#VielfaltJa und Wahrnehmung … oder doch nicht?

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„In der Zeit, in der ich Grenzen und Halt gebraucht hätte, haben sie sich scheiden lassen. Hätte ich Grenzen gespürt, wäre vieles für mich einfacher gewesen.“ Eine Frau spricht etwas aus, was sich wie ein Widerspruch in sich selbst anhört. Sie erzählt davon, dass sie als Jugendliche tun und lassen konnte, was sie wollte, weil die Eltern mit sich selber beschäftigt waren. Erzählt, dass niemand da war, der ihr in ihrer Freiheit Einhalt bot. Niemand da war, der ihr vermittelte, was gut oder schlecht ist oder sie an Pflichten erinnerte. Niemand, der ihr einen Rahmen gab. Was sie nicht ausspricht: Es gab keinen, der sie, die junge Frau, wahrgenommen hat.

Diese Unterhaltung kommt mir immer dann in den Sinn, wenn ich als Mutter eine Auseinandersetzung mit meiner Tochter habe. Sie argumentiert hart und unerbittlich. Meine, in meinen Augen, Vernunft gesteuerten und auf Erfahrung beruhenden Argumente kommen nicht bei ihr an. Ein Konsens muss manchmal warten, bis Mutter und Tochter es schaffen die Emotionen wieder herunterzufahren. Aber ich weiß – denn ich bin ja die Erwachsene – ich darf es nicht persönlich nehmen und ein Kinderpsychologe sagte mir einmal, dass es legitim ist, wenn ich wütend werde, denn die Tochter will durch meine Reaktion wahrgenommen werden.

Für die meisten Erwachsenen ist es zuweilen schwer zu verstehen, was in Jugendlichen vorgeht. Das eigene Erwachsen werden wird oft und gerne verdrängt. Selber hat man es ganz gut überstanden. Übrig bleiben die besonders schönen, witzigen oder grenzwertigen Situationen, an die wir uns Trophäen ähnlich erinnern. Der innere Zwiespalt, der oft jahrelang das Älterwerden erschwert, gehört nicht zu den angenehmen Erinnerungen. Zu gerne geben wir Älteren dennoch den Jüngeren Ratschläge, die sie nicht wollen und ihnen nichts nutzen. Sie wollen sich abgrenzen, nicht etabliert sein, die Welt neu erfinden, sowieso alles einmal anders machen. Alleine entscheiden, Erfahrungen selber machen, keine Warnungen hören, keine Einschränkungen spüren und Freiheiten genießen. Und doch wollen sie dies alles nicht ohne Widerstand oder eben – wahrgenommen zu werden. Was nutzt ein erkämpftes Privileg, wenn es niemand bemerkt hat. Wer gibt die Anerkennung, wenn sich neue Rechte und Möglichkeiten öffnen, die noch Jüngeren verschlossen sind. Wer bemerkt, dass sie – eben – erwachsen werden.

Eigene, geschützte Räume und Bereiche für Jugendliche werden wichtig für ihre Entwicklung, mindestens ebenso wichtig, dass diese geschützten Bereiche bemerkt, besprochen und beachtet werden. Eltern verlieren in dieser Zeit die Position der Beschützer und Bestimmenden. Sie müssen lernen, dass der Jugendliche jetzt einen Partner braucht, der auf Augenhöhe kommuniziert und akzeptiert, dass kein Kind mehr vor ihm steht. Eltern verlieren, was der Jugendliche begehrt, was im Kern das Erwachsen werden erklärt. Kontrolle und Selbstbestimmung wechselt die Position – loslassen wird zur Herausforderung. Oft funktioniert das „Aufgeben-und-Gewinnen“-Spiel zwischen Eltern und Kind über Jahre nicht, weshalb Kinder und Jugendliche andere suchen, die Wahrnehmung, Anerkennung und Gehör bieten können.

Kinder und Jugendliche gehen aus dem Haus, suchen sich neue Räume, in denen sie sich entfalten und erfahren können. Plätze, die die Möglichkeit bieten unter sich zu sein. Idealerweise Plätze, die zudem ein Angebot eröffnen, das genau auf ihre Bedürfnisse und Interessen stößt. Diese Plätze finden sie in Einrichtungen der Kinder- und Jugendarbeit. In Berlin sind es weit mehr als 400 Einrichtungen, die ein Spektrum von Angeboten eröffnen, von dem die Elterngeneration geträumt hätte. Staatliche und freie Träger, Vereine, kulturelle Projekte und vieles mehr kümmern sich jeden Tag um ein Heer von Jugendlichen, das entweder freiwillig oder gar nicht kommt. Sie kommen, wenn die Atmosphäre stimmt, die Freiräume groß genug sind, die Beschäftigungsmöglichkeiten passen und die Regeln des Hauses akzeptabel erscheinen. Sie kommen, wenn die Mitarbeitenden der Einrichtung irgendwie cool sind, nicht zu sehr an die Eltern erinnern und kommen wieder, wenn sie das Gefühl haben, dort gesehen – und wahrgenommen zu werden.

