Schreiben gegen Rechts – ein Buch der Zuversicht!

Schreiben gegen Rechts

Eine Momentaufnahme in Berlin: Ich gehe in die Markthalle, kaufe beim Wurststand Salami am Stück. Der Verkäufer, der mir sehr freundlich mein Rückgeld gibt, hat asiatische Augen. Die Steinpilze beim Gemüsehändler bekomme ich von einem offensichtlich türkischen Mitbürger. Die Bäckereiverkäuferin antwortet mir in breitestem Schwäbisch. Nachher ruhe ich mich im Café aus. Dort sitzen an einem Tisch englischsprachige Studenten. Am nächsten Tisch unterhalten sich ein deutsches Paar und ein Mann mit holländischem Akzent. Als ich später in den Bus einsteige, lasse ich einer Mutter, die ein Kopftuch trägt, mit ihren Kindern den Vortritt und den Busfahrer kann ich von seinem nationalen Hintergrund her nicht einschätzen. Zuhause angekommen treffe ich vor der Haustür meinen syrischen Nachbarn und grüße ihn herzlich. Kaum habe ich die Haustür hinter mir geschlossen, ruft mich meine Schwägerin an, die aus Kenia stammt. Das ist Realität in Deutschland.

Eine Momentaufnahme nach der Bundestagswahl: Die einen feiern einen für sie großartigen Sieg. 72 Jahre nach Kriegsende zieht eine rechtsgerichtete Partei in den Bundestag ein. Die anderen sind entrüstet und können kaum glauben, was da passiert. Etablierte Parteien und Medien gehen auf Ursachensuche und ringen sich fadenscheinige Begründungen ab. Viele üben sich in Gleichgültigkeit und der Hoffnung, dass das schon wieder vorbeigehen wird. Was haben wir eigentlich bei dieser Wahl erwartet? Dass die rechteste aller Parteien tatsächlich unter fünf Prozent bleibt? Dass es vielleicht nur 6 oder 7 Prozent werden? Und dann? Wäre es weniger schlimm gewesen? Haben wir nicht, wenn wir ehrlich sind, alle gewusst, dass diese gewisse Partei, die eben keine Alternative ist, einen Wahlsieg feiern wird, um den einen oder anderen Prozentpunkt hin oder her?

Lange war klar, dass Probleme in unserem Land nicht rechtzeitig aufgegriffen, lange verschleppt wurden und Unzufriedenheit siegt. Für diese Unzufriedenheit wurde zu lange die Flüchtlingspolitik als Platzhalter hergenommen, ohne zu merken, dass die Probleme viel tiefer sitzen. Zu viele fühlen sich abgehängt in einer Gesellschaft, die sich stolz Sozialstaat und Wirtschaftsmacht nennt und doch das steigende Armutsrisiko zulässt. Zu viele fühlen sich nicht zugehörig, trotz dessen, dass es die Mauer schon 28 Jahre nicht mehr gibt.

Zudem haben wir gewusst, wenn wir ehrlich bleiben, dass rechtes Gedankengut immer unter uns war. Nach dem 2. Weltkrieg und in all den Jahren danach. Begriffe wie Kriegskinder und Kriegsenkel werden erst jetzt aufgearbeitet, in einer Zeit, in der die Kriegskindergeneration langsam von uns geht. Wurden die Kriegsenkel im Schulunterricht mit der Geschichte der Nationalsozialisten überfüttert, können viele Jugendliche heute nicht einmal mehr erzählen, warum sich vierzig Jahre eine Mauer durch Deutschland zog. Menschen mit rechtem Gedankengut waren immer unter uns, konnten sich aber in etablierten Parteien wiederfinden. Erst als sich die etablierten Parteien auf die politische Mitte zu bewegten und sich Flüchtlingen öffneten, brauchten Menschen mit ihrem rechten Gedankengut eine neue Partei, die ihnen eine Heimat gibt. Die fand sich und es wurde wieder gesellschaftsfähig rechte Gedanken öffentlich und ohne Scham zu brüllen. Lange haben wir skeptisch über die Landesgrenzen geschaut, in Länder, die alle mit rechten Parteien haderten und gejubelt, wenn diese keine Mehrheiten gewinnen konnten. Wir haben mit Entsetzen die Wahl des amerikanischen Präsidenten beobachtet, der seinen Nationalismus seither dummdreist verbreitet. Nun hat es uns selber getroffen … mit Abgeordneten im Bundestag, die einem Wahlprogramm folgen, das wundern lässt, warum es nur eine einzige Stimme bekommen hat.

Ich habe lange gebraucht um es so anzuerkennen wie es ist: Die ewig Gestrigen spannen populistische Parolen vor ihren Karren und gehen auf Stimmenfang bei den ewig Unzufriedenen. Politiker kümmern sich auch nach der Wahl eher um ihren politischen Einfluss, als den Menschen einmal klar zu signalisieren, dass sie es verstanden haben und sich um die Probleme der kleinen Leute kümmern und zuhören werden. Medien kümmern sich um ihre Zugriffszahlen, füttern uns mit Negativschlagzeilen und bieten den Rechten eine Bühne, die ihnen nicht zusteht. Es waren 12,6 Prozent  … nur 12,6 Prozent oder schon 12,6 Prozent … das haben wir alle künftig in der Hand.

Die Dekadenz mit der wir hier unseren Wohlstand ausleben ist für mich der Punkt, der mir am meisten zu schaffen macht. Wir erleben einen Wohlstand, der sich durch 72 Jahre Frieden in dieser Region aufgebaut hat. Wir leben in einem der sichersten und reichsten Ländern der Welt. Unsere Waffen liefern wir in fremde Länder – sollen sie sich doch die Köpfe einschlagen, solange wir daran verdienen. Wir schotten unseren Reichtum vor denen ab, deren Länder durch Kriege zerstört sind und keine Sicherheit mehr bieten. Wir schließen unsere Grenzen, wenn heimatlose Menschen bei uns Schutz suchen. Wir bewerten, dass das Verhungern kein wirklicher Asylgrund bei uns ist. Und wenn wir als großartige Nation bei deren Aufbau wieder mithelfen, ist nicht selten der Gedanke der Bereicherung dabei. Wir könnten tausende Menschen noch zu uns reinlassen ohne das Geringste zu entbehren. Wenn ich auf die Zahlen der Zwangswanderungen nach dem 2. Weltkrieg schaue, staune ich, dass wir überhaupt über Obergrenzen debattieren. Wir erlauben uns zu bewerten, dass allein unsere Kultur die einzig richtige ist. Lassen aber zu, dass Konzerne auf fremden Kontinenten selbst Wasser als Grundrecht den Menschen vorenthalten. Das Niveau auf dem wir klagen, ist so unglaublich hoch, dass nationalsozialistische Gedanken schon irrational wirken. Die verschobene Realität nationalistischer Menschen so widersinnig und weltfremd, dass man schon fast verzweifeln müsste.

Das tun wir aber nicht – Verzweiflung hat noch nie jemandem genutzt. Ich muss was tun und ich brauche die Gemeinschaft der Menschen, die diese Probleme sehen, aber dennoch an das Gute in der Welt glauben. Es ist mir schon immer schwer gefallen meinen Mund zu halten und ich will es auch gar nicht. Es hat so unglaublich gut getan den Rückhalt zu spüren als ich 2016 zur Blogparade „Schreiben gegen Rechts“ aufgerufen habe. Es kamen 81 wunderbare Beiträge zusammen, die auch heute alle aktuell sind. Das möchte ich gerne mit euch allen weiterführen. Waren es vor einem Jahre die Flüchtlingszahlen, die in aller Munde waren, ist es heute das stärker werden der Rechten. Nehmen wir ihnen die Bühne und geben sie unseren Idealen zurück. Öffnen wir den Blick für Mitmenschlichkeit, eine multikulturelle Gesellschaft und eine Welt, die zusammenrückt:

Lasst uns wieder Beiträge sammeln in einer offenen Blogparade. Offen in der Hinsicht, dass sie nicht zeitlich begrenzt ist. Beteiligt euch mit Beiträgen, die Geschichten von multikulturellem Zusammenleben erzählen. Beiträge über Fakten, die positive Beispiele einer offenen Gesellschaft zeigen. Erzählt von Initiativen und gelungenen Projekten aus der Flüchtlingsarbeit. Erzählt von eurem Untermieter, der erst mit der Zeit eure Worte verstand. Berichtet von Ereignissen über Landesgrenzen hinweg. Beteiligt euch mit Gedichten oder Bildern, die eine bunte, aber eben die tatsächliche Realität in anderen Ländern und unserem Land zeigen. Überlegt, was jeder einzelne von uns aktiv tun kann, um den Rechten ihren Platz zu weisen. Es gibt so wunderbare Möglichkeiten von einer offenen, freien und bunten Gesellschaft zu erzählen. Bedient euch nicht der Sprache der Populisten und der Rechten. Zeigt, dass man Anliegen, Proteste oder Bedenken durchaus respektvoll und konstruktiv darstellen kann. Ich werde keine Beiträge bewerten oder auswählen. Ich fasse sie zusammen.

Veröffentlicht eure Beiträge in eurem Blog mit der Verlinkungen zu diesem Aufruf. Hier setzt ihr euren Link ein, damit er allen zugänglich wird. Ich sammle bis zu einhundert Beiträge und erstelle daraus wieder ein Buch. Dieses Buch ist allen zugänglich, die es lesen möchten. Niemand verdient daran. Es soll ein Buch werden, das einen klaren Standpunkt vermittelt. Ein Buch, dass Bewusstsein schafft. Ein Buch, dass Hoffnung schenkt – ein „Buch der Zuversicht!“.

