Wo man das kleine Glück findet

kleeblattKondenswasser rollt tropfenweise an den beschlagenen Fenstern runter. Draußen ist es dunkel, die Schneewehen klatschen an die Scheiben und außer dem Brummen des Motors ist weiter nichts zu hören. Seit 17 Minuten fährt der alte Bus die Landstraße entlang. Der Busfahrer konzentriert sich, schweift aber in Gedanken immer wieder zu dem gestrigen Gespräch mit der Ehefrau ab. Die Fahrgäste schauen mit mehr oder weniger leerem Blick vor sich hin und hoffen, dass die Fahrt schnell überstanden ist. Das ist nicht gerade so ein kuscheliger Abend in der Vorweihnachtszeit, wie man ihn sich wünschen würde.

Die Fahrgäste sitzen alle im vorderen Bereich des alten Busses, so als ob sie nicht alleine sein wollten. Dabei könnten sie unterschiedlicher in der Zusammensetzung gar nicht sein. Der alte Mann schaut immer wieder sorgenvoll auf seine Plastiktüte, ob der Inhalt noch heile ist. Die Dame mittleren Alters hofft, dass es wenigstens heute etwas im Fernsehen gibt, was sie interessiert. Der junge Mann, Kopfhörer im Ohr – nun, ob er etwas denkt, wissen wir nicht, aber nach seinem Wippen zu urteilen mag er seine Musik. Die Mutter überlegt, wie sie das alles alleine schaffen soll und das Kind, an ihrer Schulter gelehnt, träumt, dass der Vater doch Urlaub bekommt. Der Manager sieht knurrig und schlecht gelaunt aus und wirkt, als ob er einfach im falschen Bus sitzt. Und das Mädchen hätten wir fast vergessen, ist sie doch so unscheinbar wie ein kleines Mauerblümchen vor einer grauen Wand. 22 Minuten – der alte Bus kämpft sich weiter durch das lausige Winterwetter.

Die Scheibenwischer leisten Schwerstarbeit und versuchen immer wieder freie Sicht zu schaffen. Der Busfahrer überlegt, ob er es ihr hätte sagen sollen. Der Motor brummt monoton und die Reifen versuchen die Spur zu halten. Der Manager überlegt, ob er nicht einfach hätte absagen sollen. Dann ein Rumpeln, es quietscht, der Busfahrer versteift sich, bremst, lenkt gegen, bremst – der alte Bus rutsch und steht. 24 Minuten – die Fahrt ist unterbrochen.

Jetzt reden sie alle durcheinander. Aufgeregt und sorgenvoll. „Alle heile?“ fragt der Busfahrer und schaut besorgt in die Runde. „Ja, nichts passiert, aber wie geht es weiter?“, fragen die Fahrgäste und reden weiter, wieder alle durcheinander und hektisch. Der Busfahrer setzt sich wieder auf seinen Sitz, lässt den Motor an und versucht zu starten, aber die Hinterräder drehen durch und lassen die Weiterfahrt nicht zu. Er stellt das Warnblinklicht ein, nimmt das Funkgerät und sagt der Zentrale Bescheid, dass der alte Bus steht und Hilfe braucht. Das dauert eine Weile, bekommt er zur Antwort, mehr als beeilen könne man sich nicht. Die Fahrgäste überlegen sich Lösungen, die alle nicht greifen und letztendlich ist klar, dass alle warten müssen. 29 Minuten und es ist leise im Bus. Nur die Schneewehen, die an die Scheiben klatschen sind zu hören.

„Jetzt denkt er bestimmt, dass ich nicht komme“, sagt der alte Mann und muss schwer schlucken. „Wer denkt, dass sie nicht kommen?“, fragt die Mutter in die Stille hinein. Nach einer ganzen Weile sagt der alte Mann: „Ich habe ihn alleine gelassen. Vor ganz vielen Jahren. Wollte nach dem großen Glück suchen und bin viel gereist. Das Glück habe ich nicht gefunden und meinen Sohn nachher auch nicht mehr.“ Es vergehen ein paar Momente bis er ergänzt: „Er hat mich wiedergefunden und mich eingeladen. Ich solle ihn erst einmal besuchen und dann entscheiden, ob wir Weihnachten zusammen feiern.“ „Er wartet bestimmt.“ sagt die Mutter, die ihr Kind unwillkürlich enger an sich zieht. Und wieder kommt die Stille zurück in den alten Bus.

Die Dame mittleren Alters kramt in ihrer riesigen Tasche und zieht eine große runde Dose hervor. Umständlich öffnet sie den Deckel und sofort verteilt sich der leckere Keksduft im alten Bus. Sie reicht ihre Keksdose in die Runde und sagt: „Ich wäre froh, wenn jemand auf mich warten würde. Ich backe immer so gerne und viele Kekse, aber habe keinen mit dem ich sie teilen kann. Dann nehme ich sie mit ins Büro, aber dort laufen sie alle daran vorbei.“ Und schon strahlen ihre Augen, weil alle Fahrgäste in die Dose greifen und für die kleine Abwechslung dankbar sind. Der Busfahrer kommt zu den Fahrgästen, setzt sich dazwischen, greift in die Dose und meint eher zu sich selbst: „Die kann sie auch so gut backen. Es wäre wohl besser, ich hätte es gesagt.“ „Was gesagt?“, fragt der mürrische Manager, jetzt muss er hier schon seine Zeit vergeuden und auch noch solche Geschichten anhören. „Wir haben uns gestritten“, antwortet der Busfahrer. „Meine Frau hat Kontoauszüge geholt und gesehen, dass ich Geld geholt hatte. Ich wollte ihr nicht sagen für was. Jetzt denkt sie, ich habe Geheimnisse vor ihr. Es war schlimm. Dabei habe ich einen Tanzkurs gemacht, was sie sich schon so lange gewünscht hatte und Karten für den Silvesterball geholt. Wenn ich es gesagt hätte, wäre der Streit vermeidbar gewesen, aber die Überraschung dahin.“ Das unscheinbare Mädchen lächelt versonnen vor sich hin und meint: „Das ist aber sehr romantisch, was sie gemacht haben. Wenn sie es ihr erzählen wird sie wieder gut mit ihnen sein.“