Es ist die Hauptaufgabe der Mitarbeitenden dieser Einrichtungen die jungen Besucher wahrzunehmen. Zuzuhören, Regeln vorzugeben, Anregungen zu geben, Potentiale zu entdecken und zu fördern. Sie tun das professionell und geplant, oft spontan, aber nie unüberlegt. Und sie tun es – unter normalen Umständen – entspannt, denn die persönliche Ebene und das Spannungsfeld von Eltern und Kind fehlt. Diese Mitarbeitenden sind diejenigen, die Zeit haben coole Spiele zu machen, die Lachen und auch mal verrückte Vorschläge machen. Es sind Erwachsene, die nicht mit Ratschlägen oder Benimmregeln Einfluss nehmen wollen. Erwachsene, die den Jugendlichen in den Vordergrund stellen, bemerken, ansprechen, wertschätzen … in einer Art, die den Eltern oft lange versagt bleibt.

Ich bin Mutter und dankbar, dass es Kinder- und Jugendeinrichtungen gibt. Einrichtungen in denen meine KollegInnen arbeiten und ich in vielen Gesprächen erfahre, was sie von ihrer Arbeit erzählen. Wie sie sich organisieren, wie sie planen, mit welchen Hürden sie immer wieder kämpfen. Was sie von Weiterbildungen erzählen, über zu wenig Zeit klagen oder Mangel an Unterstützung staatlicherseits andeuten. Besonders gerne höre ich zu, wenn sie von gelungenen Projekten erzählen oder stolz bemerken, dass eigentlich schon erwachsene ehemalige Einrichtungsbesucher wieder kommen. Ich sehe ihre Augen, die strahlen, wenn sie mir eine CD eines Musikprojektes schenken oder ich einen Bericht von einem besonderen Event veröffentlichen kann. Ich bin ihnen dankbar, dass sie Jugendliche, ähnlich wie meine Tochter, auffangen und wahrnehmen. Dankbar, dass sie ihre Arbeit und die Sache mit der Wahrnehmung der Jugendlichen, genauso wie ich – ja doch persönlich nehmen!

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Aus Anlass des bundesweiten Kongresses zur Kinder- und Jugendarbeit in Dortmund (26. – 28.09.) und die Vorbereitung der nächsten Legislaturperiode in Berlin rief jugendhilfe-bewegt-berlin.de zum Social-Media-Marathon #VielfaltJA über twitter, Facebook und Co. und dieser Blogparade auf. Ein Social-Media-Marathon, der zeigt wie wichtig und vielfältig Jugendarbeit ist. Jugendarbeit, die oft unbemerkt von der Öffentlichkeit, präventiv und nachhaltig ein enorm wichtiger Baustein unseres gesellschaftlichen Lebens ist.

Anna Schmidt
Presse- und Öffentlichkeitsarbeit
Stadtteilzentrum Steglitz e.V.

Nur alte Familiengeschichten?

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Es geht mir seit Tagen durch dem Kopf: Durch die Blogparade, die eine Resonanz bekommen hat mit der ich nicht gerechnet hatte, habe ich viele bewundernswerte Beiträge gelesen, die sich für eine offene, tolerante Gesellschaft aussprechen. Beiträge, die sich gegen Menschenverachtung und die Diskriminierung nicht nur von Menschen, sondern auch unserer Werte und Freiheiten richten. Beiträge, die mir Mut und Hoffnung machen und zeigen, dass ich mit meinen Ansichten in keiner Weise alleine bin. Wenn ich vom Blog in soziale Medien wechsele kommt die Ernüchterung durch zahlreiche Nachrichten aus der aktuellen Lage im Land. Lese ich dort, stellen sich mir immer wieder die Fragen: Wie kann es kommen, dass so viele Menschen nach Rechts tendieren oder mit unfassbarer Gleichgültigkeit, Dinge hinnehmen, die weder zeitgemäß sind, noch in ein modernes Land passen? Lesen sie nicht? Hören sie nicht zu? Begreifen sie nicht oder haben alles vergessen, was aufgeschrieben und erzählt wurde?