Ich freue mich von euch zu hören … erzählt anderen davon, denn es geht weiter mit dem „Schreiben gegen Rechts – für Toleranz und Vielfalt!“

Schreiben gegen Rechts – die Blogparade FÜR Toleranz + Vielfalt

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Die Zusammenfassung

Angefangen hat alles aus Ärger und Angst. Ärger über Nachrichten aus der aktuellen Tagespolitik, über Intoleranz, über politische Strömungen, die dem Gedanken unseres Grundgesetzes zuwider laufen und über das historische Vergessen in unserer Geschichte. Angst vor Entwicklungen, die wir nicht mehr aufhalten können, wenn wir nicht rechtzeitig einschreiten. Angst vor offensichtlich immer stärker werdenden rechten Tendenzen in unserem Land. Angst vor Extremismus völlig gleich aus welcher Richtung. Es waren andere Nachrichten, die ich lesen und andere Stimmen, die ich hören wollte. Besonders aber wollte ich nicht, dass wieder einmal zu viele still sind und so unabsichtlich Tendenzen fördern, die niemandem in diesem Land gut tun können. Ich wollte etwas tun und nicht still sein – so entstand die Idee der „Blogparade gegen Rechts“. Ende Februar schrieb ich meinen Aufruf, veröffentlichte ihn in meinem Blog und bangte anfänglich, ob das wohl etwas werden würde. Es wurde … wurde so viel, wie ich es kaum für möglich gehalten hätte. Es versetzt mich jetzt in die Lage, ein wunderbares Statement gegen Rechts, FÜR Toleranz, für eine offene, freie und multikulturelle Gesellschaft, in der Zusammenfassung von 81 Blogbeiträgen vorzustellen.

Was hier zusammen gekommen ist, sind nicht nur 81. Beiträge, es ist auch ein ganzer Monat mit der Auseinandersetzung mit dem Thema. Jeder Beitrag ist auf seine Weise einzigartig. Manche gehen in ähnliche Richtungen und doch bringt jeder eigene Aspekte ein, beleuchtet das Thema von einer anderen Seite oder stellt es auf ganz eigene Weise dar. Jeder Beitrag ist ein Gewinn für denjenigen, der sich kritisch mit den Tendenzen im Land auseinandersetzen will. Es sind sachliche Beiträge, Gedichte, Geschichten, persönliche Erlebnisse oder Beispiele aus Projekten und Hilfeangebote u. v. m. Jeder Beitrag ist ein Bekenntnis, warum wir ein bestimmtes Kapitel unserer Geschichte nicht wiederholen wollen. In seiner Sprache ist jeder anders – manche ganz klar, manche frech, manche deutlich, mache sarkastisch und manche eher versöhnlich. Jeder so, wie er es will, jeder Beitrag steht für sich.

Zu jedem Beitrag und auch dazwischen, schrieben Leser ihre Kommentare. Mal lieb und freundlich, mal kritisch … immer – und das rechne ich allen Lesern hoch an – in angemessenem Ton! Ich habe alles freigeschaltet, was geschrieben wurde. Aus Erfahrung behalte ich mir vor, neue Kommentatoren erstmalig freizuschalten. Kritik bekam ich ebenfalls, die es zu bedenken gab: Warum nur gegen Rechts zum Beispiel. Ganz einfach, weil die Rechten zur Zeit das Bild bestimmen. Grundsätzlich bin ich gegen alles, was extremistisch, undifferenziert und menschenverachtend ist. Warum „Gegen“ und nicht „Für“? Diesbezüglich verweise ich auf den letzten Satz des Aufrufs „Ich würde mich unheimlich freuen, wenn ihr dazu beitragt, dass ein Teil meiner Angst in Stärke und Gewissheit gewandelt wird, dass jeder etwas – nach seinen Mitteln und Möglichkeiten – FÜR unseren offene, freie Gesellschaft tut.“ Auch glaube ich, dass der Aufruf bei weitem nicht die gleiche Aufmerksamkeit bekommen hätte, hätte ich ihn „Für Toleranz und Vielfalt!“ genannt – so traurig das auch sein mag.

Es wurde recht schnell klar, dass eine einfache Auflistung oder Linkliste aller Beiträge der Sache nicht mehr gerecht werden würde. So überlegte ich lange über die Form der Darstellung. Ich denke, ich hätte ein einfaches Pdf mit allen Beiträgen gemacht, aber manchmal ergeben sich Dinge, die sich zeitlich in die Hände spielen. Durch meine Arbeit ergab sich die Notwendigkeit, dass ich mich mit einem neuen Format der Veröffentlichung von Texten auseinander setze, weil die Zeitung, die ich seit Jahren machte, eine neue Form brauchte. So hatte ich mit der Blogparade das ideale Übungsobjekt und kann ein eBook anbieten, das jeder bequem an Smartphone, Tablet oder am Computer lesen kann. Ich betrachte es nicht als Buch (dafür gibt es Fachleute) und die professionellen Autoren unter euch mögen mir gnädig sein. Es ist für mich die bequeme Möglichkeit, alle wunderbaren Beiträge einer breiten Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen. Ich betrachte es auch nicht als „meins“ – es gehört allen teilnehmenden Bloggern gemeinsam. Und ich betrachte es auch nicht als fertig. Zwar habe ich versucht alle Formatierungen der ursprünglichen Beiträge weitestgehend zu übernehmen, alle gesetzten Links zu beachten und Bilder, sofern möglich, einzubinden, aber sicherlich ist mir das ein oder andere durchgerutscht. Die reinen Texte sind 1:1 aus den verlinken Quellen kopiert. Wer also etwas entdeckt, was geändert werden sollte, möge Bescheid geben, sofern er gar nicht damit leben kann. Einzig die immer wiederkehrende Verlinkung auf die Blogparade habe ich weggelassen. Gestalten kann man in einem eBook nur bedingt. Ich habe mich etwas daran versucht, indem ich den Anfang jedes Kapitels in Formatierung der Schrift und durch Bilder gleich aussehen lies.

„Nicht fertig“ bedeutet für mich auch, dass ich die Parade nicht als beendet betrachte. Ein paar Beiträge fehlen dabei. Ein Blog war vollständig gelöscht, ein Link funktionierte nicht mehr, ein paar tweets lassen sich nicht zurück verfolgen. Letztlich waren auch noch ein paar Beiträge angekündigt. Nun, wir kennen alle den Alltag, der unsere Pläne durcheinander bringt … ich weiß nicht, ob es verwegen ist, aber bis zu 100 Beiträgen würde ich das eBook erweitern. 19 Kapitel einfügen (das habe ich jetzt gelernt) ist technisch gut machbar. Ich lasse es also offen, ob der ein oder andere noch einen Beitrag hinzufügen möchte.

Die Bearbeitung der einzelnen Beiträge, war für mich noch einmal eine intensive inhaltlich Auseinandersetzung. Ich bin nicht in der Lage zu sagen, welcher mir am besten gefällt. Jeder Beitrag hat etwas für sich. Aus dem Kopf heraus kenne ich den kürzesten, den längsten, den witzigsten, den erschütternsten, den frechsten Beitrag … auf der Höhe der Beiträge, die bewundernswert sind, stehen alle 80 Beiträge gleich … der 81. ist mein eigener, den nehme ich aus. 😉 Absolut begeistert bin ich von den vielen unterschiedlichen Denkansätzen, die hier zusammen kommen. Ich werde sie noch einmal lesen, mir in Ruhe die zugehörigen Verlinkungen ansehen, überdenken, was ich erfahre, dazu lernen und verwerten. Dafür bin ich dankbar!

Dankbar bin ich allen die teilgenommen haben – haben sie mich doch in dem bestätigt, was ich erfahren wollte. Es gibt sie – die Stimmen da draußen, die durchaus etwas dagegen zu setzen und zu sagen haben. Ein Teil meiner Angst ist Stärke und Gewissheit geworden: Nicht alleine zu sein mit meiner Hoffnung, dass eine tolerante Gesellschaft möglich ist, wenn wir nicht müde werden uns dafür einzusetzen und darum kämpfen. Wenn wir mit Wort und Tat Vorbilder werden und daran glauben, dass jeder – wirklich jeder – bei uns seinen Platz hat. Wenn wir uns für Empathie unseren Mitmenschen gegenüber einsetzen und sie ausleben, ganz gleich woher sie kommen, was sie glauben oder welchen kulturellen Hintergrund sie haben. Wenn wir aushalten können, dass es Andersdenkende immer geben wird, für Gespräche mit ihnen offen bleiben und Meinungsvielfalt aktiv leben. Wenn wir Differenzierung von Sachverhalten nicht verlernen. Aber dennoch den Andersdenkenden, empathielosen Mitbürgern, nicht das Feld überlassen.

Ein Dankeschön gilt meinem Mann, meiner Mutter und meinem Chef. Sie stehen immer zu Gesprächen bereit, wenn mich Zweifel plagen oder ich mir in manchen Punkten nicht sicher bin und andere Meinungen brauche. Ein besonderes Dankeschön gilt Günther Kloppert, meinem „alten“ Schulfreund. Er ist kein Blogger – er fotografiert leidenschaftlich und hat viele Bilder für dieses eBook zur Verfügung gestellt. Das ist seine Form des Statements. Alle anderen Bilder stammen aus der freien Pixabay-Auswahl, auch dafür – danke!

Zwei oder dreimal habe ich in einem Kommentar und Beitrag die Frage gelesen, was es bringt, solch eine Blogparade zu veranstalten, was wir dadurch verändern und welche Auswirkungen es hat. Das ist für mich gleichbedeutend mit: „Wir haben ein Problem, aber es lässt sich sowieso nicht lösen, also versuchen wir es erst gar nicht!“ Ich denke, jeder kleinste Versuch, sich für Toleranz und Vielfalt einzusetzen, jedes kleine Lächeln auf der Straße einem Fremden gegenüber, jedes gute Wort an einen Hilfesuchenden, jedes geschriebene oder gesagte Wort für diese gute Sache bewegt und fördert. Jeder von uns ist ein Vorbild in Denken und Handeln – welches Vorbild wir sein möchten, haben wir selber in der Hand. Wir können, jeder einzelne von uns, die Gegenwart und Zukunft positiv und optimistisch gestalten – dieses eBook und sein Statement ist ein Beispiel dafür!

 

Und nun zur Datei:

Das Bild anklicken um das eBook oder
darunter den Link anklicken um alternativ das Pdf herunter zu laden.
(Nur zur Sicherheit sei erwähnt, dass es natürlich kostenfrei ist).