45 Minuten und alle warten und schweigen eine Weile bis die Mutter erzählt: „Mein Mann und ich waren sogar in einem Tanzclub und sind schon recht gut gewesen. Dann war seine Arbeit weg und wir mussten es aufgeben. Später kam noch die Oma ins Haus, weil sie alt ist. Sie ist lieb und wir verstehen uns, aber die Pflege ist anstrengen. Ich würde manchmal  lieber mit den Kindern spielen, aber dazu fehlt jetzt die Zeit, weil mein Mann wieder Arbeit hat, leider weit weg. Jetzt weiß ich nicht mehr, was besser ist, ein Mann zuhause ohne Arbeit oder ein Mann weit weg mit Arbeit.“ „In jedem Fall ein Mann zuhause“, sagt der alte Mann, „das habe ich alles falsch gemacht. Wenigstens ab und zu muss man zuhause sein.“ „Zuhause“, brummelt der Manager „denke ich auch. Ich bin immer unterwegs, von einem Geschäft zum anderen, aber richtig glücklich macht mich das auch nicht.“ „Aber Glück ist doch so wichtig“, sagt das Mädchen, „nur wo findet man das?“  „Tja, wo findet man das?“, fragt die Dame. 50 Minuten … langsam wird´s kühler im Bus.

„Ob ich einen Keks für den Vater aufheben kann?“ fragt das Kind, den Blick scheu auf den Boden gerichtet. Die Mutter hebt abwehrend die Hände „Aber nein, …“ „Doch, doch“, sagt die Dame, mittleren Alters. „Aber schöner wär´s doch, wenn du sie ihm selbst backen würdest. Das Kind schaut mit erstaunten Augen die Dame an, die gleich weiter meint: „Und noch schöner wäre es, wenn du mit der Mutter backen würdest. Ich komme zu euch und lese der Oma vor, dann hat die Mutter Zeit fürs Backen und dich.” Das Kind strahlt und die Mutter fragt leise „Das würden sie machen?“ Die Dame nickt mit dem Kopf. Ein Lächeln geht in die Runde, es wird kühler und doch ist es wärmer im alten Bus. 60 Minuten, es ist ruhig im Bus.

Das Mädchen zieht die Hand aus der Tasche und zeigt einen Zettel nach oben. „Ich bräuchte nur einen kleinen Moment etwas Glück“, schaut hoch und erschrickt, dass alle Augen auf sie gerichtet sind. „Vor drei Tagen schrieb ich den Zettel mit `Freunde´ oder `Nicht Freunde´ und gab ihn meinem Gegenüber. Der drehte sich um, kritzelte und gab ihn mir sofort zurück. Jetzt habe ich Angst, dass die Antwort weh tun könnte.“ Ruhe, keine Antwort, Stille im Bus. „Kenne ich“, sagt der Manager, „man fordert das Glück heraus und hat Angst vor der eigenen Courage. Aber immer, wenn ich den Mut hatte, etwas Unbequemes zu tun, hatte ich auch das Glück“. Das Funkgerät knarzt, der Fahrer springt auf, sprich Worte und sagt in die Runde „Jetzt haben wir Glück – sie müssen bald hier sein.“ 73 Minuten im alten Bus und Hoffnung kommt auf.

Der Schnee klatscht fest an die Scheiben, doch es sieht schön aus, als das Licht auf den alten Bus zukommt. Jetzt kommt Hilfe und die Heimfahrt wird möglich. Der alte Bus ruckelt an, der Fahrer lenkt gegen und schafft es in die Spur. Es geht weiter. Stille im Bus und jeder mit seinen Gedanken allein. „Trau dich“, sagt der Manager, gar nicht mehr knurrig und lächelt das Mädchen an. Er selbst hat beschlossen, er sagt ab. Ruft lieber den Freund an, ob er ein Bier mit ihm trinken mag.

Erste Lichter in der Ferne, bald ist es geschafft. Alle schauen nach vorne und Erleichterung macht sich breit. Das Mädchen hat heimlich den Zettel geöffnet. Sie lächelt und freut sich und dankt in Gedanken dem knurrigen Manager. Der Halt kommt in Sicht und es warten Leute dort. Dem alten Mann läuft eine Träne übers Gesicht. „Was weinst du?“ fragt der junge Mann, Kopfhörer im Ohr. „Was ist los?“ „Er steht dort“, sagt der alte Mann, „das ist der Sohn.“ „Wie wunderbar“, sagt die Dame und alle freuen sich mit. Der junge Mann, Kopfhörer im Ohr, der schon lang keine Musik sondern Geschichten gehört hat, meint: „Ich weiß jetzt, wo wir das kleine Glück finden – nur in uns selbst!“

In der 97igsten Minute fährt der alte Bus in den Halt ein und das Glück war dabei.

Ein Kommentar zu “Wo man das kleine Glück findet

  1. Martina sagt:

    Liebe Anna, bei der Geschichte ist es mir ganz warm geworden. So schön! Die Geschichte könnte auch glatt in einem Buch veröffentlicht werden. Viel Spaß beim Bloggen und viele Grüße von einer anderen Bloggerin

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