Heimat – Heimweh – Hoffnung!

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Als ich mich auf den Weg machte und zur Halle gefahren bin, war ich sehr nachdenklich. Einerseits freute ich mich sehr, dass ich es umsetzen kann. Andererseits war ich nun skeptisch und zweifelte, ob es tatsächlich eine gute Idee war. Eine neue Ausgabe der Stadtteilzeitung war in Vorbereitung und das Leitthema sollte „Heimat“ sein. Deshalb hatte ich überlegt, dass insbesondere die Menschen zu Wort kommen müssten, die ihre Heimat gerade verloren haben. Nun im Auto, so kurz bevor ich die Gelegenheit zum Gespräch bekommen sollte, fiel mir keine gute Anfangsfrage ein. Eine Anfangsfrage, die nicht befürchten ließe, dass die Gefragten gleich in Tränen ausbrechen würden oder ich gar keinen finde, der bereit ist über dieses für Geflüchtete heikle Thema zu sprechen. Die Halle, eine Notunterkunft unter Trägerschaft des Stadtteilzentrums Steglitz e.V., kannte ich sehr gut, weil ich meine Kinder hier oft beim Training beobachtet hatte. Jetzt war ich gespannt, was mich erwartete und musste es auf mich zukommen lassen – nicht ohne Vorbehalte, ob das Ergebnis mich nicht zu sehr erschüttern würde.

Sehr korrekt wurde ich am Eingang von der Security gefragt, was oder zu wem ich wolle und wurde zum richtigen Raum geschickt. Mein Kollege Max Krieger, der Projektleiter der Halle, war noch in einem Gespräch, hatte aber bald Zeit für mich. Ich hatte ihm im Vorfeld gesagt, was ich vor hatte und seine entspannte Art beruhigte mich jetzt doch etwas. Wir machten einen Rundgang durch die Halle, die durch Planen in drei Teilbereiche unterteilt ist. Er zeigte mir die verschiedenen Bereiche, die Essensausgabe, den vorderen Bereich in dem unbegleitete Männer wohnen, den mittleren Bereich für Männer und Frauen und den hinteren Bereich in dem Familien gemeinsam untergebracht sind. In jedem Bereich saßen Männer und Frau zusammen, Gespräche, verschiedene Sprachen und auch viel Lachen war zu hören. Überall standen die „Bettenburgen“ – Doppelbetten, einzeln oder zusammen, mit Decken und Tüchern abgehangen, um so wenigstens ein Minimum an Intimität zu erreichen. Dazwischen überall Menschen an Tischen und Stühlen, die insgesamt das Gefühl vermittelten, dass hier eine gute Stimmung herrscht. Max zeigte mir den eigentlichen Geräteraum, der nun so gut umfunktioniert ist, dass er in eine Kita passen würde. Überall steht sortiertes und aufgeräumtes Spielzeug, gemalte Kinderbilder hängen an den Wänden. Der Raum vermittelt erfolgreich, dass hier sehr auf die kleinen Gäste der Halle geachtet wird.

Als der Rundgang beendet war, grübelte Max, da die Leute, die er sich für ein Gespräch vorgestellt hatte, derzeit nicht in der Halle waren. Ihm fiel jedoch ein, dass wir an einem Tisch vorbeigekommen waren, an dem eine ehrenamtliche Helferin mit einer Familie saß. Dort gingen wir hin und nach einer kurzen Erklärung konnte ich mich dazu setzen. Spielerisch sollte hier etwas Ablenkung verschafft und natürlich auch das deutsche Gespräch geübt werden. Die Helferin hatte einmal einen persischen Freund und konnte dadurch etwas die Sprache sprechen. Zuerst wurde mein Vorhaben erklärt, was sofort auf freundliche Zustimmung stieß. Dann lies ich mir die Familie vorstellen. Bei mir saßen die Mutter Ayeche, die insgesamt acht Kinder hat. Neben ihr die jüngste Tochter Hajar mit 18 Jahren. Ihnen gegenüber saß der 19-jährige Bruder Arvin. Neben Hajar saß ihre Schwägerin Arizuu und der Bruder Firooz. Die Unterhaltung für sich selbst, lässt mich im Nachhinein schmunzeln, hatten wir doch keinen „richtigen“ Dolmetscher bei uns, aber man findet einen Weg. Mit Gesten, Teilen aus Deutsch, Englisch und Farsi, mit Bildwörterbüchern, Heften voll mit Worten in Deutsch und Farsi „erarbeiteten“ wir uns jede Frage und Antwort dazu.