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Blogparade Schreiben gegen Rechts – das Pdf

Ich wünsche allen Lesern der Publikation spannende Lektüre, gute Ein- und Ansichten und freue mich über Rückmeldungen.

… und wenn es euch gefällt – dann bringt es unter die Leute! 🙂

Herzliche Grüße

Anna Schmidt

Nur alte Familiengeschichten?

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Es geht mir seit Tagen durch dem Kopf: Durch die Blogparade, die eine Resonanz bekommen hat mit der ich nicht gerechnet hatte, habe ich viele bewundernswerte Beiträge gelesen, die sich für eine offene, tolerante Gesellschaft aussprechen. Beiträge, die sich gegen Menschenverachtung und die Diskriminierung nicht nur von Menschen, sondern auch unserer Werte und Freiheiten richten. Beiträge, die mir Mut und Hoffnung machen und zeigen, dass ich mit meinen Ansichten in keiner Weise alleine bin. Wenn ich vom Blog in soziale Medien wechsele kommt die Ernüchterung durch zahlreiche Nachrichten aus der aktuellen Lage im Land. Lese ich dort, stellen sich mir immer wieder die Fragen: Wie kann es kommen, dass so viele Menschen nach Rechts tendieren oder mit unfassbarer Gleichgültigkeit, Dinge hinnehmen, die weder zeitgemäß sind, noch in ein modernes Land passen? Lesen sie nicht? Hören sie nicht zu? Begreifen sie nicht oder haben alles vergessen, was aufgeschrieben und erzählt wurde?

Natürlich kann man jede Haltung mit Unzufriedenheit über Politik, über Schwächen im sozialen System, über Berührungsängste und vielem anderen erklären. Aber das allein lässt nicht wirklich begreifen, warum Menschen Parteien wählen, die sie selber in letzter Konsequenz in ihren Freiheiten und Rechten massiv einschränken würde. Ich fürchte fast, dass es mit etwas zusammenhängt, was Uwe Junge von der Partei sagt, die eben keine Alternative ist: „Wir dürften die deutsche Geschichte nicht allein auf die 12 Jahre des Krieges reduzieren. Es wäre natürlich ein Schandfleck der deutschen Geschichte, wäre beileibe aber nicht alles, was die deutsche Geschichte ausmacht.“ Das hört sich rein rational richtig an. Es lässt aber vollkommen außer Acht, wie es zu diesen 12 Jahren kommen konnte und welche Auswirkungen eben diese Jahre nicht nur auf mehr als 6 Millionen tote Menschen hatte, sondern auch auf die Bevölkerung dieses und vieler anderer Länder sowie nachfolgenden Generationen bis heute. Hin und wieder höre ich auch, dass Leute sagen, sie wären im Krieg nicht dabei gewesen, hätten damals noch nicht gelebt, es wäre so lange schon vorbei und müsse auch mal gut sein. Muss es nicht, denn das was wir aktuell erleben, hat seinen unmittelbaren Ursprung in eben jener Zeit. Sind wir Geschichtsmüde geworden?

Doch bevor ich über andere urteile, muss ich bei mir selber schauen. Wenn ich das diesbezüglich tue, stoße ich oft und immer wieder über die in diesem Land ungeliebte Geschichte. Natürlich könnte ich versuchen darüber hinwegzusehen, es ignorieren oder leugnen, aber es hat direkt mit mir selber zu tun und wenn ich das verstehe, kann ich vielleicht auch die anderen verstehen. Ein Beispiel: Wir räumen das Haus der Schwiegermutter leer. In einer Schublade sind verschiedenste Unterlagen gesammelt. Darunter ist ein unscheinbarer A5 Umschlag. Als wir ihn öffnen, finden wir einen 10-seitigen Bericht eines Marinearztes, der die Zerstörung der Stadt Lübeck in der Nacht vom 28.3.1942 beschreibt. Es sind 10 Schreibmaschinenseiten, kein Durchschlag, dabei liegen zwei Zeitungsartikel in alten Drucklettern gesetzt, die den persönlichen Bericht unterstützen. Es ist ein Dokument, das uns erschüttert. Wir finden in der Kürze nicht heraus, was es mit der Familiengeschichte zu tun hat oder wie es in diese Schublade kam. Wir werden uns damit beschäftigen müssen. Ein zweites Beispiel: Ich stehe in einer Buchhandlung und sehe ein Buch in der Auslage. Der Titel besteht aus einem Wort und ich weiß sofort, dass ich angesprochen bin, dass dieses Buch von meiner Generation erzählt und ich es kaufen werde. Es heißt „Kriegsenkel“, wurde von Sabine Bode geschrieben. Erst später erfahre ich, dass es drei Bücher sind – „Die vergesse Generation“ und „Kriegskinder“ runden die Reihe ab. Die Bücher behandeln die Kriegstraumata unserer Großeltern und Eltern, die bis in die heutigen Generationen hineinwirken. Es ist so logisch und klar, was in diesen Büchern beschrieben wird, insbesondere ist es aber eine klare Auseinandersetzung damit, dass wir uns eben nicht mit der Vergangenheit in ausreichenden Maßen beschäftigt haben. Solche Beispiele laufen mir immer wieder über den Weg.

Es gibt keine Familie bei uns, die nicht irgendwo verdrängte Erlebnisse aus der Kriegs- und Nachkriegszeit hat, die nicht von der Teilung Deutschlands und der Wiedervereinigung betroffen war und ist. Es wurde zu keiner Zeit gerne darüber geredet, was diese Ereignisse mit den Familien gemacht haben und wie Lebensläufe dadurch verändert und beeinflusst wurden. In den Schulen wurde viel über die NS-Zeit gelehrt, im öffentlichen Bewusstsein das Gedenken hochgehalten, was es aber im engsten Kreis für Nachwirkungen mit sich zog, wurde stillschweigend erlebt und hingenommen. So gab es beispielsweise in meiner Großelterngeneration zwei politische Richtungen. Die eine Familie lebte und begrüßte das nationalsozialistische Gedankengut. Darin wurde mein Vater groß. Die andere Familie lebte nach sozialistischen, eher kommunistischen Lehren, worin meine Mutter aufwuchs. Meine Eltern habe ich nicht anders erlebt als weltoffene und an fremden Nationen interessierte Menschen. Mit den einen Großeltern war ein Gespräch über Vergangenheit unmöglich, die anderen sprachen oft darüber. Mein Vater sprach oft über Toleranz, Menschenachtung, Motivation und Wertschätzung und es war ein dringendes Bestreben in ihm, das seinen Kindern mitzugeben, in einer Intensität, die uns Kinder eher belastet hat. Warum er, aus einem nationalsozialistischen Elternhaus kommend, seine Ansichten und sein Leben so drastisch änderte, konnte auch meine Mutter nicht mehr beantworten. Heute würde ich andere Fragen stellen als damals. Ihn kann ich nicht mehr fragen.

Auch in der Familie meines Mannes hat die Vergangenheit gravierende Spuren hinterlassen. Sie haben Nachwirkungen bis heute: Die demente Schwiegermutter beschwört von Zeit zu Zeit immer wieder, dass die Papiere des Vaters nicht den Russen in die Hände fallen dürften. Die Familie war Jahrzehnte durch die jeweils Herrschenden schwer belastet. Als Sozialdemokrat unter NS-Herrschaft wurde der Großvater meines Mannes inhaftiert, konnte sich aber durch hohe Fürsprecher in der Marine und im NS-Stab über die Zeit retten. In der DDR Zeit wurde er als NS-Verfolgter nicht enteignet, musste aber Haftzeiten und Repressalien wegen seiner offenen Meinung ertragen. Schulbesuche und gewünschte Ausbildung- und Studiengänge der Kinder wurden immer wieder deshalb blockiert. Letztendlich ist mein Mann ein mit 6 Jahren aus der DDR freigekauftes Kind, damit er bei seiner Mutter im Westen aufwachsen konnte. Die Teilung Deutschlands trennte Geschwister auf Jahrzehnte.

Es sind so viele Ereignisse und Umstände, die bis heute Auswirkungen haben und nicht wirklich verarbeitet sind. Die unterdrückten Erlebnisse und Emotionen der Eltern- und Großelterngeneration wirken bei uns nach, so sehr man auch verstehen kann, dass sie erst mal vordergründig wieder ein ’normales‘ Leben haben wollten. Ich denke, dass unsere Kinder die erste Generation in Deutschland sind, die weitgehend unbelastet von der Vergangenheit aufwachsen. Ihnen ist das Gefühl, vor einer Mauer zu stehen und ein- oder ausgeschlossen zu sein, nicht mehr zu erklären. Ihnen muss klar gemacht werden in welchen Luxus an Freiheit sie aufwachsen und welches Glück sie haben „zufällig“ in diesem sicheren Teil der Erde aufwachsen zu können. Um ihnen das klar zu machen, müssen wir den Älteren zuhören und sie erzählen lassen – ihnen zur Entlastung und uns zur Warnung. Dabei geht es in keiner Weise um Schuld. Geschehenes ist vorbei, nicht wieder gut zu machen und jeder handelt aus seinem aktuellen Konsens heraus. Es geht auch nicht um Scham, denn wer von uns könnte beschwören, dass er aus Angst nicht nachgibt. Es geht darum zu verhindern, dass es wieder passiert. Darum, den Jüngeren bewusst zu machen, was wir zu erwarten haben, wenn wir uns zu leicht beeinflussen und blenden lassen.

Geschichtsbewusstsein darf nicht müde werden, aber vielleicht hören von den Jüngeren mehr zu, wenn sie hören: „Ich habe erlebt …!“ statt „Im Jahr 1943 flogen die Alliierten …!“ Wenn sie merken, dass die Erlebnisse tatsächlich mit uns persönlich zu tun haben, als wenn es Seiten in einem Buch sind, die für die nächste Klausur gelernt sein müssen. Mit sich selber ehrlich sein – Fragen, wen wir noch fragen können – versöhnen, wenn die Möglichkeit besteht … wären Wege Geschichte zu bewältigen. Niemals verstehen werde ich diejenigen, die all dies von sich weisen, offenen Auges und bewusst in die nächste Katastrophe hineinrennen – und wie viele Tausende mitreißen …

Heimat – Heimweh – Hoffnung!

