79.344 Schritte durch Prag

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Kurz vor der Abfahrt hatte ich mir überlegt, dass jetzt so eine moderne Fitnessuhr genau richtig wäre. Die hatte ich aber nicht und schaute deshalb im App-Store des Handys nach. Dort wurde schnell fündig und konnte unsere Reise mit einem Schrittzähler antreten. Herr Schmidt und ich hatten die Koffer gepackt. Eine viertägige Reise nach Prag stand uns bevor und wir freuten uns sehr wieder einmal neue Eindrücke und Erlebnisse vor uns zu haben. Von der goldenen Stadt hatte ich sehr oft gehört, dass sie eine Reise wert sei – nun war es soweit. Die Tochter brachte uns zum Bahnhof, das Gleis war schnell gefunden und es konnte gemütlich mit dem Zug losgehen. Viereinhalb Stunden später standen wir in Prag am Bahnhof. Ich kann versichern, dass diese Stadt über alle bekannten öffentlichen Verkehrsmittel verfügt. Ich habe sie gesehen! Aber – Herr Schmidt zieht die tatsächlich und körperlich erlebten Wege vor und wir begannen mit dem kurzen Fußweg zum Hotel … der Schrittzähler konnte seinen Dienst aufnehmen:

Prag ist beeindruckend! In jedem Winkel der Stadt kann man sich leicht in den Anfang des vorherigen Jahrhunderts oder früher versetzen. In jeder Straße reihen sich die alten Fassaden aneinander. Dies beschränkt sich nicht, wie bei uns üblich, auf einen alten Stadtkern. Die alten Stadthäuser sind überall. Und überall mehr oder wenig gut erhalten. Viele Häuser sind modernisiert, aber ebenso viele dem Verfall übergeben oder warten auf einen geneigten Geldgeber. Oft sieht man mehrere modernisierte Häuser und ganz unscheinbar dazwischen ein Haus, das abgeriegelt und unbewohnt ist. Ein Haus, dass offensichtlich von guten alten Tagen träumt und auf neue gute Tage hofft. Viele dieser maroden Häuser sind so schön, dass der Anblick Bedauern hervorruft. Bedauern ist aber fehl am Platz, weil man drei Schritte weiter schon wieder ein neues wunderschönes Haus entdeckt und das in einer Fülle, die tatsächlich sprachlos macht. Die Details der Häuser, die sich in Fenster, Bemalungen, Stuckarbeiten, Figuren, Säulen und vielem anderen zeigen und sie unterscheiden, sind so abwechslungsreich, dass man gar nicht satt wird, zu entdecken, zu schauen und zu staunen.

Wer nun im Geschichtsunterricht gut aufgepasst hat weiß, dass Prag die Stadt des Zweiten Prager Fenstersturzes ist, dem der Beginn des 30-jährigen Krieges zugeschrieben wird. Entsprechend ist klar, welch eine geschichtsträchtige Stadt hier liegt. Auch das zeigt sich in jeder Ecke. Mein Schrittzähler hatte eine ganze Menge zu tun und ich bin mir sicher, dass wir bei weitem nicht alles gesehen haben. Die Karlsburg, das Strahov-Kloster, der alte Königspalast, die Karlsbrücke, das Altstädter Rathaus mit der schönen astronomischen Uhr, die zahlreichen Synagogen, die vielen Kirchen, der Wenzelplatz mit Nationalmuseum und viel andere mehr … vier Tage sind definitiv zu kurz um alles zu sehen. Zu kurz leider auch, um in die Tiefe zu gehen und sich alle anbietenden Ausstellungen und Galerien anzusehen. Im Strahov-Kloster befindet sich beispielsweise das Nationalmuseum für Literatur, das ich gerne angesehen hätte. Wir mussten uns aber immer wieder entscheiden und in diesem Fall sprach die lange Schlange vor dem Eingang, die müden Füße und ein leichtes Brummen im Magen dagegen, hineinzugehen. Es gibt so unglaublich viel anzusehen, dass es sich tatsächlich empfiehlt, sich vorher ein wenig zu informieren, was und in welcher Intensität man es sich ansehen will. Wer, wie wir, einen Eindruck der Stadt haben möchte, braucht nur einen Schrittzähler und einen Verkehrsmittel-resistenten Partner!

