Jacob hat den Stern versteckt!

Sternschnuppe - Foto: @nt - Fotolia.com

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Immer im letzten Moment … als ob sie nicht früher daran denken könnte. Jacob war so richtig sauer … und wütend … und traurig … und sowieso. Die Mutter hatte wieder vergessen das Brot mitzubringen und natürlich wollte sie nicht nochmal los. Also schickte sie Jacob … obwohl es kalt war, spät und dunkel und … ja – sowieso. Er ging die Straße herunter und war besonders darauf sauer, dass er bei all dem Schnee keinen Stein finden konnte, den er richtig weit weg treten konnte. Jeder Schritt knirschte unter seinen Füßen, sonst war nichts zu hören und um sich von seinen Gedanken abzulenken zählte er seine Schritte … 127, 128, 129, 130, 131 … knirschend langweilig. Wenigstens war es so spät, dass seine Freunde schon alle zuhause waren und nicht mitbekamen, dass er schon wieder einkaufen musste. Die saßen alle zuhause und konnten es sich gemütlich machen. Jacob nicht.

657, 658, 659 Schritte bis zur Tür vom Bäcker. Jacob klingelte an der Hintertür – es war ja wieder zu spät. Bäcker Friedemann öffnete, sah ihn an und sagte nur: „Ach, du Jacob!“, drehte sich um und kam mit einem Laib Brot zurück. „1,89 € bitte! Und nächstes Mal früher. Muss ja auch mal schlafen, Junge.“ Als wenn ich das nicht wüsste, dachte Jacob sich, gab ihm das Geld und ging mit einem halbherzigen „Schönen Abend!“ zurück. 673, 674 … so ein Quatsch mit dem Zählen. Also lies er es sein. Er schaute sich die beleuchteten Fenster an, die im Dunkeln immer so gemütlich aussahen. Jedes war anders und hinter jedem stellte er sich vor, wie die Menschen dort an ihren Abendbrot-Tischen saßen und sich vom Tag erzählten. Jacob nicht. Kommt er nachhause, ist der Vater nicht da und die Mutter zu müde um viel zu reden. Sie fragte immer, wie der Tag war und er hatte immer das Gefühl, dass sie seine Antwort schon nicht mehr hörte, so müde war sie oft.

So stampfte, nein, knirschte er weiter durch den Schnee, mit sich und der Welt uneins und grummelte weiter vor sich hin. Die ruhige Straße im Laternenlicht lag verlassen vor ihm, manche Häuser beleuchtet, manche ganz dunkel. Nichts bewegte sich. Kurz vor der letzten Ecke kam er an dem Haus vom alten Meyerhof vorbei, ein uriger alter Mann, der offensichtlich keine Kinder mochte. Sein Haus lag völlig im Dunkeln und Jacob schaute lieber, dass er schnell daran vorbeikam. Lief … und bemerkte nur gerade eben so im Augenwinkel einen hellen Schein im Hof vom Meyerhof. Er stutzte und blieb stehen, konnte es aber nicht genau sehen. Ging drei Schritte zurück, schaute und war sich unsicher. Gerade als er wieder weiterlaufen wollte, sah er ihn doch, den leichten Schein. Nun kämpften die Angst vor dem Meyerhof und seine Neugierde in ihm. Das war schon sehr ungewöhnlich und mit dem Gedanken, dass der alte Mann bestimmt schon im gemütlichen Sessel döste, traute er sich die ersten Schritte in den Hof. Ganz langsam, ganz leise und zögernd. Im Augenwinkel behielt er immer das Haus, kam aber Schritt für Schritt weiter voran. Zweifelte schon, ob er sich nicht getäuscht hatte, als der Schein wieder kurz aufleuchtete und schwächer wurde.

