschlands trennte Geschwister auf Jahrzehnte.

Es sind so viele Ereignisse und Umstände, die bis heute Auswirkungen haben und nicht wirklich verarbeitet sind. Die unterdrückten Erlebnisse und Emotionen der Eltern- und Großelterngeneration wirken bei uns nach, so sehr man auch verstehen kann, dass sie erst mal vordergründig wieder ein ’normales‘ Leben haben wollten. Ich denke, dass unsere Kinder die erste Generation in Deutschland sind, die weitgehend unbelastet von der Vergangenheit aufwachsen. Ihnen ist das Gefühl, vor einer Mauer zu stehen und ein- oder ausgeschlossen zu sein, nicht mehr zu erklären. Ihnen muss klar gemacht werden in welchen Luxus an Freiheit sie aufwachsen und welches Glück sie haben „zufällig“ in diesem sicheren Teil der Erde aufwachsen zu können. Um ihnen das klar zu machen, müssen wir den Älteren zuhören und sie erzählen lassen – ihnen zur Entlastung und uns zur Warnung. Dabei geht es in keiner Weise um Schuld. Geschehenes ist vorbei, nicht wieder gut zu machen und jeder handelt aus seinem aktuellen Konsens heraus. Es geht auch nicht um Scham, denn wer von uns könnte beschwören, dass er aus Angst nicht nachgibt. Es geht darum zu verhindern, dass es wieder passiert. Darum, den Jüngeren bewusst zu machen, was wir zu erwarten haben, wenn wir uns zu leicht beeinflussen und blenden lassen.

Geschichtsbewusstsein darf nicht müde werden, aber vielleicht hören von den Jüngeren mehr zu, wenn sie hören: „Ich habe erlebt …!“ statt „Im Jahr 1943 flogen die Alliierten …!“ Wenn sie merken, dass die Erlebnisse tatsächlich mit uns persönlich zu tun haben, als wenn es Seiten in einem Buch sind, die für die nächste Klausur gelernt sein müssen. Mit sich selber ehrlich sein – Fragen, wen wir noch fragen können – versöhnen, wenn die Möglichkeit besteht … wären Wege Geschichte zu bewältigen. Niemals verstehen werde ich diejenigen, die all dies von sich weisen, offenen Auges und bewusst in die nächste Katastrophe hineinrennen – und wie viele Tausende mitreißen …

Wir müssten mal wieder …

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Wer kennt es nicht: Man ist unterwegs und trifft alte Freunde oder Bekannte aus längst vergangenen Tagen wieder. Die Freude ist groß, man grüßt sich, fragt wie es geht, tauscht spannende Dinge aus, die sich zwischenzeitlich ergeben haben und stellt fest, dass die Sympathie doch noch die gleiche ist wie früher. Und eh man sich versieht, sagt einer von beiden: „Wir müssten mal wieder …!“ Gegenseitig verspricht man sich zu melden und geht wieder getrennter Weg … Zuhause erzählen wir vielleicht von der Begegnung, gehen ins Tagesgeschehen über und vergessen in der Regel ziemlich schnell dieses „Wir müssten mal wieder …!“

Ich sage es selber und halte mir zugute, dass ich es ehrlich so meine – solange bis ich wieder in meinem eigenen Trott bin. Schuld daran ist natürlich die Zeit, die ich nie habe. Das glaube ich jedenfalls, wenn ich denkfaul bin oder eine Ausrede parat haben möchte. Tatsächlich bin ich diejenige, die ihre Zeit verwaltet und ja, ich habe inzwischen gelernt, dass es nicht die Zeit ist, die ich nicht habe. Es sind die Prioritäten, die allein ich selber festlege. Doch gerade diese Prioritäten sind es, die sich von Zeit zu Zeit verschieben und sich aus meiner jeweiligen Lebenssituation ergeben. Dieses „Wir müssten mal wieder …!“ ist eigentlich der Wunsch an etwas Vergangenem anzuknüpfen, das es in der damaligen Form nicht mehr gibt.

Der Kern ist, dass sich die Menschen, mit denen wir uns umgeben, immer wieder in der Zusammensetzung verändern. Es gibt einige wenige, die für immer bleiben. Die Familie bleibt, wenn man ein gutes Verhältnis hat, und ein paar Freunde, von denen uns, wenn wir Glück haben, ein paar das ganze Leben begleiten. Alle anderen Freunde wie Bekannte, ArbeitskollgInnen, Freunde aus Interessensgruppen, Menschen, die man aus bestimmten Aktualitäten kennt, kommen und gehen, meist ohne bewusstem Beginn oder Abschied. Man kann diese Menschen nicht festhalten. Muss akzeptieren, dass die Dinge sich ändern und Freundschaften ihre Zeit haben, so schmerzlich es manchmal ist.