Eine meiner Vorlieben ist es mir Kirchen anzusehen, sobald ich in einer fremden Stadt bin. Das haben wir auch hier getan, denn um eine Kirche oder eine Synagoge zu finden braucht man nie lange zu laufen. Etwas befremdlich fanden wir hier, dass man tatsächlich für jede Kirche ein Ticket benötigt und am Sonntag viele Kirchen geschlossen waren. Vormittags wegen Gottesdiensten, was der Christ natürlich akzeptiert, aber auch am Nachmittag wegen Konzerten. Nichtsdestotrotz konnten wir der Vorliebe voll Rechnung tragen und wunderschöne Altäre, Kirchenfenster, Skulpturen und Kirchenschmuck bewundern. Schade fand ich hingegen, dass ich in keiner Kirche eine Kerze anzünden konnte. Ich bin gläubig und das Anzünden der Opferkerze ist eine mich tröstende Gewohnheit geworden. Nun, in Prag gedenkt, wünscht, bittet, hofft man offensichtlich auf andere Weise. Vielleicht weiß ein Leser, warum es dort so ist. Am beeindruckendsten war bei diesem Besuch für mich die Stimmung in der spanischen Synagoge. Am nettesten im kirchlichen Zusammenhang unter anderem die Wasserspeier am Sankt-Veits-Dom.

Mehr dem Schrittzähler und dem müden Fußen gezollt haben wir am Sankt-Veits-Dom viel Spaß gehabt. Wir setzten uns auf eine Bank um eine kleine Pause zu machen. Dabei wurde uns in wenigen Minuten bewusst, wie viele Menschen sich hier in allen möglichen Positionen fotografieren, fotografieren lassen und was sie sich dafür einfallen lassen. Von Profikamera, Handys, Tablets (viele Asiaten laufen tatsächlich mit Tablets herum), war technisch alles dabei und, was ich noch nie so bewusst erlebt habe, sehr viele Leute fotografieren mit Selfie-Verlängerern. Gefragt wurden wir zudem, ob wir einmal ein Foto machen könnten. Überhaupt kann man immer und überall in der Stadt Menschen fotografieren, weil zum einen jeder zweite einen Fotoapparat in der Hand hält und es so viel zu fotografieren gibt, dass kaum einer auf die Idee kommt, selber das Objekt des Bildes zu sein.

Das Wahrzeichen der Stadt, die Karlsbrücke, möchte ich hier explizit erwähnen. Nicht nur, weil sie zu den ältesten Steinbrücken Europas zählt, sondern weil diese Fußgängerbrücke über die schöne Moldau mit ihren 30 Figuren eine besondere Stimmung vermittelt. Hier tobt im wahrsten Sinne des Wortes das Leben. Wir hatten die ganzen Tage bedecktes, trockenes Wetter. Bei Sonnenschein dürfte die Brücke weit belebter sein, als wir es erlebt haben. Von den Figuren gleicht keine der anderen, wobei der Brückenbesucher Kopien sieht, die Originale stehen im Nationalmuseum. Natürlich ist die Brücke Ziel der Touristen wie unsereins, aber auch die Einheimischen nutzen sie offensichtlich intensiv. Dies zeigt sich, wenn man ein bisschen an der Figur der heiligen Johannes von Nepomuk stehen bleibt. Sie ist die älteste der Figuren auf der Brücke. Der Heilige soll an dieser Stelle in den Fluss gestürzt worden sein. Das Relief am Sockel der Figur wird von den Menschen berührt. Hier sieht man, wer sie für ein Erinnerungsfoto berührt oder eben die Einheimischen, die auf die Gelegenheit wartend, die Figur für ein kurzes stilles Gebet berühren. Alle paar Meter stehen Souvenirhändler, die kleines Kunsthandwerk anbieten, alle paar Meter bietet ein Zeichner persönliche Karikaturen an und alle paar Meter steht ein kaum beachteter Bittsteller. Die Brücke verbindet die Altstadt mit der Kleinseite, aber ganz gleich wo man sich in angrenzenden Höhen aufhält, die Brücke mit ihren alten Türmen ist wie ein Mittelpunkt fast von überall zu sehen.