Noch ein paar leise Schritte, dann sah er hinter einem Stapel Holz das Scheinen deutlicher. Aber er sah weit mehr: Zwischen drei Holzscheiten verklemmt lag ein kleiner Stern. Vier Zacken gerade von sich gestreckt, der Fünfte aber komisch gekrümmt und eingeknickt. Jacob stand wie erstarrt davor und mochte nicht recht glauben, was er dort anschaute. Sicherheitshalber rieb er sich die Augen, blinzelte, blickte zur Straße und wieder zurück, aber er lag dort und schaute auch Jacob mit großen Augen an. „Guck nicht so!“ sagte der Stern … Jacob staunte. „Hast du noch nie einen Stern gesehen?“ fragte der Stern. „Nein!“ gestand Jacob und blickte weiter auf das, was nicht dort sein konnte. „Jetzt hilf mir schon,“ quengelte der Stern, „und beweg dich!“ „Nicht so laut,“ sagte Jacob, „nachher wacht der Meyerhof noch auf.“ „Den kenne ich nicht und ich will hier raus“ quengelte der Stern weiter. Jacob kniete sich hin, fasste einen Holzscheit, legte ihn zur Seite. Fasste den zweiten, aber als er den anhob, jammerte der Stern „Au, au au, au … pass ein bisschen auf!“ Also machte Jacob ganz vorsichtig weiter und fragte, nach dem er den dritten Holzscheit zur Seite gelegt hatte, „Und nun?“ „Weiß ich auch nicht.“ sagte der Stern. Jacob überlegte, was er tun solle. Hier bleiben konnte er nicht und den Stern alleine lassen, wollte er nicht. Er zog seine Mütze vom Kopf, legte den Stern vorsichtig hinein und schlich sich vom Hof.

Auf der Straße ging er wie automatisch nach Hause und nahm nichts um sich herum wahr. Sein Herz pochte wie wild und er merkte wie warm es in seinen Armen wurde. Das Brot war vom Morgen, also musste die Wärme vom Stern sein. Das glaubt mir niemand, dachte er sich und überlegte, was er nun machen sollte. „Bist du noch da,“ fragte der Stern. „Wohin bringst du mich?“ „Erstmal nach Hause,“ sagte Jacob. „Wir müssen schauen, wie wir deinen Zacken wieder heile bekommen.“ An der Haustür angekommen, flüsterte er dem Stern zu, dass er leise sein solle, öffnete die Tür, schmiss das Brot auf den Tisch und verschwand sofort in seinem Zimmer. Diesmal war er froh, dass die Mutter manchmal nicht so aufmerksam war. Mit pochendem Herzen stand er hinter der verschlossenen Zimmertür und überlegte. Dann ging er zum Schrank, schob mit einer Hand ein paar Kisten aus der Ecke, legte einen alten Pullover dort hin und darauf vorsichtig den Stern. „Hier kannst du erst einmal ein bisschen ausruhen. Ich schließe die Tür und komme nachher wieder zu dir!“ sagte er dem kleinen Stern, der nicht so ganz glücklich aussah. „Aber nicht vergessen, versprochen,“ piepste der. „Versprochen, großes Ehrenwort!“ flüsterte er ihm zu und schloss leise die Schranktür.

Nachdem Jacob Mantel und Schuhe in die Diele gebracht hatte, ging er zur Mutter in die Küche. „Du hast es ja eilig gehabt. Was ist los?“ fragte die Mutter. „Ach, mir ist nur was für die Schule eingefallen. Ich wollte schnell nachschauen, ob ich das richtige Buch zuhause habe.“ schwindelte er. „Mein großer Junge!“ meinte sie und es folgte ihr übliches Klagelied, wie selbständig Jacob alles machen muss, weil der Vater und sie so viel arbeiten müssen und kaum Zeit für ihn haben. Das würde alles besser werden, versprach sie, sehr bald schon und zwinkerte ihm mit einem aufmunterndem Lächeln an … und musste Gähnen. Ja, er hätte am liebsten auch gegähnt, wäre er nicht so aufgeregt. Das Klagelied und das Versprechen kannte er zur Genüge. So schnell wie möglich, ohne dass es auffiel, aß er sein Brot und verabschiedete sich mit dem Hinweis auf die Schule in sein Zimmer. Der Mutter war es recht – nach ein paar Hausarbeiten sehnte sie sich nach Ruhe. Sie bereitet dem Vater noch ein Brot vor und hatte Jacob schon nicht mehr im Sinn.