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Als ich mich auf den Weg machte und zur Halle gefahren bin, war ich sehr nachdenklich. Einerseits freute ich mich sehr, dass ich es umsetzen kann. Andererseits war ich nun skeptisch und zweifelte, ob es tatsächlich eine gute Idee war. Eine neue Ausgabe der Stadtteilzeitung war in Vorbereitung und das Leitthema sollte „Heimat“ sein. Deshalb hatte ich überlegt, dass insbesondere die Menschen zu Wort kommen müssten, die ihre Heimat gerade verloren haben. Nun im Auto, so kurz bevor ich die Gelegenheit zum Gespräch bekommen sollte, fiel mir keine gute Anfangsfrage ein. Eine Anfangsfrage, die nicht befürchten ließe, dass die Gefragten gleich in Tränen ausbrechen würden oder ich gar keinen finde, der bereit ist über dieses für Geflüchtete heikle Thema zu sprechen. Die Halle, eine Notunterkunft unter Trägerschaft des Stadtteilzentrums Steglitz e.V., kannte ich sehr gut, weil ich meine Kinder hier oft beim Training beobachtet hatte. Jetzt war ich gespannt, was mich erwartete und musste es auf mich zukommen lassen – nicht ohne Vorbehalte, ob das Ergebnis mich nicht zu sehr erschüttern würde.

Sehr korrekt wurde ich am Eingang von der Security gefragt, was oder zu wem ich wolle und wurde zum richtigen Raum geschickt. Mein Kollege Max Krieger, der Projektleiter der Halle, war noch in einem Gespräch, hatte aber bald Zeit für mich. Ich hatte ihm im Vorfeld gesagt, was ich vor hatte und seine entspannte Art beruhigte mich jetzt doch etwas. Wir machten einen Rundgang durch die Halle, die durch Planen in drei Teilbereiche unterteilt ist. Er zeigte mir die verschiedenen Bereiche, die Essensausgabe, den vorderen Bereich in dem unbegleitete Männer wohnen, den mittleren Bereich für Männer und Frauen und den hinteren Bereich in dem Familien gemeinsam untergebracht sind. In jedem Bereich saßen Männer und Frau zusammen, Gespräche, verschiedene Sprachen und auch viel Lachen war zu hören. Überall standen die „Bettenburgen“ – Doppelbetten, einzeln oder zusammen, mit Decken und Tüchern abgehangen, um so wenigstens ein Minimum an Intimität zu erreichen. Dazwischen überall Menschen an Tischen und Stühlen, die insgesamt das Gefühl vermittelten, dass hier eine gute Stimmung herrscht. Max zeigte mir den eigentlichen Geräteraum, der nun so gut umfunktioniert ist, dass er in eine Kita passen würde. Überall steht sortiertes und aufgeräumtes Spielzeug, gemalte Kinderbilder hängen an den Wänden. Der Raum vermittelt erfolgreich, dass hier sehr auf die kleinen Gäste der Halle geachtet wird.

Als der Rundgang beendet war, grübelte Max, da die Leute, die er sich für ein Gespräch vorgestellt hatte, derzeit nicht in der Halle waren. Ihm fiel jedoch ein, dass wir an einem Tisch vorbeigekommen waren, an dem eine ehrenamtliche Helferin mit einer Familie saß. Dort gingen wir hin und nach einer kurzen Erklärung konnte ich mich dazu setzen. Spielerisch sollte hier etwas Ablenkung verschafft und natürlich auch das deutsche Gespräch geübt werden. Die Helferin hatte einmal einen persischen Freund und konnte dadurch etwas die Sprache sprechen. Zuerst wurde mein Vorhaben erklärt, was sofort auf freundliche Zustimmung stieß. Dann lies ich mir die Familie vorstellen. Bei mir saßen die Mutter Ayeche, die insgesamt acht Kinder hat. Neben ihr die jüngste Tochter Hajar mit 18 Jahren. Ihnen gegenüber saß der 19-jährige Bruder Arvin. Neben Hajar saß ihre Schwägerin Arizuu und der Bruder Firooz. Die Unterhaltung für sich selbst, lässt mich im Nachhinein schmunzeln, hatten wir doch keinen „richtigen“ Dolmetscher bei uns, aber man findet einen Weg. Mit Gesten, Teilen aus Deutsch, Englisch und Farsi, mit Bildwörterbüchern, Heften voll mit Worten in Deutsch und Farsi „erarbeiteten“ wir uns jede Frage und Antwort dazu.

Die Familie kommt aus Afghanistan, aber ein Leben sei dort unter den Taliban nicht mehr möglich gewesen. So sind sie illegal in den Iran geflüchtet. Derzeit leben circa 1 Million offiziell anerkannte und 1,5 bis 2 Millionen illegale afghanische Flüchtlinge im Iran. Auch im Iran konnte die Familie illegal nur unter sehr schweren Bedingungen leben. Es gab keine Arbeit, keine Möglichkeit des Schulbesuchs oder irgendwelche Hoffnungen auf künftig stabile Lebensbedingungen. Hinzu kam, dass der Sohn Firooz die Iranerin Arizuu heiratete. Eine Ehe, die weder im Land Iran noch von Arizuu’s eigener Familie anerkannt wurde. Firooz und seine Familie gehört den Schiiten an, Arizuu zu den Sunniten. Arizuu war vor der Ehe Studentin für Ingenieurwesen Natur und natürliche Ressourcen, was sie aufgeben musste und somit ebenfalls keine Aussicht auf Arbeit hatte. Die Verhältnisse zwangen die Familie auch den Iran zu verlassen und sich auf den langen Weg zu machen. Über die Türkei mit dem Boot nach Griechenland, über den Balkan und Österreich nach Deutschland. Arvin zeigt mir Fotos auf seinem Handy, die die Familie in Verschlägen auf dem Boden schlafend zeigt. Unter freiem Himmel oder Wäldern haben sie geschlafen, 25 Stunden Märsche über Berge mit der alten Mutter hinter sich gebracht, unglaubliche Angst im Boot ausgestanden, weil keiner von ihnen schwimmen kann. Die Menschen, denen sie auf ihrem Weg begegneten, waren in der Mehrzahl freundlich, aber auch sie mussten einen Überfall mit geladenen Waffen und dem Raub ihrer Habseligkeiten ertragen und ebenso die Schikanen von türkischen Polizeimännern erdulden. Es ist kaum vorstellbar, wenn man sich die Karte Europas vor Augen führt, welchen gefahrvollen Weg sie auf sich genommen haben und welcher Zwang dahinter stehen muss, alles aufzugeben, was man bisher hatte oder kannte.

Schließlich traute ich mich doch das Wort Heimat ins Gespräch zu bringen. Sie verstanden mich zuerst nicht, ein Wörterbuch übersetzt das Wort. „Ob sie in die Heimat zurück möchten“, hatte ich gefragt und bekam eher verständnislose Blicke. Arizuu erklärte mir, dass sie und Firooz nur eine Familie werden könnten, wenn sie hier leben dürften, andernfalls könne sie keine Kinder bekommen. Hajar erklärt mir, dass sie unbedingt studieren und Juristin werden möchte. Dazu muss man wissen, dass diese junge Frau, die nie in eine Schule gehen durfte, bestens lesen und schreiben kann. Das hat ihr der Bruder Arvin beigebracht, wenn er nach der Schule nach Hause kam. Arvin möchte schnell die deutsche Sprache lernen, Schulen besuchen und Arzt oder Computerfachmann werden. Firooz möchte unbedingt eine gute Arbeit. Ich verstehe in der Vehemenz mit der sie von ihren Hoffnungen und Plänen erzählen, dass sie ausschließlich eine Zukunft in diesem Land sehen. Das was hinter ihnen liegt, hat kein Heimatgefühl zu bieten, wurden sie dort überall abgelehnt. Ich fragte, ob sie Heimweh haben. Wieder verstanden sie mich nicht. Arvin sah im Wörterbuch nach und sagte laut das Wort in seiner Sprache. Es ist Ayeche, die Mutter, die sofort reagierte. Mit einem heftigen Kopfschütteln machte sie deutlich, dass Heimweh keinen Platz in ihr hat und alle Hoffnung in diesem Land liegen.

Als ich auf meinen Fotoapparat deutete, verschwanden sofort alle drei Frauen in ihrer Bettenburg. Es war klar, dass sie ihre Tücher richten möchten um gut auszusehen, auch die Brüder glätteten die Haare und schon standen alle fünf vor mir. So ein richtiges Lächeln war nicht zu schaffen und das Bild vermittelt nicht ganz die Freundlichkeit, die ich erleben durfte. Ein kleiner Junge im Rollstuhl kam vorbei und wollte auch ein Bild von sich. Ich mache das Foto, zeige es ihm und er probiert sofort, ob mein Fotoapparat „touch“ hat (also das Display interaktiv ist) – er grinste – ist es natürlich nicht. Ich bedankte und verabschiedete mich bei der ganzen Familie mit einem Handschlag. Ayeche drückte meine Hand besonders lange, legt die zweite Hand darüber. Es war, als ob sie mir sagen wollte, dass alles gut wird. Sie schaute mir lange in die Augen mit einem beruhigenden Blick. Ich war berührt.

Als ich mich auf dem Weg nach Hause machte, war ich wieder nachdenklich. Ich habe mich nicht getraut zu fragen, wo der Vater und die anderen Geschwister sind. Ich habe nur an der Oberfläche gekratzt. Wie erschütternd wäre ihre Geschichte, wenn sie alles, mit Dolmetscher, erzählen könnten. Bei all meinen Vorstellungen vor diesem Gespräch, hätte ich mir dieses Ergebnis nicht vorstellen können. Und doch ist es so logisch. Diese Menschen haben alles verloren, waren überall unerwünscht und haben nur noch die Zukunft. Es gibt keine Heimat, keinen Frieden, keine Erinnerungen in die sie zurück können. Es gibt für sie nur das Hier und Jetzt. Der Gedanke, kein Heimweh zu spüren, tut mir persönlich fast körperlich weh. Heimat bekommt in ihrem Sinne eine völlig andere Bedeutung. Es ist nicht der Platz, den ich gewählt habe, den ich kenne, den ich liebe – es ist der Platz, der mich leben lässt, annimmt, so wie ich bin, mich meinen Beitrag zum gemeinschaftlichen Leben leisten lässt. Ich hätte ihnen so gerne Hoffnung gegeben, hätte so gerne gesagt, es wird alles gut, und dass sie hier willkommen sind. Es ging nicht – ich wollte nicht lügen, weil ich nicht weiß, wie sich ihr Aufnahmeverfahren entwickeln wird – und fühle mich nicht gut dabei. Ich möchte meine Heimat so gerne mit diesen Menschen teilen, das fehlende Heimweh mit Zukunft ersetzen!