Wer gerne und deftig ist sollte nach Prag fahren. Als wir durch die Stadt gelaufen sind haben wir festgestellt, dass es kaum ein Lokal gibt, in das wir nicht hineingehen würden. Alle Restaurants, Lokalitäten und Cafés sehen einladend aus und versprechen reichliche Genüsse. Wem das noch nicht ausreicht, der kann an zahlreichen Buden in der ganzen Stadt typische Gerichte bekommen, die appetitanregend in großen Pfannen oder Schinken auf großen Grills angeboten werden. Wir sind in ein kleines Lokal zweimal hineingegangen, weil es einerseits wunderbar geschmeckt hat und auch die Atmosphäre und Freundlichkeit nichts zu wünschen übrig ließ. Die Sprache zu verstehen, war äußerst schwierig für mich. Selbst wenn ich Worte zu lesen versuchte, hatte ich eher den Eindruck meine Zunge verknotet sich gleich. Aber mit dem alten „Mit Händen und Füßen“-Prinzip, ein wenig Englisch und Deutsch kommt man überall durch und bekommt entsprechend Gehör. Die Menschen sind durchweg sehr freundlich ihren Touristen gegenüber eingestellt. Wen wundert’s? 😃 Neben den Buden mit leckerem Esse findet man ebenso zahlreich die Buden mit landestypischen Souvenirs – wer es mag, sehr bunt, verschnörkelt und reich verziert.

Uns hat es alles in allem sehr gut gefallen. Das Hotel war schlicht, sauber, gut zu erreichen und der Service bestens. Einziger Nachteil, wir wohnten im sechsten Stock. Bis zum fünften ging der Fahrstuhl, dann kam die Treppe, was nach so einem langen Tag und gefühlt 1 Million Schritte, schwer zu bewältigen war! Der kleine Laden neben dem Hotel versorgte uns bestens mit Getränken, wobei ich verschiedenste Sorten Mineralwasser ausprobierte, bevor ich eins mit Kohlensäure fand. 😃 Bedauerlich war, dass uns auch hier das Elend mancher Menschen begegnete. Natürlich ist es nicht verwunderlich in so einer großen Stadt, aber es schmerzt ja doch, ganz gleich wo man sich aufhält. Und auch die Nachrichten aus Belgien trübten am letzten Tag die Stimmung massiv. Trotzdem überwiegt das Gute und Schöne an dieser Reise, die uns lange in Erinnerung bleiben wird und zum zweiten Besuch einlädt. In guter deutscher Manier sind wir zur Heimreise sehr zeitig im Bahnhof gewesen um das richtige Gleis zu finden. Wir mussten etwas warten und wunderten uns über die Trauben von Menschen, die sich vor den großen Anzeigetafeln sammelten. Plötzlich lösten sie sich auf und waren weg. Minuten später sammelte sich eine neue Traube. Als wir dann unser Gleis suchten war uns klar, was das bedeutete. Anders als bei uns gibt es keine Pläne auf denen die Gleise der Abfahrten stehen. Man muss vor den Tafeln geduldig warten, bis kurz vor Abfahrt das Gleis angegeben wird. Leuchtet es schließlich auf, ist Eile geboten, dies besonders in einem Bahnhof, den man nicht so gut kennt. Nun, wir haben den richtigen Zug erwischt, die richtigen Plätze gefunden und freuten uns auf Zuhause. Die Kinder hatten schon signalisiert, dass der Kühlschrank leer ist … schön, wenn man trotz Eigenständigkeit der Kinder zuhause erwartet wird. 😉 Als wir zuhause waren zeigte der Schrittzähler für die vier Tage zusammengerechnet 79.344 Schritte oder 51,6 Kilometer an. Jeder einzelne Schritt war es wert!

Jacob hat den Stern versteckt!

Sternschnuppe - Foto: @nt - Fotolia.com

Foto: @nt – Fotolia.com

Immer im letzten Moment … als ob sie nicht früher daran denken könnte. Jacob war so richtig sauer … und wütend … und traurig … und sowieso. Die Mutter hatte wieder vergessen das Brot mitzubringen und natürlich wollte sie nicht nochmal los. Also schickte sie Jacob … obwohl es kalt war, spät und dunkel und … ja – sowieso. Er ging die Straße herunter und war besonders darauf sauer, dass er bei all dem Schnee keinen Stein finden konnte, den er richtig weit weg treten konnte. Jeder Schritt knirschte unter seinen Füßen, sonst war nichts zu hören und um sich von seinen Gedanken abzulenken zählte er seine Schritte … 127, 128, 129, 130, 131 … knirschend langweilig. Wenigstens war es so spät, dass seine Freunde schon alle zuhause waren und nicht mitbekamen, dass er schon wieder einkaufen musste. Die saßen alle zuhause und konnten es sich gemütlich machen. Jacob nicht.