Die Familie kommt aus Afghanistan, aber ein Leben sei dort unter den Taliban nicht mehr möglich gewesen. So sind sie illegal in den Iran geflüchtet. Derzeit leben circa 1 Million offiziell anerkannte und 1,5 bis 2 Millionen illegale afghanische Flüchtlinge im Iran. Auch im Iran konnte die Familie illegal nur unter sehr schweren Bedingungen leben. Es gab keine Arbeit, keine Möglichkeit des Schulbesuchs oder irgendwelche Hoffnungen auf künftig stabile Lebensbedingungen. Hinzu kam, dass der Sohn Firooz die Iranerin Arizuu heiratete. Eine Ehe, die weder im Land Iran noch von Arizuu’s eigener Familie anerkannt wurde. Firooz und seine Familie gehört den Schiiten an, Arizuu zu den Sunniten. Arizuu war vor der Ehe Studentin für Ingenieurwesen Natur und natürliche Ressourcen, was sie aufgeben musste und somit ebenfalls keine Aussicht auf Arbeit hatte. Die Verhältnisse zwangen die Familie auch den Iran zu verlassen und sich auf den langen Weg zu machen. Über die Türkei mit dem Boot nach Griechenland, über den Balkan und Österreich nach Deutschland. Arvin zeigt mir Fotos auf seinem Handy, die die Familie in Verschlägen auf dem Boden schlafend zeigt. Unter freiem Himmel oder Wäldern haben sie geschlafen, 25 Stunden Märsche über Berge mit der alten Mutter hinter sich gebracht, unglaubliche Angst im Boot ausgestanden, weil keiner von ihnen schwimmen kann. Die Menschen, denen sie auf ihrem Weg begegneten, waren in der Mehrzahl freundlich, aber auch sie mussten einen Überfall mit geladenen Waffen und dem Raub ihrer Habseligkeiten ertragen und ebenso die Schikanen von türkischen Polizeimännern erdulden. Es ist kaum vorstellbar, wenn man sich die Karte Europas vor Augen führt, welchen gefahrvollen Weg sie auf sich genommen haben und welcher Zwang dahinter stehen muss, alles aufzugeben, was man bisher hatte oder kannte.

Schließlich traute ich mich doch das Wort Heimat ins Gespräch zu bringen. Sie verstanden mich zuerst nicht, ein Wörterbuch übersetzt das Wort. „Ob sie in die Heimat zurück möchten“, hatte ich gefragt und bekam eher verständnislose Blicke. Arizuu erklärte mir, dass sie und Firooz nur eine Familie werden könnten, wenn sie hier leben dürften, andernfalls könne sie keine Kinder bekommen. Hajar erklärt mir, dass sie unbedingt studieren und Juristin werden möchte. Dazu muss man wissen, dass diese junge Frau, die nie in eine Schule gehen durfte, bestens lesen und schreiben kann. Das hat ihr der Bruder Arvin beigebracht, wenn er nach der Schule nach Hause kam. Arvin möchte schnell die deutsche Sprache lernen, Schulen besuchen und Arzt oder Computerfachmann werden. Firooz möchte unbedingt eine gute Arbeit. Ich verstehe in der Vehemenz mit der sie von ihren Hoffnungen und Plänen erzählen, dass sie ausschließlich eine Zukunft in diesem Land sehen. Das was hinter ihnen liegt, hat kein Heimatgefühl zu bieten, wurden sie dort überall abgelehnt. Ich fragte, ob sie Heimweh haben. Wieder verstanden sie mich nicht. Arvin sah im Wörterbuch nach und sagte laut das Wort in seiner Sprache. Es ist Ayeche, die Mutter, die sofort reagierte. Mit einem heftigen Kopfschütteln machte sie deutlich, dass Heimweh keinen Platz in ihr hat und alle Hoffnung in diesem Land liegen.

Als ich auf meinen Fotoapparat deutete, verschwanden sofort alle drei Frauen in ihrer Bettenburg. Es war klar, dass sie ihre Tücher richten möchten um gut auszusehen, auch die Brüder glätteten die Haare und schon standen alle fünf vor mir. So ein richtiges Lächeln war nicht zu schaffen und das Bild vermittelt nicht ganz die Freundlichkeit, die ich erleben durfte. Ein kleiner Junge im Rollstuhl kam vorbei und wollte auch ein Bild von sich. Ich mache das Foto, zeige es ihm und er probiert sofort, ob mein Fotoapparat „touch“ hat (also das Display interaktiv ist) – er grinste – ist es natürlich nicht. Ich bedankte und verabschiedete mich bei der ganzen Familie mit einem Handschlag. Ayeche drückte meine Hand besonders lange, legt die zweite Hand darüber. Es war, als ob sie mir sagen wollte, dass alles gut wird. Sie schaute mir lange in die Augen mit einem beruhigenden Blick. Ich war berührt.