Leitartikel der Homepage des Stadtteilzentrum Steglitz e.V. vom 15. Februar 2016

Jacob hat den Stern versteckt!

Sternschnuppe - Foto: @nt - Fotolia.com

Foto: @nt – Fotolia.com

Immer im letzten Moment … als ob sie nicht früher daran denken könnte. Jacob war so richtig sauer … und wütend … und traurig … und sowieso. Die Mutter hatte wieder vergessen das Brot mitzubringen und natürlich wollte sie nicht nochmal los. Also schickte sie Jacob … obwohl es kalt war, spät und dunkel und … ja – sowieso. Er ging die Straße herunter und war besonders darauf sauer, dass er bei all dem Schnee keinen Stein finden konnte, den er richtig weit weg treten konnte. Jeder Schritt knirschte unter seinen Füßen, sonst war nichts zu hören und um sich von seinen Gedanken abzulenken zählte er seine Schritte … 127, 128, 129, 130, 131 … knirschend langweilig. Wenigstens war es so spät, dass seine Freunde schon alle zuhause waren und nicht mitbekamen, dass er schon wieder einkaufen musste. Die saßen alle zuhause und konnten es sich gemütlich machen. Jacob nicht.

657, 658, 659 Schritte bis zur Tür vom Bäcker. Jacob klingelte an der Hintertür – es war ja wieder zu spät. Bäcker Friedemann öffnete, sah ihn an und sagte nur: „Ach, du Jacob!“, drehte sich um und kam mit einem Laib Brot zurück. „1,89 € bitte! Und nächstes Mal früher. Muss ja auch mal schlafen, Junge.“ Als wenn ich das nicht wüsste, dachte Jacob sich, gab ihm das Geld und ging mit einem halbherzigen „Schönen Abend!“ zurück. 673, 674 … so ein Quatsch mit dem Zählen. Also lies er es sein. Er schaute sich die beleuchteten Fenster an, die im Dunkeln immer so gemütlich aussahen. Jedes war anders und hinter jedem stellte er sich vor, wie die Menschen dort an ihren Abendbrot-Tischen saßen und sich vom Tag erzählten. Jacob nicht. Kommt er nachhause, ist der Vater nicht da und die Mutter zu müde um viel zu reden. Sie fragte immer, wie der Tag war und er hatte immer das Gefühl, dass sie seine Antwort schon nicht mehr hörte, so müde war sie oft.

So stampfte, nein, knirschte er weiter durch den Schnee, mit sich und der Welt uneins und grummelte weiter vor sich hin. Die ruhige Straße im Laternenlicht lag verlassen vor ihm, manche Häuser beleuchtet, manche ganz dunkel. Nichts bewegte sich. Kurz vor der letzten Ecke kam er an dem Haus vom alten Meyerhof vorbei, ein uriger alter Mann, der offensichtlich keine Kinder mochte. Sein Haus lag völlig im Dunkeln und Jacob schaute lieber, dass er schnell daran vorbeikam. Lief … und bemerkte nur gerade eben so im Augenwinkel einen hellen Schein im Hof vom Meyerhof. Er stutzte und blieb stehen, konnte es aber nicht genau sehen. Ging drei Schritte zurück, schaute und war sich unsicher. Gerade als er wieder weiterlaufen wollte, sah er ihn doch, den leichten Schein. Nun kämpften die Angst vor dem Meyerhof und seine Neugierde in ihm. Das war schon sehr ungewöhnlich und mit dem Gedanken, dass der alte Mann bestimmt schon im gemütlichen Sessel döste, traute er sich die ersten Schritte in den Hof. Ganz langsam, ganz leise und zögernd. Im Augenwinkel behielt er immer das Haus, kam aber Schritt für Schritt weiter voran. Zweifelte schon, ob er sich nicht getäuscht hatte, als der Schein wieder kurz aufleuchtete und schwächer wurde.

Noch ein paar leise Schritte, dann sah er hinter einem Stapel Holz das Scheinen deutlicher. Aber er sah weit mehr: Zwischen drei Holzscheiten verklemmt lag ein kleiner Stern. Vier Zacken gerade von sich gestreckt, der Fünfte aber komisch gekrümmt und eingeknickt. Jacob stand wie erstarrt davor und mochte nicht recht glauben, was er dort anschaute. Sicherheitshalber rieb er sich die Augen, blinzelte, blickte zur Straße und wieder zurück, aber er lag dort und schaute auch Jacob mit großen Augen an. „Guck nicht so!“ sagte der Stern … Jacob staunte. „Hast du noch nie einen Stern gesehen?“ fragte der Stern. „Nein!“ gestand Jacob und blickte weiter auf das, was nicht dort sein konnte. „Jetzt hilf mir schon,“ quengelte der Stern, „und beweg dich!“ „Nicht so laut,“ sagte Jacob, „nachher wacht der Meyerhof noch auf.“ „Den kenne ich nicht und ich will hier raus“ quengelte der Stern weiter. Jacob kniete sich hin, fasste einen Holzscheit, legte ihn zur Seite. Fasste den zweiten, aber als er den anhob, jammerte der Stern „Au, au au, au … pass ein bisschen auf!“ Also machte Jacob ganz vorsichtig weiter und fragte, nach dem er den dritten Holzscheit zur Seite gelegt hatte, „Und nun?“ „Weiß ich auch nicht.“ sagte der Stern. Jacob überlegte, was er tun solle. Hier bleiben konnte er nicht und den Stern alleine lassen, wollte er nicht. Er zog seine Mütze vom Kopf, legte den Stern vorsichtig hinein und schlich sich vom Hof.

Auf der Straße ging er wie automatisch nach Hause und nahm nichts um sich herum wahr. Sein Herz pochte wie wild und er merkte wie warm es in seinen Armen wurde. Das Brot war vom Morgen, also musste die Wärme vom Stern sein. Das glaubt mir niemand, dachte er sich und überlegte, was er nun machen sollte. „Bist du noch da,“ fragte der Stern. „Wohin bringst du mich?“ „Erstmal nach Hause,“ sagte Jacob. „Wir müssen schauen, wie wir deinen Zacken wieder heile bekommen.“ An der Haustür angekommen, flüsterte er dem Stern zu, dass er leise sein solle, öffnete die Tür, schmiss das Brot auf den Tisch und verschwand sofort in seinem Zimmer. Diesmal war er froh, dass die Mutter manchmal nicht so aufmerksam war. Mit pochendem Herzen stand er hinter der verschlossenen Zimmertür und überlegte. Dann ging er zum Schrank, schob mit einer Hand ein paar Kisten aus der Ecke, legte einen alten Pullover dort hin und darauf vorsichtig den Stern. „Hier kannst du erst einmal ein bisschen ausruhen. Ich schließe die Tür und komme nachher wieder zu dir!“ sagte er dem kleinen Stern, der nicht so ganz glücklich aussah. „Aber nicht vergessen, versprochen,“ piepste der. „Versprochen, großes Ehrenwort!“ flüsterte er ihm zu und schloss leise die Schranktür.

Nachdem Jacob Mantel und Schuhe in die Diele gebracht hatte, ging er zur Mutter in die Küche. „Du hast es ja eilig gehabt. Was ist los?“ fragte die Mutter. „Ach, mir ist nur was für die Schule eingefallen. Ich wollte schnell nachschauen, ob ich das richtige Buch zuhause habe.“ schwindelte er. „Mein großer Junge!“ meinte sie und es folgte ihr übliches Klagelied, wie selbständig Jacob alles machen muss, weil der Vater und sie so viel arbeiten müssen und kaum Zeit für ihn haben. Das würde alles besser werden, versprach sie, sehr bald schon und zwinkerte ihm mit einem aufmunterndem Lächeln an … und musste Gähnen. Ja, er hätte am liebsten auch gegähnt, wäre er nicht so aufgeregt. Das Klagelied und das Versprechen kannte er zur Genüge. So schnell wie möglich, ohne dass es auffiel, aß er sein Brot und verabschiedete sich mit dem Hinweis auf die Schule in sein Zimmer. Der Mutter war es recht – nach ein paar Hausarbeiten sehnte sie sich nach Ruhe. Sie bereitet dem Vater noch ein Brot vor und hatte Jacob schon nicht mehr im Sinn.

Jacob stand lange vor seinem Schrank. Nach einer ganzen Weile ging er hin und öffnete langsam die Tür. Der Stern war noch da, schaute ihn wieder mit großen Augen an. „Geht’s dir gut!“ fragte er und als der Stern langsam nickte, räumte Jacob auch die andere Schrankecke frei und setzte sich dazu. Die Schranktür zog er heran, so dass nur ein ganz kleiner Spalt offen blieb. Er fragte den Stern, ob der Zacken wieder besser wäre, aber der Stern beklagte sich weiter und meinte, er müsse noch etwas ausruhen. „Ich heiße Jacob,“ sagte er. „Weiß ich,“ antwortete der Stern und als er Jacobs Staunen bemerkte meinte er, dass er alle Kinder kenne. Jacob dachte lange nach. „Und weißt du auch, wie es allen Kindern geht?“ fragte er schließlich. Auch das wisse der Stern und fügte hinzu, dass er die Kinder ja in jeder Nacht beobachten könne, sie in ihren Träumen betrachtet und sofort merkt, wenn ein Kind nicht schlafen kann. „Aber nicht heute Nacht,“ bemerkte Jacob und merkte gleich, dass das Scheinen vom Stern etwas schwächer wurde. „Nein, heute Nacht nicht,“ war die Antwort, „da werden wohl viele Kinder nicht so gut schlafen können.“ Jacob fühlte sich jedoch sehr wohl in seiner Nähe, genoss die Wärme, die von ihm ausging und fing er an zu erzählen  – vom Vater, der Mutter, seinen Freunden, von der Schule, vom Alleinsein und selbst der alte Meyerhof kam in seinen Erzählungen vor. Der Stern hörte geduldig zu wie der kleine Junge sein Herz ausschüttete, davon sprach, warum er oft traurig war, ihm seine Wünsche und Träume verriet.