657, 658, 659 Schritte bis zur Tür vom Bäcker. Jacob klingelte an der Hintertür – es war ja wieder zu spät. Bäcker Friedemann öffnete, sah ihn an und sagte nur: „Ach, du Jacob!“, drehte sich um und kam mit einem Laib Brot zurück. „1,89 € bitte! Und nächstes Mal früher. Muss ja auch mal schlafen, Junge.“ Als wenn ich das nicht wüsste, dachte Jacob sich, gab ihm das Geld und ging mit einem halbherzigen „Schönen Abend!“ zurück. 673, 674 … so ein Quatsch mit dem Zählen. Also lies er es sein. Er schaute sich die beleuchteten Fenster an, die im Dunkeln immer so gemütlich aussahen. Jedes war anders und hinter jedem stellte er sich vor, wie die Menschen dort an ihren Abendbrot-Tischen saßen und sich vom Tag erzählten. Jacob nicht. Kommt er nachhause, ist der Vater nicht da und die Mutter zu müde um viel zu reden. Sie fragte immer, wie der Tag war und er hatte immer das Gefühl, dass sie seine Antwort schon nicht mehr hörte, so müde war sie oft.

So stampfte, nein, knirschte er weiter durch den Schnee, mit sich und der Welt uneins und grummelte weiter vor sich hin. Die ruhige Straße im Laternenlicht lag verlassen vor ihm, manche Häuser beleuchtet, manche ganz dunkel. Nichts bewegte sich. Kurz vor der letzten Ecke kam er an dem Haus vom alten Meyerhof vorbei, ein uriger alter Mann, der offensichtlich keine Kinder mochte. Sein Haus lag völlig im Dunkeln und Jacob schaute lieber, dass er schnell daran vorbeikam. Lief … und bemerkte nur gerade eben so im Augenwinkel einen hellen Schein im Hof vom Meyerhof. Er stutzte und blieb stehen, konnte es aber nicht genau sehen. Ging drei Schritte zurück, schaute und war sich unsicher. Gerade als er wieder weiterlaufen wollte, sah er ihn doch, den leichten Schein. Nun kämpften die Angst vor dem Meyerhof und seine Neugierde in ihm. Das war schon sehr ungewöhnlich und mit dem Gedanken, dass der alte Mann bestimmt schon im gemütlichen Sessel döste, traute er sich die ersten Schritte in den Hof. Ganz langsam, ganz leise und zögernd. Im Augenwinkel behielt er immer das Haus, kam aber Schritt für Schritt weiter voran. Zweifelte schon, ob er sich nicht getäuscht hatte, als der Schein wieder kurz aufleuchtete und schwächer wurde.

Noch ein paar leise Schritte, dann sah er hinter einem Stapel Holz das Scheinen deutlicher. Aber er sah weit mehr: Zwischen drei Holzscheiten verklemmt lag ein kleiner Stern. Vier Zacken gerade von sich gestreckt, der Fünfte aber komisch gekrümmt und eingeknickt. Jacob stand wie erstarrt davor und mochte nicht recht glauben, was er dort anschaute. Sicherheitshalber rieb er sich die Augen, blinzelte, blickte zur Straße und wieder zurück, aber er lag dort und schaute auch Jacob mit großen Augen an. „Guck nicht so!“ sagte der Stern … Jacob staunte. „Hast du noch nie einen Stern gesehen?“ fragte der Stern. „Nein!“ gestand Jacob und blickte weiter auf das, was nicht dort sein konnte. „Jetzt hilf mir schon,“ quengelte der Stern, „und beweg dich!“ „Nicht so laut,“ sagte Jacob, „nachher wacht der Meyerhof noch auf.“ „Den kenne ich nicht und ich will hier raus“ quengelte der Stern weiter. Jacob kniete sich hin, fasste einen Holzscheit, legte ihn zur Seite. Fasste den zweiten, aber als er den anhob, jammerte der Stern „Au, au au, au … pass ein bisschen auf!“ Also machte Jacob ganz vorsichtig weiter und fragte, nach dem er den dritten Holzscheit zur Seite gelegt hatte, „Und nun?“ „Weiß ich auch nicht.“ sagte der Stern. Jacob überlegte, was er tun solle. Hier bleiben konnte er nicht und den Stern alleine lassen, wollte er nicht. Er zog seine Mütze vom Kopf, legte den Stern vorsichtig hinein und schlich sich vom Hof.