Jacob stand lange vor seinem Schrank. Nach einer ganzen Weile ging er hin und öffnete langsam die Tür. Der Stern war noch da, schaute ihn wieder mit großen Augen an. „Geht’s dir gut!“ fragte er und als der Stern langsam nickte, räumte Jacob auch die andere Schrankecke frei und setzte sich dazu. Die Schranktür zog er heran, so dass nur ein ganz kleiner Spalt offen blieb. Er fragte den Stern, ob der Zacken wieder besser wäre, aber der Stern beklagte sich weiter und meinte, er müsse noch etwas ausruhen. „Ich heiße Jacob,“ sagte er. „Weiß ich,“ antwortete der Stern und als er Jacobs Staunen bemerkte meinte er, dass er alle Kinder kenne. Jacob dachte lange nach. „Und weißt du auch, wie es allen Kindern geht?“ fragte er schließlich. Auch das wisse der Stern und fügte hinzu, dass er die Kinder ja in jeder Nacht beobachten könne, sie in ihren Träumen betrachtet und sofort merkt, wenn ein Kind nicht schlafen kann. „Aber nicht heute Nacht,“ bemerkte Jacob und merkte gleich, dass das Scheinen vom Stern etwas schwächer wurde. „Nein, heute Nacht nicht,“ war die Antwort, „da werden wohl viele Kinder nicht so gut schlafen können.“ Jacob fühlte sich jedoch sehr wohl in seiner Nähe, genoss die Wärme, die von ihm ausging und fing er an zu erzählen  – vom Vater, der Mutter, seinen Freunden, von der Schule, vom Alleinsein und selbst der alte Meyerhof kam in seinen Erzählungen vor. Der Stern hörte geduldig zu wie der kleine Junge sein Herz ausschüttete, davon sprach, warum er oft traurig war, ihm seine Wünsche und Träume verriet.

Als Jacob die Augen wieder aufmachte, war es früher Morgen. Er brauchte einen Augenblick um zu begreifen, dass er im Schrank neben dem Stern eingeschlafen war. Als der ihm wieder einfiel, bekam er gleich einen großen Schreck: Er konnte den Stern kaum mehr ausmachen und sah nur noch den Hauch seiner Umrandung, was eher einem Schatten glich. Der Stern war aber wach und beruhigte ihn gleich: „Es ist Tag, mein Junge, tagsüber sehen die Menschen uns Sterne nicht. Heute Abend musst du mich aber wieder fliegen lassen. Dann bin ich genug ausgeruht und kann wieder mit fünf Zacken leuchten.“ „Aber ich möchte gar nicht, dass du wieder gehst. Wenn du bei mir bist, geht es mir gut. Ich fühle mich nicht alleine, kann reden und vergesse alles, was mich stört. Es ist so ein schönes Gefühl, dass ich kaum richtig beschreiben kann“ Der Stern erinnerte ihn aber an alle Kinder, die dann einen Stern weniger am Himmel hätten. Die nicht so gut schlafen könnten, weil einfach etwas fehlen würde. Und Kinder, die nicht schlafen könnten, auch am Tag kaum Freude finden könnten.

Doch Jacob blieb stur. Er ließ den Stern im Schrank zurück und ärgerte sich. Ärgerte sich auf dem Weg zur Schule, in der Schule und auf dem Weg nach Hause – über alles, was ihm begegnete. Was interessieren ihn die anderen Kinder. Er wollte doch endlich nicht mehr allein sein, gut schlafen, jemandem alles erzählen können. Er wollte Freude haben und Lachen. Könnte der Stern nicht einfach nur mal an ihn alleine denken? Er saß den ganzen Nachmittag alleine an seinem Fenster, aber ärgerte sich schon ein bisschen weniger. Wenn er der einzige wäre, der Freude hätte, freut sich keiner mit ihm. Wäre er der Einzige der lacht, wäre er Außenseiter und wieder alleine. Alle um ihn herum wären kraftlos und matt. Und der alte Meyerhof bestimmt noch knurriger – der war ja auch mal ein Kind. Aber bei dem Gedanken musste Jacob schon wieder lächeln. Jacob dachte lange nach. Er hatte einmal eine Geschichte gelesen in der stand, dass man reicher wird, wenn man etwas teilt – auch wenn man es sehr lieb hat. Ob das wohl auch für Sterne galt?