Als Jacob die Augen wieder aufmachte, war es früher Morgen. Er brauchte einen Augenblick um zu begreifen, dass er im Schrank neben dem Stern eingeschlafen war. Als der ihm wieder einfiel, bekam er gleich einen großen Schreck: Er konnte den Stern kaum mehr ausmachen und sah nur noch den Hauch seiner Umrandung, was eher einem Schatten glich. Der Stern war aber wach und beruhigte ihn gleich: „Es ist Tag, mein Junge, tagsüber sehen die Menschen uns Sterne nicht. Heute Abend musst du mich aber wieder fliegen lassen. Dann bin ich genug ausgeruht und kann wieder mit fünf Zacken leuchten.“ „Aber ich möchte gar nicht, dass du wieder gehst. Wenn du bei mir bist, geht es mir gut. Ich fühle mich nicht alleine, kann reden und vergesse alles, was mich stört. Es ist so ein schönes Gefühl, dass ich kaum richtig beschreiben kann“ Der Stern erinnerte ihn aber an alle Kinder, die dann einen Stern weniger am Himmel hätten. Die nicht so gut schlafen könnten, weil einfach etwas fehlen würde. Und Kinder, die nicht schlafen könnten, auch am Tag kaum Freude finden könnten.

Doch Jacob blieb stur. Er ließ den Stern im Schrank zurück und ärgerte sich. Ärgerte sich auf dem Weg zur Schule, in der Schule und auf dem Weg nach Hause – über alles, was ihm begegnete. Was interessieren ihn die anderen Kinder. Er wollte doch endlich nicht mehr allein sein, gut schlafen, jemandem alles erzählen können. Er wollte Freude haben und Lachen. Könnte der Stern nicht einfach nur mal an ihn alleine denken? Er saß den ganzen Nachmittag alleine an seinem Fenster, aber ärgerte sich schon ein bisschen weniger. Wenn er der einzige wäre, der Freude hätte, freut sich keiner mit ihm. Wäre er der Einzige der lacht, wäre er Außenseiter und wieder alleine. Alle um ihn herum wären kraftlos und matt. Und der alte Meyerhof bestimmt noch knurriger – der war ja auch mal ein Kind. Aber bei dem Gedanken musste Jacob schon wieder lächeln. Jacob dachte lange nach. Er hatte einmal eine Geschichte gelesen in der stand, dass man reicher wird, wenn man etwas teilt – auch wenn man es sehr lieb hat. Ob das wohl auch für Sterne galt?

Als Jacob klar wurde, wie dunkel es wieder war, stand er auf und ging zum Schrank. Es fiel ihm schwer die Schranktür aufzumachen und den Stern anzusehen. „Es wird Zeit für dich, kleiner Stern. Bist du wieder ganz heile und gesund?“ „Ja, ich bin bereit,“ erklärte der Stern mit kraftvoller Stimme. „Wie bist du eigentlich herunter gefallen,“ fragte Jacob. Der Stern erklärte ihm, dass ihm das öfter passieren würde. „Immer wenn mich jemand aufgibt, falle ich vom Himmel. Dann muss ich mich erholen, versuchen denjenigen wieder ins Boot – also eher an den Himmel – zu holen und dann geht es wieder. Aber ich gebe zu, dass ich meistens nicht so bequem in einem Schrank liegen kann.“ Jacob lächelte: „Das hört sich sehr beschäftigt an.“ „Ja, das bin ich. Manche machen es mir gar nicht so leicht“ Jacob hob den Stern sanft mit seinen Händen hoch und trug ihn zum Fenster. Öffnete das Fenster und hielt den Stern in die Luft. „Ich wünsche dir einen guten Flug. Eine Frage habe ich aber noch, kleiner Stern. Wie heißt du eigentlich?“ Der kleine Stern fing langsam an zu schweben, immer ein wenig höher und höher. „Ich heiße Hoffnung, Jacob, und du solltest mich nie verlieren!“ und dann war er schon fast nur ein heller Punkt. In dem Moment klopfte es an Jacobs Zimmertür. Die Mutter öffnete und Jacob drehte sich zu ihr um. „Jacob? Der Vater ist schon Zuhause. Wir möchten mit dir reden, mein Kind!“

Mit Sicherheit „JA!“

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Foto: Henriette Schmidt

Die größtmögliche Vermeidung eines jeglichen Risikos, das unsere Person, Familie oder unsere Lebensumstände stört, um den Zustand der Sicherheit (lat. sēcūritās) zu erreichen, liegt von Natur aus im Bestreben der Menschen. Diese Sicherheit unterliegt jedoch permanenter Veränderung, da Fortschritt und Weiterentwicklung ebenso in seiner Natur liegen. Wenn sich nun Grenzen verändern, Lebensumstände untragbar werden, Kriege ein Leben unmöglich machen, fängt der Mensch an zu wandern und das Sicherheitsgefüge vieler gerät ins wanken. Diejenigen, die sicher beheimatet sind, möchten den Zustand bewahren. Diejenigen, die wandern, möchten den Zustand erlangen. Auch aus dem zweiten Aspekt, dort wo Wenige mehr haben als Viele und Ungerechtigkeit eine Überlebensfrage wird, wandert der Mensch und wird das Sicherheitsempfinden anderer ins Wanken bringen. Das richtige Mittelmaß beider Gruppen zu sättigen, würde die Flüchtlingsfrage, den Ursprung von Rassismus und Ausländerfeindlichkeit dauerhaft lösen

Aber dieses Mittelmaß wird es nie geben und es wird immer eine Frage der Bereitschaft bleiben, Veränderungen zuzulassen oder sich ihnen entgegenzustellen. Es wird immer Menschen geben, die teilen und helfen, oder Menschen, denen die eigene Besitzstandswahrung wichtiger ist. Es gibt immer Menschen, die sich für Flüchtlinge engagieren und die Flüchtlingsarbeit als gesellschaftliche Aufgabe und Verantwortung sehen. Genauso wie es Menschen gibt, die aus eigener Unsicherheit oder Ängsten für diese Arbeit nicht zu öffnen sind oder ganz einfach nicht zuhören und verstehen wollen. Umso wichtiger ist es, dass die Einsichtigen den Flüchtlingen helfen, sich mit ihnen auseinander setzen, ihre Motive hören und versuchen zu verstehen, warum sie sich auf unglaubliche Wege machen, Gefahren in Kauf nehmen und einer vollkommen ungewissen Zukunft entgegen gehen.

Hilfreich ist sicherlich, wenn wir den Begriff der Sicherheit einmal für uns selber definieren. Uns selber klar machen, was wir brauchen um uns wohl, angenommen, beschützt, akzeptiert zu fühlen um uns in unserem Umfeld frei und glücklich entfalten zu können. Haben wir das für uns deutlich gemacht, wird auch klar, was diese Menschen alles nicht haben. Nicht einmal, wenn sie es tatsächlich geschafft haben in diesem Land anzukommen.

„Sicherheit ist wie ein Käse mit Löchern.“ sagt Veronika Mampel. Sie hat sich von Anfang an für Flüchtlinge eingesetzt, als die Notunterkunft in der Sporthalle, Lippstädter Straße, eingerichtet wurde. Sie hat mit den Menschen gesprochen, dafür gesorgt, dass sie mit dem Nötigsten versorgt wurden, sich um viele administrative Dinge gekümmert und letztlich dafür gesorgt, dass eine Möglichkeit für diese Menschen bestand, außerhalb der Halle einen Ort zu haben, an dem sie Ruhe finden und sich entspannen können. Das KiJuNa – Kinder-, Jugend- und Nachbarschaftszentrum öffnete für sie die Türen und fortan kamen jeden Tag bis zu 40 Flüchtlinge in die Einrichtung. Man lernte sie kennen, sie erzählten und „Flüchtling“ war kein Wort mehr ohne Gesicht.

Man muss sich vorstellen, sagt Veronika Mampel, dass sie bei Ankunft erst einmal Polizisten sehen. Dann werden sie beispielsweise in einer Halle untergebracht, in der Bett an Bett steht. In der Halle leben Menschen aus verschiedenen Ländern, ggf. aus den Ländern mit denen sich die eigene Heimat im Krieg befindet. Sie wissen nicht, ob ihre Nationalität hier anerkannt ist, können die Anträge nicht verstehen, die sie stellen müssen. Bei allen Fragen, Bedürfnissen, Befürchtungen müssen sie hoffen einen Dolmetscher zu finden der helfen kann. Einzig sicher ist nur das Dach über dem Kopf und das was sie am Körper tragen können. Selbst außerhalb der Halle wissen sie nicht, was für Gefahren in Form von Widerständen, Ablehnung, Fremdenhass, ihnen entgegen tritt. Nur dieser Zustand ist ihnen sicher, solange bis eventuell einmal ihr Status geklärt sein wird. Dürfen sie bleiben, bekommen sie vielleicht ein Gefühl von Sicherheit. Müssen sie gehen, bleibt einzig die Hoffnung, doch noch irgendwo in dieser Welt einen Ort zu leben zu finden.