Auf der Straße ging er wie automatisch nach Hause und nahm nichts um sich herum wahr. Sein Herz pochte wie wild und er merkte wie warm es in seinen Armen wurde. Das Brot war vom Morgen, also musste die Wärme vom Stern sein. Das glaubt mir niemand, dachte er sich und überlegte, was er nun machen sollte. „Bist du noch da,“ fragte der Stern. „Wohin bringst du mich?“ „Erstmal nach Hause,“ sagte Jacob. „Wir müssen schauen, wie wir deinen Zacken wieder heile bekommen.“ An der Haustür angekommen, flüsterte er dem Stern zu, dass er leise sein solle, öffnete die Tür, schmiss das Brot auf den Tisch und verschwand sofort in seinem Zimmer. Diesmal war er froh, dass die Mutter manchmal nicht so aufmerksam war. Mit pochendem Herzen stand er hinter der verschlossenen Zimmertür und überlegte. Dann ging er zum Schrank, schob mit einer Hand ein paar Kisten aus der Ecke, legte einen alten Pullover dort hin und darauf vorsichtig den Stern. „Hier kannst du erst einmal ein bisschen ausruhen. Ich schließe die Tür und komme nachher wieder zu dir!“ sagte er dem kleinen Stern, der nicht so ganz glücklich aussah. „Aber nicht vergessen, versprochen,“ piepste der. „Versprochen, großes Ehrenwort!“ flüsterte er ihm zu und schloss leise die Schranktür.

Nachdem Jacob Mantel und Schuhe in die Diele gebracht hatte, ging er zur Mutter in die Küche. „Du hast es ja eilig gehabt. Was ist los?“ fragte die Mutter. „Ach, mir ist nur was für die Schule eingefallen. Ich wollte schnell nachschauen, ob ich das richtige Buch zuhause habe.“ schwindelte er. „Mein großer Junge!“ meinte sie und es folgte ihr übliches Klagelied, wie selbständig Jacob alles machen muss, weil der Vater und sie so viel arbeiten müssen und kaum Zeit für ihn haben. Das würde alles besser werden, versprach sie, sehr bald schon und zwinkerte ihm mit einem aufmunterndem Lächeln an … und musste Gähnen. Ja, er hätte am liebsten auch gegähnt, wäre er nicht so aufgeregt. Das Klagelied und das Versprechen kannte er zur Genüge. So schnell wie möglich, ohne dass es auffiel, aß er sein Brot und verabschiedete sich mit dem Hinweis auf die Schule in sein Zimmer. Der Mutter war es recht – nach ein paar Hausarbeiten sehnte sie sich nach Ruhe. Sie bereitet dem Vater noch ein Brot vor und hatte Jacob schon nicht mehr im Sinn.

Jacob stand lange vor seinem Schrank. Nach einer ganzen Weile ging er hin und öffnete langsam die Tür. Der Stern war noch da, schaute ihn wieder mit großen Augen an. „Geht’s dir gut!“ fragte er und als der Stern langsam nickte, räumte Jacob auch die andere Schrankecke frei und setzte sich dazu. Die Schranktür zog er heran, so dass nur ein ganz kleiner Spalt offen blieb. Er fragte den Stern, ob der Zacken wieder besser wäre, aber der Stern beklagte sich weiter und meinte, er müsse noch etwas ausruhen. „Ich heiße Jacob,“ sagte er. „Weiß ich,“ antwortete der Stern und als er Jacobs Staunen bemerkte meinte er, dass er alle Kinder kenne. Jacob dachte lange nach. „Und weißt du auch, wie es allen Kindern geht?“ fragte er schließlich. Auch das wisse der Stern und fügte hinzu, dass er die Kinder ja in jeder Nacht beobachten könne, sie in ihren Träumen betrachtet und sofort merkt, wenn ein Kind nicht schlafen kann. „Aber nicht heute Nacht,“ bemerkte Jacob und merkte gleich, dass das Scheinen vom Stern etwas schwächer wurde. „Nein, heute Nacht nicht,“ war die Antwort, „da werden wohl viele Kinder nicht so gut schlafen können.“ Jacob fühlte sich jedoch sehr wohl in seiner Nähe, genoss die Wärme, die von ihm ausging und fing er an zu erzählen  – vom Vater, der Mutter, seinen Freunden, von der Schule, vom Alleinsein und selbst der alte Meyerhof kam in seinen Erzählungen vor. Der Stern hörte geduldig zu wie der kleine Junge sein Herz ausschüttete, davon sprach, warum er oft traurig war, ihm seine Wünsche und Träume verriet.