Es ist ein langer Prozess, dies zu erkennen und, vor allen Dingen, auch zu akzeptieren. Definiert man sich in jungen Jahren oft über viele Freunde und dem Wunsch einer Gruppe anzugehören, setzt sich mit steigendem Alter immer mehr durch, dass eher die Qualität als die Zahl der Freunde von Bedeutung ist. Die Erkenntnis, dass jeder wirkliche Freund einen besonderen Stellenwert hat und zu anderen nicht vergleichbar ist, kommt ebenso hinzu. So ist der Freund mit dem ich prima philosophieren kann, nicht minder demjenigen, der der ideale Partner ist um zum Beispiel Museen und Ausstellungen zu besuchen. Genauso wie das Heer von Bekannten, die je nach Kontext eine andere Funktion erfüllen.

Ein gutes Beispiel dafür sind unsere Schulfreunde, mit denen wir jahrelang die gleichen Stundenpläne, Lehrer, Schulstreiche und Notenkonferenzen teilen. Kaum vorstellbar für den Schüler, diesen Verband zu verlassen – bis zum letzten Zeugnis. Damit trennt sich dann die Gemeinsamkeit und allein die Berufswahl schickt alle in verschiedene Richtungen. Wie schön sind da Klassentreffen, bei denen sicherlich oft das ein oder andere „Wir müssten mal wieder …!“ gesprochen wird. Mit Studienfreunden verhält es sich genauso, wie mit Freunden aus Sport oder Hobby. Freundschaften trennen sich, wenn Paare beschließen alleine zu bleiben oder Kinder zu bekommen. Hat man Kinder, lernt man viele Bekannte unter den Eltern von Kita und Schule kennen. Elternabende und Schulfeste verbinden für ein paar Jahre und trotz Sympathie verliert man sich später aus den Augen. Trifft man sich dann beim Einkauf, hört man, wie sich die Kinder entwickelt haben und kann sich dieses „Wir müssten mal wieder …!“ vielleicht gerade noch verkneifen. Man hat die Realität verstanden oder fürchtet zu wenig Gesprächsstoff für ein ganzes Treffen. Die wenigsten bleiben übrig und nur dann, wenn das eigene Lebensmodell sich mit dem des Freundes oder Bekannten überschneidet, wenn eine Grundhaltung die gleiche ist oder ein anderes Interesse eine Fortführung der Freundschaft stützt.

Das schöne daran ist, dass man im Laufe seines Lebens unglaublich viele tolle Menschen und Erinnerungen an sie sammeln kann. Akzeptiert man, dass alles seine Zeit hat, bleibt in manchen Fällen vielleicht etwas Wehmut und Bedauern. Bei manchen Fällen, seinen wir ehrlich, bemerkten wir den Verlust kaum oder sind vielleicht sogar froh darüber. Andererseits kommen ja auch immer wieder neue Bekanntschaften hinzu, die sich vielleicht in Freundschaften wandeln. Es gibt viele Menschen, die ich kennengelernt habe, mit denen ich sehr gerne befreundet wäre. Viele, die ich leider hinter mir lassen musste. Viele, die ich bewundere, die aber aus den verschiedensten Gründen nicht zu meiner Lebensweise, Familie oder Umfeld passen. Doch welch glücklicher Umstand, dass es keine Grenze gibt, wie viele Bekannte ein Mensch verkraften kann. Das ist etwas, was ich an den sozialen Netzwerken sehr genieße: Zwar trifft man sich nicht mehr im realen Leben, kann aber doch ab und zu lesen, wie es dem anderen ergeht. Wer weiß, was daraus wird. Ich persönlich mag Menschen – viele, vielfältig, multikulturell und grenzenlos.

Nun, vielleicht ist dieses „Wir müssten mal wieder …!“ aber auch ein zaghaftes Abtasten, ob sich ein neuer Anknüpfungspunkt finden lässt. Oder es ist ein Test, ob der andere einen noch mag. Ein verlegener Satz eventuell, weil man sonst nicht weiß, wie man sich endgültig vom anderen trennen soll. Lassen wir sie gehen, diese vielen tollen Menschen und bedenken, dass „Vergangenheit ist, wenn es nicht mehr weh tut!“ – Mark Twain. Soll es aber nicht Vergangenheit sein, müssen wir den Augenblick nutzen. Dann gibt’s als Antwort auf das „Wir müssten mal wieder …!“ einzig ein bestimmendes „Wann?“