Die, die erst einmal bleiben dürfen, bis der Status geklärt ist, leben in einer Erstunterkunft. Eine Sozialpädagogin, die sich mit einem Team um diese Menschen kümmert, erzählt uns, dass diese Menschen in großer Unsicherheit leben solange der Status nicht geklärt ist. Das bringt große Probleme in Alltag mit sich, den sie so gerne planen und regeln würden. Dies insbesondere, weil sie das Gefühl haben, in einem Land zu sein, in dem alles möglich ist. Aber, sie erzählt auch von dem großen Vertrauen, das diese Menschen ihnen entgegenbringen, weil sie verstanden haben, dass sie hier nur eine Chance haben, wenn sie sich integrieren. Und natürlich lernt man sie mit der Zeit kennen, versteht die Schicksale, die sie mitbringen. Wenn dann einer von ihnen den Bescheid bekommt, dass er hier bleiben darf, ist es auch immer etwas mit Wehmut verbunden und der Hoffnung auf einen glücklichen weiteren Weg.

Aber es gibt ebenso diejenigen, die nicht anerkannt werden und wieder ihn ihr Heimatland zurück müssen. So ist es auch in der Notunterkunft geschehen und Menschen, mit denen man die ein oder andere Stunde verbracht hat, müssen zurück. Die Ratlosigkeit und Enttäuschung sind dabei kaum in Worte zu fassen. Aber ihre Worte sollten gesagt werden und so folgten ein paar von ihnen einer Einladung zu einem Gespräch im KiJuNa. Es waren serbokroatische und albanische Menschen, die dort saßen und von ihrem Weg erzählten, der sie illegal über Ungarn und Österreich nach Deutschland führt. Alle von der Hoffnung getrieben in ein besseres Leben zu laufen. Sie erzählten von 10stündigen Fußwegen, von den Gefahren und Hindernissen und besonders der Ausweglosigkeit, falls sie wieder zurückkehren müssen. Davon, dass sie sich Geld geliehen hätten um hierher kommen zu können und nicht zu wissen, wie sie es je bei der Rückkehr zurück geben könnten. Der Blick in ihre Gesichter genügt um die menschliche Ratlosigkeit dahinter zu erahnen.

Und trotzdem äußern sie die Dankbarkeit, die sie empfinden, wie sie hier behandelt und aufgenommen wurden. Sagen auch, dass die deutschen Behörden richtig und nach den Gesetzen handeln. Bedanken sich für die Stunden der Abwechslung, der Ruhe und Anteilnahme, die ihnen in der Nachbarschaftseinrichtung entgegengekommen ist.

In diesem Video können sie die Menschen sehen, wie sie von ihrem Leben, der Zukunftsangst und Perspektivlosigkeit sprechen. In ihren Sprachen mit zusammengefassten Übersetzungen. Sicherlich ist nicht alles für uns zu verstehen, dass Gefühl, was diese Menschen durchmachen und erleben wird dennoch transportiert.

Geschichte der Flüchtlinge

Diese Erlebnisse und nicht zuletzt die furchtbaren Nachrichten aus dem Mittelmeer machen deutlich, dass sich Europa für Hilfe suchende Menschen öffnen muss. Es spielt keine Rolle, ob Menschen wegen Krieg oder Verfolgung flüchten müssen oder ob Hunger, Armut und Perspektivlosigkeit die Gründe sind. Immer steht einzig der Wunsch auf ein sicheres Leben im Hintergrund. Unsere vordergründige Sicherheit ist keine Rechtfertigung einen einzigen verzweifelten Menschen ins Elend zurückzuschicken. Und bevor unsere Sicherheit auch nur einen einzigen Kratzer abbekommt, können wir noch sehr viele dieser Menschen an unserem Wohlstand teilhaben lassen! Die Antwort auf die Frage, ob wir Flüchtlingen helfen oder nicht, kann daher nur sein: „Mit Sicherheit JA!“

Einen herzlichen Dank an Veronika Mampel (Gespräch) und Kristoffer Baumann (Video), wodurch dieser Beitrag möglich wurde!

Leitartikel der Homepage des
Stadtteilzentrum Steglitz e.V. vom 27. April 2015

Dein Frieden muss mein Frieden sein

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Frieden hat für mich eine kaum fassbare Größe. Ich lebe in ihm, lebe mit ihm und glaube ein Recht darauf zu haben, in Frieden leben zu können. Er ist immer da seit dem ich denken kann. Ich wünsche ihn mir, meinen Kindern, meinen Freunden, meinen Mitmenschen. Ich kann es mir nicht anders vorstellen, habe nichts anderes kennengelernt und habe doch eine furchtbare Angst davor, dass er eines Tages nicht mehr da sein könnte – hier – dort, wo ich lebe. In meiner Welt.

Ich gehöre der Generation an, die Eltern haben oder hatten, die den Nicht-Frieden erlebt haben. Gehöre zu denjenigen, die eins zu eins die Geschichten erzählt bekamen, die von Krieg, Vertreibung, Bombennächten, Hunger, Verlust von Menschen, Hoffnung und Verzweiflung hörten. Zu denjenigen, die Menschen kennen oder kannten, die Kriegstraumata ihr Leben lang mitnahmen. Aber erlebt habe ich es nicht und kann mir den Schrecken des Krieges nur vorstellen und mit Gesichtern und Erzählungen in Verbindung bringen. Meine Kinder nicht mehr – für sie gibt es nichts anderes als den Frieden in dem wir hier leben. Selbst die Vorstellung des beklemmenden Gefühls an der Berliner Mauer, einer direkten Auswirkung des letzten Krieges bei uns, ist diesen Kindern nicht mehr zu vermitteln. Sie fühlen sich, wie ich, sicher – weil sie ja auch nichts anderes kennengelernt haben. Ich bin dankbar dafür.

Diese Sicherheit endet mit einem Knopfdruck und genau dieser Knopfdruck macht uns die außergewöhnliche Lage klar, in der wir leben. Es bedarf nur den Fernseher anzuschalten um zu erfahren, was in anderen Ländern und der Welt los ist. In den Nachrichten erfahren wir von dem Schrecken, den Menschen in allen Teilen der Welt erleben und dieser Schrecken heißt Krieg. Gerade jetzt finden überall politische Kriege statt, zu nennen sind aktuell die Ukraine, Afghanistan, Irak, Gaza oder Syrien – unter anderen. Aber auch Glaubenskriege in alle Teilen der Welt und soziale Kriege lassen von sich hören, in einer Vielzahl, die kaum mehr zu ertragen ist. In jeder Sekunde leiden und sterben Menschen, weil andere Menschen ihre politischen, wirtschaftlichen oder religiösen Interessen nicht vereinen können. Wir hören, wie der Nachrichtensprecher sagt, dass die Bilder nicht gezeigt werden können, weil sie zu grausam sind. Wir sehen Menschen, die um ihr Leben rennen, dabei die Richtung egal ist, weil es keine Flucht gibt. Wir sehen Gesichter, die das Grauen erleben. Und schalten den Fernseher aus, weil wir diese Nachrichten nicht mehr erfassen können. Oder – schalten um und lenken uns mit einer Talkshow ab – nicht ohne vorher für die Bequemlichkeit vor dem Apparat gesorgt zu haben.

Und was tun wir? Manch einer postet im Facebook-Profil, wie schrecklich er dies alles findet. Mancher klebt sich ein Peace-Zeichen aufs Auto. Mancher schreibt sich den Frust, wie ich, von der Seele. Wenige gehen auf die Straßen, wenige sind aktiv in irgendwelchen Organisationen. Stellung beziehen wir gerne, was ja auch wichtig und richtig ist, aber wirklich aktiv sind wir kaum. Dabei könnten wir alle etwas tun.

Ich denke, dass jeder Frieden im Kopf anfängt. Der erste Schritt zu unseren Friedensbemühungen muss deshalb in unseren Köpfen stattfinden. Wir dürfen nicht in Gleichgültigkeit verharren, weil Kriegsschauplätze in sicherer Entfernung liegen. So ist schon viel erreicht, wenn wir uns selber prüfen und überlegen, wo unsere eigenen Grenzen sind. Wo steckt noch ein kleiner Rest Intoleranz und einseitiges Denken in uns. Wo wären unsere Grenzen Andersartigkeit, Fremdheit oder andere Meinungen zu akzeptieren. Wo wird es uns zu persönlich, dass wir uns in unserer Welt bedroht fühlen. Wir müssen uns prüfen, was uns an Menschen mit anderem Hintergrund oder Nationen, auch religiöser oder sexueller Ausrichtung tatsächlich stört, warum wir manches nicht akzeptieren wollen. Wir müssen thematisieren, wie die Vorstellung und Definition von Frieden beim anderen aussieht und wo dieser Frieden seine Grenze hätte. Denn wenn wir die Grenzen kennen, können wir diese auch benennen und eben mit jenen Menschen in einen Dialog treten und Grenzen für beide Seiten öffnen.

Beide Seiten zusammen zu bringen, ist die Grundlage für jegliche Friedensbemühungen. Um das zu bewerkstelligen muss man immer auch erkennen und begreifen, dass jede Seite ihre eigene Geschichte hat. Nur wenn man die Geschichte des anderen kennt, kann man einlenken, verstehen, Kompromisse schließen und gangbare Wege finden. Es gibt keinen bösen Palästinenser und guten Juden, genauso wenig wie einen bösen Juden und guten Palästinenser. Beide Völker haben einen historischen Weg hinter sich, den man kennen muss um zu verstehen, was in diesen Ländern passiert. Mir ist es vollkommen unverständlich, warum in unserem „sicheren“ Land Geschichts- und Politikunterricht zu Nebenfächern degradiert sind, die leicht abwählbar gar keine Rolle mehr in der Schulbildung der Kinder spielen. Wie sollen Kinder und Jugendliche zu verantwortungsvollen politisch denkenden Menschen erzogen werden, wenn sie Politik aus der historischen Rolle überhaupt nicht mehr verstehen. Statt dessen werden sie durch die Schulzeit geschubst, um möglichst schnell für Staat und Wirtschaft als „Material“ zur Verfügung zu stehen und Bruttosozialprodukt und Renten zu sichern. Wo bitte sollen sie Toleranz lernen, die über Urlaubsbekanntschaften hinaus geht. Wie sollen sie begreifen, aus welchen Gründen Menschen in unserem Land Schutz suchen. Wie verstehen, dass der ganze Globus zusammenhängt und das Wohl eines Volkes auf Kosten der anderen geht. Und wie sollen sie Kulturen verstehen, die sie im Schnellverfahren der Rahmenlehrpläne streifen. Und da brauchen wir nicht einmal in die weite Welt zu schauen, auch unsere eigene Geschichte verblasst immer mehr in den Köpfen. Ein fataler Fehler aus meiner Sicht.