Als Jacob die Augen wieder aufmachte, war es früher Morgen. Er brauchte einen Augenblick um zu begreifen, dass er im Schrank neben dem Stern eingeschlafen war. Als der ihm wieder einfiel, bekam er gleich einen großen Schreck: Er konnte den Stern kaum mehr ausmachen und sah nur noch den Hauch seiner Umrandung, was eher einem Schatten glich. Der Stern war aber wach und beruhigte ihn gleich: „Es ist Tag, mein Junge, tagsüber sehen die Menschen uns Sterne nicht. Heute Abend musst du mich aber wieder fliegen lassen. Dann bin ich genug ausgeruht und kann wieder mit fünf Zacken leuchten.“ „Aber ich möchte gar nicht, dass du wieder gehst. Wenn du bei mir bist, geht es mir gut. Ich fühle mich nicht alleine, kann reden und vergesse alles, was mich stört. Es ist so ein schönes Gefühl, dass ich kaum richtig beschreiben kann“ Der Stern erinnerte ihn aber an alle Kinder, die dann einen Stern weniger am Himmel hätten. Die nicht so gut schlafen könnten, weil einfach etwas fehlen würde. Und Kinder, die nicht schlafen könnten, auch am Tag kaum Freude finden könnten.

Doch Jacob blieb stur. Er ließ den Stern im Schrank zurück und ärgerte sich. Ärgerte sich auf dem Weg zur Schule, in der Schule und auf dem Weg nach Hause – über alles, was ihm begegnete. Was interessieren ihn die anderen Kinder. Er wollte doch endlich nicht mehr allein sein, gut schlafen, jemandem alles erzählen können. Er wollte Freude haben und Lachen. Könnte der Stern nicht einfach nur mal an ihn alleine denken? Er saß den ganzen Nachmittag alleine an seinem Fenster, aber ärgerte sich schon ein bisschen weniger. Wenn er der einzige wäre, der Freude hätte, freut sich keiner mit ihm. Wäre er der Einzige der lacht, wäre er Außenseiter und wieder alleine. Alle um ihn herum wären kraftlos und matt. Und der alte Meyerhof bestimmt noch knurriger – der war ja auch mal ein Kind. Aber bei dem Gedanken musste Jacob schon wieder lächeln. Jacob dachte lange nach. Er hatte einmal eine Geschichte gelesen in der stand, dass man reicher wird, wenn man etwas teilt – auch wenn man es sehr lieb hat. Ob das wohl auch für Sterne galt?

Als Jacob klar wurde, wie dunkel es wieder war, stand er auf und ging zum Schrank. Es fiel ihm schwer die Schranktür aufzumachen und den Stern anzusehen. „Es wird Zeit für dich, kleiner Stern. Bist du wieder ganz heile und gesund?“ „Ja, ich bin bereit,“ erklärte der Stern mit kraftvoller Stimme. „Wie bist du eigentlich herunter gefallen,“ fragte Jacob. Der Stern erklärte ihm, dass ihm das öfter passieren würde. „Immer wenn mich jemand aufgibt, falle ich vom Himmel. Dann muss ich mich erholen, versuchen denjenigen wieder ins Boot – also eher an den Himmel – zu holen und dann geht es wieder. Aber ich gebe zu, dass ich meistens nicht so bequem in einem Schrank liegen kann.“ Jacob lächelte: „Das hört sich sehr beschäftigt an.“ „Ja, das bin ich. Manche machen es mir gar nicht so leicht“ Jacob hob den Stern sanft mit seinen Händen hoch und trug ihn zum Fenster. Öffnete das Fenster und hielt den Stern in die Luft. „Ich wünsche dir einen guten Flug. Eine Frage habe ich aber noch, kleiner Stern. Wie heißt du eigentlich?“ Der kleine Stern fing langsam an zu schweben, immer ein wenig höher und höher. „Ich heiße Hoffnung, Jacob, und du solltest mich nie verlieren!“ und dann war er schon fast nur ein heller Punkt. In dem Moment klopfte es an Jacobs Zimmertür. Die Mutter öffnete und Jacob drehte sich zu ihr um. „Jacob? Der Vater ist schon Zuhause. Wir möchten mit dir reden, mein Kind!“