Als Jacob klar wurde, wie dunkel es wieder war, stand er auf und ging zum Schrank. Es fiel ihm schwer die Schranktür aufzumachen und den Stern anzusehen. „Es wird Zeit für dich, kleiner Stern. Bist du wieder ganz heile und gesund?“ „Ja, ich bin bereit,“ erklärte der Stern mit kraftvoller Stimme. „Wie bist du eigentlich herunter gefallen,“ fragte Jacob. Der Stern erklärte ihm, dass ihm das öfter passieren würde. „Immer wenn mich jemand aufgibt, falle ich vom Himmel. Dann muss ich mich erholen, versuchen denjenigen wieder ins Boot – also eher an den Himmel – zu holen und dann geht es wieder. Aber ich gebe zu, dass ich meistens nicht so bequem in einem Schrank liegen kann.“ Jacob lächelte: „Das hört sich sehr beschäftigt an.“ „Ja, das bin ich. Manche machen es mir gar nicht so leicht“ Jacob hob den Stern sanft mit seinen Händen hoch und trug ihn zum Fenster. Öffnete das Fenster und hielt den Stern in die Luft. „Ich wünsche dir einen guten Flug. Eine Frage habe ich aber noch, kleiner Stern. Wie heißt du eigentlich?“ Der kleine Stern fing langsam an zu schweben, immer ein wenig höher und höher. „Ich heiße Hoffnung, Jacob, und du solltest mich nie verlieren!“ und dann war er schon fast nur ein heller Punkt. In dem Moment klopfte es an Jacobs Zimmertür. Die Mutter öffnete und Jacob drehte sich zu ihr um. „Jacob? Der Vater ist schon Zuhause. Wir möchten mit dir reden, mein Kind!“

Wo man das kleine Glück findet

kleeblattKondenswasser rollt tropfenweise an den beschlagenen Fenstern runter. Draußen ist es dunkel, die Schneewehen klatschen an die Scheiben und außer dem Brummen des Motors ist weiter nichts zu hören. Seit 17 Minuten fährt der alte Bus die Landstraße entlang. Der Busfahrer konzentriert sich, schweift aber in Gedanken immer wieder zu dem gestrigen Gespräch mit der Ehefrau ab. Die Fahrgäste schauen mit mehr oder weniger leerem Blick vor sich hin und hoffen, dass die Fahrt schnell überstanden ist. Das ist nicht gerade so ein kuscheliger Abend in der Vorweihnachtszeit, wie man ihn sich wünschen würde.

Die Fahrgäste sitzen alle im vorderen Bereich des alten Busses, so als ob sie nicht alleine sein wollten. Dabei könnten sie unterschiedlicher in der Zusammensetzung gar nicht sein. Der alte Mann schaut immer wieder sorgenvoll auf seine Plastiktüte, ob der Inhalt noch heile ist. Die Dame mittleren Alters hofft, dass es wenigstens heute etwas im Fernsehen gibt, was sie interessiert. Der junge Mann, Kopfhörer im Ohr – nun, ob er etwas denkt, wissen wir nicht, aber nach seinem Wippen zu urteilen mag er seine Musik. Die Mutter überlegt, wie sie das alles alleine schaffen soll und das Kind, an ihrer Schulter gelehnt, träumt, dass der Vater doch Urlaub bekommt. Der Manager sieht knurrig und schlecht gelaunt aus und wirkt, als ob er einfach im falschen Bus sitzt. Und das Mädchen hätten wir fast vergessen, ist sie doch so unscheinbar wie ein kleines Mauerblümchen vor einer grauen Wand. 22 Minuten – der alte Bus kämpft sich weiter durch das lausige Winterwetter.

Die Scheibenwischer leisten Schwerstarbeit und versuchen immer wieder freie Sicht zu schaffen. Der Busfahrer überlegt, ob er es ihr hätte sagen sollen. Der Motor brummt monoton und die Reifen versuchen die Spur zu halten. Der Manager überlegt, ob er nicht einfach hätte absagen sollen. Dann ein Rumpeln, es quietscht, der Busfahrer versteift sich, bremst, lenkt gegen, bremst – der alte Bus rutsch und steht. 24 Minuten – die Fahrt ist unterbrochen.