Natürlich kann man jede Haltung mit Unzufriedenheit über Politik, über Schwächen im sozialen System, über Berührungsängste und vielem anderen erklären. Aber das allein lässt nicht wirklich begreifen, warum Menschen Parteien wählen, die sie selber in letzter Konsequenz in ihren Freiheiten und Rechten massiv einschränken würde. Ich fürchte fast, dass es mit etwas zusammenhängt, was Uwe Junge von der Partei sagt, die eben keine Alternative ist: „Wir dürften die deutsche Geschichte nicht allein auf die 12 Jahre des Krieges reduzieren. Es wäre natürlich ein Schandfleck der deutschen Geschichte, wäre beileibe aber nicht alles, was die deutsche Geschichte ausmacht.“ Das hört sich rein rational richtig an. Es lässt aber vollkommen außer Acht, wie es zu diesen 12 Jahren kommen konnte und welche Auswirkungen eben diese Jahre nicht nur auf mehr als 6 Millionen tote Menschen hatte, sondern auch auf die Bevölkerung dieses und vieler anderer Länder sowie nachfolgenden Generationen bis heute. Hin und wieder höre ich auch, dass Leute sagen, sie wären im Krieg nicht dabei gewesen, hätten damals noch nicht gelebt, es wäre so lange schon vorbei und müsse auch mal gut sein. Muss es nicht, denn das was wir aktuell erleben, hat seinen unmittelbaren Ursprung in eben jener Zeit. Sind wir Geschichtsmüde geworden?

Doch bevor ich über andere urteile, muss ich bei mir selber schauen. Wenn ich das diesbezüglich tue, stoße ich oft und immer wieder über die in diesem Land ungeliebte Geschichte. Natürlich könnte ich versuchen darüber hinwegzusehen, es ignorieren oder leugnen, aber es hat direkt mit mir selber zu tun und wenn ich das verstehe, kann ich vielleicht auch die anderen verstehen. Ein Beispiel: Wir räumen das Haus der Schwiegermutter leer. In einer Schublade sind verschiedenste Unterlagen gesammelt. Darunter ist ein unscheinbarer A5 Umschlag. Als wir ihn öffnen, finden wir einen 10-seitigen Bericht eines Marinearztes, der die Zerstörung der Stadt Lübeck in der Nacht vom 28.3.1942 beschreibt. Es sind 10 Schreibmaschinenseiten, kein Durchschlag, dabei liegen zwei Zeitungsartikel in alten Drucklettern gesetzt, die den persönlichen Bericht unterstützen. Es ist ein Dokument, das uns erschüttert. Wir finden in der Kürze nicht heraus, was es mit der Familiengeschichte zu tun hat oder wie es in diese Schublade kam. Wir werden uns damit beschäftigen müssen. Ein zweites Beispiel: Ich stehe in einer Buchhandlung und sehe ein Buch in der Auslage. Der Titel besteht aus einem Wort und ich weiß sofort, dass ich angesprochen bin, dass dieses Buch von meiner Generation erzählt und ich es kaufen werde. Es heißt „Kriegsenkel“, wurde von Sabine Bode geschrieben. Erst später erfahre ich, dass es drei Bücher sind – „Die vergesse Generation“ und „Kriegskinder“ runden die Reihe ab. Die Bücher behandeln die Kriegstraumata unserer Großeltern und Eltern, die bis in die heutigen Generationen hineinwirken. Es ist so logisch und klar, was in diesen Büchern beschrieben wird, insbesondere ist es aber eine klare Auseinandersetzung damit, dass wir uns eben nicht mit der Vergangenheit in ausreichenden Maßen beschäftigt haben. Solche Beispiele laufen mir immer wieder über den Weg.