Rabenmütter … gibt es nicht

©-Kati-Molin-Fotolia.com

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Mit etwa 20 Jahren saß ich bei meiner Mutter in der Küche. In den Nachrichten berichteten sie von einem Fall, in dem einem Kind Gewalt angetan worden war. Sehr entrüstet äußerte ich, dass ich nicht verstehen könne, wie eine Mutter ihrem Kind so etwas antun kann. Meine Mutter kochte seelenruhig weiter und meinte nur: „Doch, ich kann es mir vorstellen. Es gibt Situationen in denen man einfach nicht mehr anders kann.“ Nun saß ich dort und wusste nicht, worüber ich mich mehr aufregen sollte. Über den geschilderten Fall aus den Nachrichten oder über meine eigene Mutter, die so eine Ungeheuerlichkeit geäußert hatte. 

Meine Mutter hatte etwas ausgesprochen, was für mich als ihr Kind nicht sein durfte. Ich fühlte mich persönlich verletzt und angegriffen. Ich wollte an dem Bild einer Idealmutter festhalten. Einer Mutter, die alles, aber auch alles für ihr Kind gibt und sich selber dafür in den Hintergrund stellt. Ich wollte an eine heile Welt glauben, in der Kinder sicher leben und Mütter aufopfernd und mit großer Fürsorge ihre Kinder großziehen.

Aber es gibt sie immer wieder, die Nachrichten von Kindern, die Furchtbares erleben müssen. Das Entsetzen darüber schlägt meistens in sprachlose Fassungslosigkeit um. Ist von Wut und Hilflosigkeit begleitet. Anders als bei Fällen, die Kindesmissbrauch zum Thema haben, hört und liest man kaum vorschnelle Urteile, die diesen Müttern jegliche Rechte und körperliche Unversehrtheit absprechen. Solche Fälle darf es in unseren Köpfen einfach nicht geben. Wir fühlen uns alle als Kind einer Mutter. Eine Mutter, die ihrem Kind nicht gerecht werden will oder kann, ist etwas was, das nach unserer Vorstellung gegen die Natur und gegen unser Wunschdenken geht.

Ich wurde selber Mutter, viele Jahre später. Machte eigene Erfahrungen als Mutter und musste mir eingestehen, dass es dieses Bild der Idealmutter nicht gibt. Ich erfuhr meine Grenzen, stellte fest, dass das „Mutter sein“ nicht vor Krankheit, Sorgen oder aufgebrauchten Kraftreserven schützt. Das Bild von Mutter und Kind, welches wir in den Medien, meist mit Weichzeichner, vermittelt und vorgespielt bekommen, ist nicht real. Doch niemand erzählt, wie es wirklich ist, wenn man Kinder hat. Die Gesellschaft möchte funktionierende Mütter, welche die eigene Belange auf Jahre hinten anstellen. Mütter, die für ihre Kinder die anderen Facetten ihrer Persönlichkeit ausblenden und diese erst nach Volljährigkeit der Kinder wie aus einem Dornröschenschlaf wieder erwachen lassen. Nur gibt es diese Mütter nicht, auch wenn es niemand hören möchte.

Man kann es nicht lernen – Mutter zu sein. Man kann sich in Kursen bestmöglich vorbereiten, meistens nur auf die Geburt. Man kann Fachbücher zu Rate ziehen, was man oft erst tut, wenn ein Problem auftaucht. Man kann um Rat bitten und bekommt erfahrungsgeprägte unterschiedliche Meinungen. Mutter wird man und ist es dann für immer. Und ist man erst Mutter geworden, stellt man fest, dass sich die eigene Geschichte, die eigene Erziehung, Erfahrungen, Gelerntes mit dem Alltag vermischen. Besonders am Anfang möchte man alles richtig machen und steht im Umfeld, mehr vor sich selbst, vor einem immensen Erwartungsdruck. Alles soll funktionieren, man möchte sich stolz zeigen, Anerkennung bekommen und alles richtig machen. So lange, bis irgendeine Komponente aus dem Gleichgewicht fällt.