Jetzt reden sie alle durcheinander. Aufgeregt und sorgenvoll. „Alle heile?“ fragt der Busfahrer und schaut besorgt in die Runde. „Ja, nichts passiert, aber wie geht es weiter?“, fragen die Fahrgäste und reden weiter, wieder alle durcheinander und hektisch. Der Busfahrer setzt sich wieder auf seinen Sitz, lässt den Motor an und versucht zu starten, aber die Hinterräder drehen durch und lassen die Weiterfahrt nicht zu. Er stellt das Warnblinklicht ein, nimmt das Funkgerät und sagt der Zentrale Bescheid, dass der alte Bus steht und Hilfe braucht. Das dauert eine Weile, bekommt er zur Antwort, mehr als beeilen könne man sich nicht. Die Fahrgäste überlegen sich Lösungen, die alle nicht greifen und letztendlich ist klar, dass alle warten müssen. 29 Minuten und es ist leise im Bus. Nur die Schneewehen, die an die Scheiben klatschen sind zu hören.

„Jetzt denkt er bestimmt, dass ich nicht komme“, sagt der alte Mann und muss schwer schlucken. „Wer denkt, dass sie nicht kommen?“, fragt die Mutter in die Stille hinein. Nach einer ganzen Weile sagt der alte Mann: „Ich habe ihn alleine gelassen. Vor ganz vielen Jahren. Wollte nach dem großen Glück suchen und bin viel gereist. Das Glück habe ich nicht gefunden und meinen Sohn nachher auch nicht mehr.“ Es vergehen ein paar Momente bis er ergänzt: „Er hat mich wiedergefunden und mich eingeladen. Ich solle ihn erst einmal besuchen und dann entscheiden, ob wir Weihnachten zusammen feiern.“ „Er wartet bestimmt.“ sagt die Mutter, die ihr Kind unwillkürlich enger an sich zieht. Und wieder kommt die Stille zurück in den alten Bus.

Die Dame mittleren Alters kramt in ihrer riesigen Tasche und zieht eine große runde Dose hervor. Umständlich öffnet sie den Deckel und sofort verteilt sich der leckere Keksduft im alten Bus. Sie reicht ihre Keksdose in die Runde und sagt: „Ich wäre froh, wenn jemand auf mich warten würde. Ich backe immer so gerne und viele Kekse, aber habe keinen mit dem ich sie teilen kann. Dann nehme ich sie mit ins Büro, aber dort laufen sie alle daran vorbei.“ Und schon strahlen ihre Augen, weil alle Fahrgäste in die Dose greifen und für die kleine Abwechslung dankbar sind. Der Busfahrer kommt zu den Fahrgästen, setzt sich dazwischen, greift in die Dose und meint eher zu sich selbst: „Die kann sie auch so gut backen. Es wäre wohl besser, ich hätte es gesagt.“ „Was gesagt?“, fragt der mürrische Manager, jetzt muss er hier schon seine Zeit vergeuden und auch noch solche Geschichten anhören. „Wir haben uns gestritten“, antwortet der Busfahrer. „Meine Frau hat Kontoauszüge geholt und gesehen, dass ich Geld geholt hatte. Ich wollte ihr nicht sagen für was. Jetzt denkt sie, ich habe Geheimnisse vor ihr. Es war schlimm. Dabei habe ich einen Tanzkurs gemacht, was sie sich schon so lange gewünscht hatte und Karten für den Silvesterball geholt. Wenn ich es gesagt hätte, wäre der Streit vermeidbar gewesen, aber die Überraschung dahin.“ Das unscheinbare Mädchen lächelt versonnen vor sich hin und meint: „Das ist aber sehr romantisch, was sie gemacht haben. Wenn sie es ihr erzählen wird sie wieder gut mit ihnen sein.“