Es gibt keine Familie bei uns, die nicht irgendwo verdrängte Erlebnisse aus der Kriegs- und Nachkriegszeit hat, die nicht von der Teilung Deutschlands und der Wiedervereinigung betroffen war und ist. Es wurde zu keiner Zeit gerne darüber geredet, was diese Ereignisse mit den Familien gemacht haben und wie Lebensläufe dadurch verändert und beeinflusst wurden. In den Schulen wurde viel über die NS-Zeit gelehrt, im öffentlichen Bewusstsein das Gedenken hochgehalten, was es aber im engsten Kreis für Nachwirkungen mit sich zog, wurde stillschweigend erlebt und hingenommen. So gab es beispielsweise in meiner Großelterngeneration zwei politische Richtungen. Die eine Familie lebte und begrüßte das nationalsozialistische Gedankengut. Darin wurde mein Vater groß. Die andere Familie lebte nach sozialistischen, eher kommunistischen Lehren, worin meine Mutter aufwuchs. Meine Eltern habe ich nicht anders erlebt als weltoffene und an fremden Nationen interessierte Menschen. Mit den einen Großeltern war ein Gespräch über Vergangenheit unmöglich, die anderen sprachen oft darüber. Mein Vater sprach oft über Toleranz, Menschenachtung, Motivation und Wertschätzung und es war ein dringendes Bestreben in ihm, das seinen Kindern mitzugeben, in einer Intensität, die uns Kinder eher belastet hat. Warum er, aus einem nationalsozialistischen Elternhaus kommend, seine Ansichten und sein Leben so drastisch änderte, konnte auch meine Mutter nicht mehr beantworten. Heute würde ich andere Fragen stellen als damals. Ihn kann ich nicht mehr fragen.

Auch in der Familie meines Mannes hat die Vergangenheit gravierende Spuren hinterlassen. Sie haben Nachwirkungen bis heute: Die demente Schwiegermutter beschwört von Zeit zu Zeit immer wieder, dass die Papiere des Vaters nicht den Russen in die Hände fallen dürften. Die Familie war Jahrzehnte durch die jeweils Herrschenden schwer belastet. Als Sozialdemokrat unter NS-Herrschaft wurde der Großvater meines Mannes inhaftiert, konnte sich aber durch hohe Fürsprecher in der Marine und im NS-Stab über die Zeit retten. In der DDR Zeit wurde er als NS-Verfolgter nicht enteignet, musste aber Haftzeiten und Repressalien wegen seiner offenen Meinung ertragen. Schulbesuche und gewünschte Ausbildung- und Studiengänge der Kinder wurden immer wieder deshalb blockiert. Letztendlich ist mein Mann ein mit 6 Jahren aus der DDR freigekauftes Kind, damit er bei seiner Mutter im Westen aufwachsen konnte. Die Teilung Deutschlands trennte Geschwister auf Jahrzehnte.

Es sind so viele Ereignisse und Umstände, die bis heute Auswirkungen haben und nicht wirklich verarbeitet sind. Die unterdrückten Erlebnisse und Emotionen der Eltern- und Großelterngeneration wirken bei uns nach, so sehr man auch verstehen kann, dass sie erst mal vordergründig wieder ein ’normales‘ Leben haben wollten. Ich denke, dass unsere Kinder die erste Generation in Deutschland sind, die weitgehend unbelastet von der Vergangenheit aufwachsen. Ihnen ist das Gefühl, vor einer Mauer zu stehen und ein- oder ausgeschlossen zu sein, nicht mehr zu erklären. Ihnen muss klar gemacht werden in welchen Luxus an Freiheit sie aufwachsen und welches Glück sie haben „zufällig“ in diesem sicheren Teil der Erde aufwachsen zu können. Um ihnen das klar zu machen, müssen wir den Älteren zuhören und sie erzählen lassen – ihnen zur Entlastung und uns zur Warnung. Dabei geht es in keiner Weise um Schuld. Geschehenes ist vorbei, nicht wieder gut zu machen und jeder handelt aus seinem aktuellen Konsens heraus. Es geht auch nicht um Scham, denn wer von uns könnte beschwören, dass er aus Angst nicht nachgibt. Es geht darum zu verhindern, dass es wieder passiert. Darum, den Jüngeren bewusst zu machen, was wir zu erwarten haben, wenn wir uns zu leicht beeinflussen und blenden lassen.

Geschichtsbewusstsein darf nicht müde werden, aber vielleicht hören von den Jüngeren mehr zu, wenn sie hören: „Ich habe erlebt …!“ statt „Im Jahr 1943 flogen die Alliierten …!“ Wenn sie merken, dass die Erlebnisse tatsächlich mit uns persönlich zu tun haben, als wenn es Seiten in einem Buch sind, die für die nächste Klausur gelernt sein müssen. Mit sich selber ehrlich sein – Fragen, wen wir noch fragen können – versöhnen, wenn die Möglichkeit besteht … wären Wege Geschichte zu bewältigen. Niemals verstehen werde ich diejenigen, die all dies von sich weisen, offenen Auges und bewusst in die nächste Katastrophe hineinrennen – und wie viele Tausende mitreißen …