Hinter den Fenstern

Fenster

Im Dunkeln laufe ich gerne durch die Straßen. Besonders gerne, wenn es ruhig ist und noch lieber, wenn das Wetter schon ahnen lässt, dass es Frühling wird. Ich schaue mir gerne die beleuchteten Fenster an und stelle mir vor, was für Menschen dahinter wohnen könnten.

Es gibt so unterschiedliche Fenster. Manche sind hell erleuchtet, mit sittsamen Vorhängen geschmückt, große Leuchter hängen an der Decke. Dort stelle ich mir meistens ein Ehepaar in bestem Alter und geregelten Verhältnissen vor. Eher nichts besonderes, nichts Aufregendes. Manche Fenster sind so mit Blumen vollgestellt, dass dort bestimmt Menschen wohnen, die einen kleinen Schrebergarten haben. Oder ältere Menschen, die etwas brauchen um sich zu kümmern. Andere Fenster wieder lassen einen Blick auf viele Bücherwände zu. Dort wohnen sicherlich sehr kluge Leute. Hin und wieder entdecke ich Fenster, die irgendeinen Hochbau im Raum vermuten lassen. Dort stelle ich mir Familien vor, die nicht so viel Platz und mehrere Kinder haben. Manche Fenster haben das ganze Jahr über Lichterketten im Rahmen. Manche verraten den Fußball-Fanclub und einige verstecken sich hinter Wintergärten.

Es gibt aber auch oft Fenster, die kalt aussehen. Die Beleuchtung ist abweisend und nichts lässt darauf schließen, wer sich dahinter verbergen könnte. Manche haben gar keine Vorhänge oder halb herunter gelassene Jalousien, nichts deutet auf irgendetwas Individuelles hin. Bei solchen Fenstern habe ich keine Vorstellung, wer sich dahinter verbergen könnte. Aber ich denke oft, dass es wohl keine glücklichen Menschen sind, einsame oder auch kranke. So sehr manche Fenster träumen lassen, so sehr weisen andere Fenster den Betrachter ab.

Ich finde, die Fenster kann man mit den Menschen in dieser Stadt vergleichen. Es gibt so unglaublich viele. Und so unterschiedliche – Fenster und Menschen. Mehrere Millionen Menschen. Eine Zahl, die mir oft Angst macht. Die mir deutlich macht, dass ich nur einer von unglaublich vielen bin. Wenn ich die Zahl höre, frage ich mich oft, mit welchem Recht ich mich für einzigartig halte. Warum ich denke, mich gibt´s nur einmal. Warum ich erwarte von anderen gesehen und wahrgenommen zu werden. Warum ich meinen Lebensraum fordere und schütze. Ich überlege dann oft, wie andere mein „Fenster“ wahrnehmen, dass ich nach außen zu zeigen bereit bin.

Die Fenster gehören zur Fassade ebenso wie beim Menschen die Augen. Ich kann sie nach außen schmücken oder eben auch nicht. Wenn ich aber hinein schauen lasse, bestimme ich selber. Das hängt immer von außen ab – wie schön ist es außen, damit ich wie weit das Fenster oder den Blick hinein öffnen kann. Gilt auch für beide – Fenster wie Menschen.

Manch einer mag mich jetzt für neugierig halten, weil ich Fenster im Dunkeln anschaue. Nein, bin ich nicht. Ich interessiere mich für das, was um mich herum passiert, wer neben mir steht, wem ich begegne, wie er aussieht, was für einen Blick er mir gestattet. Denn so unterschiedlich wie die Fenster sind auch die Menschen hier, trotz der vielen Millionen. Ich wünschte, dass es ganz viele „Fenstergucker“ bei uns gibt. Menschen, die sich für die anderen Menschen interessieren. Versuchen in sie hinein zu blicken, versuchen sie zu verstehen.

Menschen sollten immer versuchen „Fenster“ zu öffnen.

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