45 Minuten und alle warten und schweigen eine Weile bis die Mutter erzählt: „Mein Mann und ich waren sogar in einem Tanzclub und sind schon recht gut gewesen. Dann war seine Arbeit weg und wir mussten es aufgeben. Später kam noch die Oma ins Haus, weil sie alt ist. Sie ist lieb und wir verstehen uns, aber die Pflege ist anstrengen. Ich würde manchmal  lieber mit den Kindern spielen, aber dazu fehlt jetzt die Zeit, weil mein Mann wieder Arbeit hat, leider weit weg. Jetzt weiß ich nicht mehr, was besser ist, ein Mann zuhause ohne Arbeit oder ein Mann weit weg mit Arbeit.“ „In jedem Fall ein Mann zuhause“, sagt der alte Mann, „das habe ich alles falsch gemacht. Wenigstens ab und zu muss man zuhause sein.“ „Zuhause“, brummelt der Manager „denke ich auch. Ich bin immer unterwegs, von einem Geschäft zum anderen, aber richtig glücklich macht mich das auch nicht.“ „Aber Glück ist doch so wichtig“, sagt das Mädchen, „nur wo findet man das?“  „Tja, wo findet man das?“, fragt die Dame. 50 Minuten … langsam wird´s kühler im Bus.

„Ob ich einen Keks für den Vater aufheben kann?“ fragt das Kind, den Blick scheu auf den Boden gerichtet. Die Mutter hebt abwehrend die Hände „Aber nein, …“ „Doch, doch“, sagt die Dame, mittleren Alters. „Aber schöner wär´s doch, wenn du sie ihm selbst backen würdest. Das Kind schaut mit erstaunten Augen die Dame an, die gleich weiter meint: „Und noch schöner wäre es, wenn du mit der Mutter backen würdest. Ich komme zu euch und lese der Oma vor, dann hat die Mutter Zeit fürs Backen und dich.” Das Kind strahlt und die Mutter fragt leise „Das würden sie machen?“ Die Dame nickt mit dem Kopf. Ein Lächeln geht in die Runde, es wird kühler und doch ist es wärmer im alten Bus. 60 Minuten, es ist ruhig im Bus.

Das Mädchen zieht die Hand aus der Tasche und zeigt einen Zettel nach oben. „Ich bräuchte nur einen kleinen Moment etwas Glück“, schaut hoch und erschrickt, dass alle Augen auf sie gerichtet sind. „Vor drei Tagen schrieb ich den Zettel mit `Freunde´ oder `Nicht Freunde´ und gab ihn meinem Gegenüber. Der drehte sich um, kritzelte und gab ihn mir sofort zurück. Jetzt habe ich Angst, dass die Antwort weh tun könnte.“ Ruhe, keine Antwort, Stille im Bus. „Kenne ich“, sagt der Manager, „man fordert das Glück heraus und hat Angst vor der eigenen Courage. Aber immer, wenn ich den Mut hatte, etwas Unbequemes zu tun, hatte ich auch das Glück“. Das Funkgerät knarzt, der Fahrer springt auf, sprich Worte und sagt in die Runde „Jetzt haben wir Glück – sie müssen bald hier sein.“ 73 Minuten im alten Bus und Hoffnung kommt auf.

Der Schnee klatscht fest an die Scheiben, doch es sieht schön aus, als das Licht auf den alten Bus zukommt. Jetzt kommt Hilfe und die Heimfahrt wird möglich. Der alte Bus ruckelt an, der Fahrer lenkt gegen und schafft es in die Spur. Es geht weiter. Stille im Bus und jeder mit seinen Gedanken allein. „Trau dich“, sagt der Manager, gar nicht mehr knurrig und lächelt das Mädchen an. Er selbst hat beschlossen, er sagt ab. Ruft lieber den Freund an, ob er ein Bier mit ihm trinken mag.

Erste Lichter in der Ferne, bald ist es geschafft. Alle schauen nach vorne und Erleichterung macht sich breit. Das Mädchen hat heimlich den Zettel geöffnet. Sie lächelt und freut sich und dankt in Gedanken dem knurrigen Manager. Der Halt kommt in Sicht und es warten Leute dort. Dem alten Mann läuft eine Träne übers Gesicht. „Was weinst du?“ fragt der junge Mann, Kopfhörer im Ohr. „Was ist los?“ „Er steht dort“, sagt der alte Mann, „das ist der Sohn.“ „Wie wunderbar“, sagt die Dame und alle freuen sich mit. Der junge Mann, Kopfhörer im Ohr, der schon lang keine Musik sondern Geschichten gehört hat, meint: „Ich weiß jetzt, wo wir das kleine Glück finden – nur in uns selbst!“

In der 97igsten Minute fährt der alte Bus in den Halt ein und das Glück war dabei.