Frieden ist dort nicht möglich, wo wenige ihre einseitigen Interessen mit Macht wahren wollen und Massen lenken. Und gefährlich wird es dort, wo diese wenigen radikal werden. Alles was radikal ist, kann einer Gemeinschaft nicht nutzen. Aber je leichter eine Masse zu lenken ist, desto schneller wird sie für dumm verkauft und in eine Richtung gedrängt, die weder Freiheit noch Gleichberechtigung oder Frieden heißen kann. So ist es geradezu Pflicht für uns, darauf zu achten Medienmacher, Politiker und auch die Wirtschaft kritisch zu betrachten und dort unbequem zu sein, wo es undurchsichtig oder allzu platt erscheint. Kritik zu üben und zu äußern ist nicht nur Recht, es ist auch Pflicht und genau das müssen Kinder lernen. Tun sie aber nicht, wenn sie nur das nächste Klassenziel und das Wohlwollen der Lehrkräfte vor Augen haben.

Um den Frieden in unserem Land zu wahren, müssen wir der kommenden Generation begreiflich machen, dass der Zustand in dem wir leben nicht selbstverständlich ist. Sie müssen verstehen, wie die Welt funktioniert und warum es in anderen Kulturen andere Prioritäten als bei uns gibt. Sie müssen lernen, Konflikte ohne Waffen zu lösen. Sie müssen sich eine Welt gestalten, in der nicht das ständige Wirtschaftswachstum, sondern das friedliche, kompromissfähige Leben die Zukunft sichert. Und wir müssen Kindern vorleben und thematisieren, dass nur die Differenzierung, das Gespräch und Kompromissfähigkeit mit Zukunft gleichzusetzen ist.

Ich hoffe, nichts anderes kennenzulernen als den Frieden in meinem Land. Aber ich möchte auch den Frieden für meine Kinder und deren Kinder, Frieden in anderen Ländern. Dafür kann ich etwas tun. Indem ich in meinem Kopf aufräume, indem ich meine Kinder zu kritischen und bewussten Bürgern erziehe und in dem ich immer wieder offen und laut fordere, dass unsere Zukunftsinvestition nur in den Kindern und Jugendlichen liegen kann. Sie brauchen den Rückhalt und die Sicherheit, dass wir ihnen die Zukunft in unserem Land anvertrauen und die Gewissheit, dass wir alles tun, um sie für diese Aufgabe vorzubereiten. Sie müssen diejenigen sein, die den Friedenswunsch in die Welt tragen und durchsetzen. Unsere Kinder müssen mit unserer Unterstützung Frieden zu einer festen Größe wandeln und das nicht nur bei uns!

Plötzlich ist alles ganz anders

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In dem einen Moment genießen wir es alle – endlich ist Sommer und die Sonne scheint. Gut, es ist vielleicht schon wieder ein bisschen zu warm, aber seien wir ehrlich. Besser als mit dicken Mänteln und roter Nase über Glatteis laufen, ist das Wetter gerade allemal. Wir genießen die Parks, die Gärten, die Blumen und die Möglichkeit sämtliche Freiräume zu nutzen, die sich uns bieten. Wir genießen das Leben in vollen Zügen. Dann kommt plötzlich ein Anruf und alles ist anders.

Eine Nachricht, dass die Mutter, Schwiegermutter und Oma im Krankenhaus liegt. Die Familie bricht sofort alles ab, was im Moment vonstattengeht und orientiert sich von jetzt auf gleich neu. Man setzt sich ins Auto, fährt zum Krankenhaus mit der bangen Hoffnung, dass es nicht so schlimm sein wird, wie man … nein, wie man sich eigentlich nicht denken möchte. Die erste Einschätzung vom Arzt wird eröffnet und dann heißt es abwarten, wie es sich entwickelt. Was kommt am nächsten Tag? Was wird sein, wenn alle Ergebnisse der Untersuchungen vorliegen? Wie sieht die Zukunft aus?

Das ist eine Situation, wie sie jeden Tag geschieht, die wir aber eigentlich nicht wahrhaben wollen. Wir sind froh, wenn sie uns selber nicht trifft. Man hört davon immer wieder von Verwandten, von Nachbarn, von Kollegen oder Freunden von Freunden. Plötzliche Krankheitsfälle oder Unfälle, die dem Leben von einer Minute auf die andere eine völlig andere Richtung geben. Wollen wir auch nicht hören. Wir sind ja gesund und es geht uns gut. Was auch immer so bleiben sollte – hoffen wir.

Nach der ersten Prognose des Arztes kommt die Ernüchterung und es beginnen die Gedankenspiele, was wird wenn dies oder jenes passiert. Spekulationen kreisen im Kopf, aber ein richtiges und befriedigendes Ergebnis kann es nicht geben, denn es ist ja nichts mehr sicher und fest. Und – es wird nie mehr, wie es einmal war. Die einzige Sicherheit.

Die Angehörigen müssen nun warten, gezwungenermaßen. Wie gestaltet sich der Krankheitsverlauf? Mit welchen Einschränkungen ist zu rechnen? Ist eine vollständige Gesundung überhaupt möglich? Jeder verarbeitet für sich selber, auf seine Weise. Hat Bilder im Kopf, erinnert sich an Situationen und versucht seiner Angst Herr zu werden. Gut, wenn man sich austauschen kann. Wenn man gemeinsam verarbeitet, die Situation bespricht und notwendige Schritte plant.

Wenn man denn planen kann! Allzu oft stellen Angehörige in genau solch einer Situation fest, dass sie gar nichts planen dürfen. Das sie nicht entscheiden können. Keinerlei Rechte haben einzugreifen und dem Angehörigen nach ihrem Verständnis unterstützen dürfen. Es fehlen die notwendigen Papiere, Unterlagen, Verfügungen und Vollmachten. Man weiß vielleicht genau, was sich der kranke oder verletzte Angehörige gewünscht hat, dennoch gibt es keine Möglichkeit, dies geltend zu machen, wenn zeitige Vorsorge nicht getroffen wurde. Ein gerichtlich bestellter Vormund wird benannt und Angehörige können nur hoffen, dass er die Lage des Patienten einvernehmlich einschätzt und handelt.

Es tut weh, sich vorzustellen was wird, wenn man selber einmal schwer krank oder so verletzt ist, dass man nicht mehr für sich selber entscheiden kann. Aber die Wahrscheinlichkeit, dass genau dieser Fall eintritt ist enorm hoch. Selbst wenn wir Glück haben, nicht schwer krank werden, keinen Unfall erleben, sondern einfach nur alt werden – irgendwann kommt der Moment indem wir nicht mehr selber entscheiden können. So gilt es vorzusorgen, wenn wir gesund und im Vollbesitz unserer geistigen Kräfte sind. Und dies nicht nur für uns selber, sondern und insbesondere als Entlastung für unsere Angehörigen. Ja, es tut weh, sich diesen schlimmsten Fall der Fälle vorzustellen und entsprechende Papiere vorzubereiten, aber – genau diese Vorbereitung gibt die beruhigende Sicherheit, dass im schlimmsten Fall das getan wird, was wir selber verfügt haben. Das unseren Wünschen Rechnung getragen werden muss und die Menschen, denen wir vertrauen, auch ein Auge darauf haben, dass unsere Verfügungen umgesetzt werden.

Zu nennen sind hierbei die Vorsorgevollmacht, Patientenverfügung, Betreuungsverfügung, Bankvollmachten und ggf. eine Generalvollmacht. Papiere, die eine vertraute Person in die Lage versetzen, unseren bestimmten Willen durchzusetzen. Zudem ersparen wir der Person unseres Vertrauens viele unangenehme Wege und Erklärungen. Die Rechtslage ist klar. Gibt es keine Papiere, gibt es für Angehörige nichts zu tun, außer die Dinge als Zuschauer zu beobachten und hinzunehmen oder einen unangenehmen und schwierigen Instanzenweg zu durchlaufen.

Besondere Vorsicht ist dabei denen zu raten, die glauben, dies gilt nur für erwachsene Kinder und deren Eltern im Seniorenalter. Ehepartner sind genauso betroffen, wie Paare mit Kindern. Lebensgemeinschaften haben wiederum besondere Regelungen, genauso wie Geschwister untereinander. Es gibt ausnahmslos niemanden, der keiner Vorsorge bedarf, was im Fall der Fälle mit ihm geschehen soll. Oder besser noch, was eben nicht mit uns geschehen soll. Wer denkt schon als junge Mutter oder Vater gerne daran, was passiert, wenn beiden Elternteilen ein Unglück geschieht. Haben Sie festgelegt, wer das Sorgerecht und das Aufenthaltsbestimmungsrecht für die Kinder bekommt? Wollen Sie die Entscheidung treffen und festlegen oder überlassen Sie diese den Ämtern, die keinen Einblick haben, wie die familiäre Konstellation wirklich ist? Wem die Kinder vertrauen oder bei wem Sie denken, dass sie in ihrem Sinne weiter erzogen werden könnten. Wer, wenn nicht Sie selber, kann am besten beurteilen, wie der Fall der Fälle in ihrem Sinne geregelt werden sollte.

Informationen dazu findet man an vielen Stellen. Man kann viel Geld dafür ausgeben oder sich an soziale Verbände wie die Caritas oder in Berlin z.B. an die Bezirksämter wenden, die solide Informationen und Hilfe geben können. Bei den Bezirksämtern wird eine Gebühr von 10 € für die Beglaubigung erhoben.

Im Eingangs beschriebenen Fall der Großmutter wurden alle erforderlichen Verfügungen rechtzeitig getroffen. Und so ungewiss die Situation sein mag, ist es beruhigend, dass die Familie aktiv teilhaben, begleiten und entscheiden kann, wie auch immer der Genesungsverlauf aussehen wird. Die Aufmerksamkeit gilt allein dem Patienten und nicht irgendwelchen Formularen, für die man doch keinen Kopf frei hat.