Beginnend mit der Geburt … wer erzählt denn, dass es Wochenbett-Depressionen gibt? Dass das Stillen meist nicht auf Anhieb klappt. Dass Schmerzen noch eine Weile Begleiter sind? Dass nicht alle Babys wie Porzellanpuppen aussehen und Kinder am liebsten schreien, wenn Frau selber vor Müdigkeit kaum denken kann. Wer erzählt, dass es oft Situationen gibt, in denen man sich überfordert fühlt, nicht mehr weiter weiß, man vor Hilflosigkeit wütend wird? Wer gibt zu, dass es Momente gibt, in denen wir unser Kind in dem Arm halten, versuchen zu trösten, während das Kind in uns selber weint? Wer sagt, dass das alles normal und erlaubt ist? Wer berichtet von dem Quatsch, den sich Mütter bei Spielplatz-Gesprächen selber antun, in dem sie wetteifern, welches Kind sich schneller entwickelt? Von dem Wettrennen, welches Kind begabter ist und vor dem Schuleintritt schon lesen kann? Von den Endlos-Diskussionen unter Eltern verschiedener Ansichten? Von der Peinlichkeit, eine Therapie für das Kind suchen zu müssen? Von Schulproblemen, Pubertätsproblemen, dem ersten Liebeskummer, von Abgrenzung des eigenen Kindes zur Mutter. Das erzählt vorher keiner so genau und wir würden es sehr wahrscheinlich nicht hören wollen. Wir würden gerne so lange als möglich glauben, dass ausgerechnet wir die ideale Mutter sein können. Was passiert, wenn das Leben unseres Kindes unsere eigene Vergangenheit wieder zum Leben erweckt? Die Barrieren sind da, besonders wenn eigene Geschichte, schlechte Erfahrungen, elterliche Prägung sich mischt mit dem täglichen Erleben. Wenn Sorgen auftreten, partnerschaftliche Spannungen, Existenz-Ängste, Verlust-Ängste, das normale Leben auf harte Belastungsproben stellt.

In einem Gespräch mit einer älteren Frau sagte ich einmal, dass es meinen Kindern nur gut gehen könne, wenn es mir selber gut geht. Als Antwort bekam ich von ihr zu hören, dass eine Mutter sich gefälligst zusammen zu reißen und ausschließlich für die Kinder da zu seinen habe. Eine Ansicht, die mir als junger Mutter genauso erschreckend erschien, wie damals die Aussage meiner Mutter. Meine Perspektive hatte sich geändert. Ich hatte erfahren, was es bedeutet Mutter zu sein. Jede Mutter lernt schnell die Mauern kennen, die blockieren und den Alltag, die Harmonie zum Kind empfindlich belasten können.

Jede Mutter handelt aus ihrer eigenen Geschichte heraus. So hat meine Mutter fünf Kinder und die Endpunkte der Belastbarkeit in alle Richtungen erfahren. Die ältere Frau hatte ein Kind ohne Vater groß gezogen, in einer Zeit in der ein uneheliches Kind noch als Bastard galt. Beide sprachen aus ihrem persönlichen Erleben. Ich muss nicht ihrer Meinung sein, kann ihre Beweggründe aber verstehen und nachvollziehen. So haben auch Schuldzuweisungen oder Vorwürfe Müttern gegenüber nicht den geringsten Nutzen, denn jede kann nur so handeln, wie ihre momentane Verfassung und die Umstände es erlauben. Bevor man ein Urteil über eine Mutter äußert, sollte man sehr genau hinschauen, warum etwas so ist.

Es muss einer Mutter gesellschaftlich erlaubt sein, zu sagen „Ich kann nicht mehr!“. Es darf keinem Versagen gleichkommen, sich Hilfe zu holen. Hilfe gibt es, bei Ämtern, bei freien Trägern, Initiativen und im medizinischen Bereich. Nur um Hilfe annehmen zu können, muss ich mir bewusst machen, dass ich ein Problem habe und dieses Problem seine Berechtigung hat. Ich darf nicht dem Gefühl unterliegen, dadurch versagt zu haben. Die anderen, das Umfeld, sollten genau hinschauen. Fragen, wenn sich Unstimmigkeiten abzeichnen, Hilfe anbieten, Verständnis zeigen, hinschauen und nicht weggucken. Mütter zu unterstützen, ihnen eine solide soziale Basis zu ermöglichen, sie finanziell gut aufzustellen und ihre Leistung zu würdigen und anzuerkennen, ist der primärste Kinderschutz, den eine Gesellschaft leisten kann.

Die erste Frage, die sich eine Mutter stellen sollte ist: „Was kann ich für mich tun, damit es meinem Kind gut geht!“. Und noch ein kleiner Ausflug ins Tierreich – wussten Sie, dass sich Rabenmütter noch fürsorglich um ihren Nachwuchs kümmern, selbst wenn die Jungvögel aus dem Nest gefallen sind?

„Zur Erziehung eines Kindes braucht man ein ganzes Dorf.“ besagt ein afrikanisches Sprichwort – nicht Mütter alleine, wir alle stehen in der Verantwortung Kindern gute Mütter zu geben!

Leitartikel der Homepage des Stadtteilzentrum Steglitz e.V.
vom 19. Mai 2014