Als ich mich auf dem Weg nach Hause machte, war ich wieder nachdenklich. Ich habe mich nicht getraut zu fragen, wo der Vater und die anderen Geschwister sind. Ich habe nur an der Oberfläche gekratzt. Wie erschütternd wäre ihre Geschichte, wenn sie alles, mit Dolmetscher, erzählen könnten. Bei all meinen Vorstellungen vor diesem Gespräch, hätte ich mir dieses Ergebnis nicht vorstellen können. Und doch ist es so logisch. Diese Menschen haben alles verloren, waren überall unerwünscht und haben nur noch die Zukunft. Es gibt keine Heimat, keinen Frieden, keine Erinnerungen in die sie zurück können. Es gibt für sie nur das Hier und Jetzt. Der Gedanke, kein Heimweh zu spüren, tut mir persönlich fast körperlich weh. Heimat bekommt in ihrem Sinne eine völlig andere Bedeutung. Es ist nicht der Platz, den ich gewählt habe, den ich kenne, den ich liebe – es ist der Platz, der mich leben lässt, annimmt, so wie ich bin, mich meinen Beitrag zum gemeinschaftlichen Leben leisten lässt. Ich hätte ihnen so gerne Hoffnung gegeben, hätte so gerne gesagt, es wird alles gut, und dass sie hier willkommen sind. Es ging nicht – ich wollte nicht lügen, weil ich nicht weiß, wie sich ihr Aufnahmeverfahren entwickeln wird – und fühle mich nicht gut dabei. Ich möchte meine Heimat so gerne mit diesen Menschen teilen, das fehlende Heimweh mit Zukunft ersetzen!

Leitartikel der Homepage des Stadtteilzentrum Steglitz e.V. vom 15. Februar 2016

Der Mensch neben uns …

Foto: © blvdone Fotolia.com

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Im Supermarkt vor der Kasse steht eine Frau, legt ihren Einkauf aber nicht auf’s Band und wartet. Hinter ihr kommt ein junger Mann mit zwei Gegenständen in der Hand. Obwohl er sehr abweisend und mürrisch schaut, fragt die Frau ihn, ob er vorgehen möchte. Die Kassiererin ist noch lange mit dem Einkauf, der schon auf dem Band liegt, beschäftigt. Nach einer Weile kommt die Tochter der Frau dazu und gemeinsam beginnen sie auch ihren Einkauf auf’s Band zu legen. Die Frau fragt den jungen Mann schüchtern, ob sie einen Stopper bekommen könnte. Erst da verwandelt sich sein Gesicht in ein strahlendes Lächeln und er meint, dass er sich schon wunderte, warum die Frau so einen großen Abstand zu ihm hielt. Sie unterhielten sich ein paar Sätze in sehr sympathischer Art und Weise bis jeder seiner Wege ging.

Auf dem Weg zum Auto erzählt die Frau ihrer Tochter, wie sehr sie sich in dem jungen Mann getäuscht hatte. Sie hielt ihn für den Prototypen eines Jugendlichen, der sich in arroganter Weise nicht für seine Umgebung interessiert. Dabei stellte er sich als offen, höflich und nett heraus. Sie musste noch lange darüber nachdenken, wie sie sich durch das Äußere des Mannes hatte täuschen lassen. Solche Situationen passieren oft und jedem von uns. Wir sitzen beispielsweise in einem Bus, jeder mit seinen Gedanken beschäftigt und beobachten die anderen Leute um uns herum. Manche Menschen bemerken wir kaum, andere interessieren uns, wieder anderer finden wir vielleicht unsympathisch und bei manchen versuchen wir möglichst unbemerkt zu bleiben. Bei vielen stellen wir uns vor, aus welchen Verhältnissen sie kommen, ob sie alleine leben, Arbeit haben, in ihren Familien glücklich sind. Die tatsächlichen Umstände der Lebensart der anderen gehen jedoch in der Anonymität der Großstadt unter und sind spätestens an unserer nächsten Haltestelle für immer vergessen.

Die Stadt, in der wir leben, stellt die Menschen vor eine Anonymität, die sie selber durchbrechen müssen. In Berlin sind es 3,5 Millionen Menschen und täglich werden es mehr. Man kann die Masse an Menschen wahrnehmen und sich ohnmächtig vor dieser Zahl beugen. Oder man macht sich bewusst, dass dies auch 3,5 Millionen einzelne Geschichten, Schicksale und Lebenswege sind. 3,5 Millionen mal könnte man ein Buch über einen Menschen schreiben und jedes Buch hätte einen eigenen individuellen Inhalt. Man stelle sich diese große Bibliothek vor. 300.000 Tausend dieser Menschen leben in Steglitz-Zehlendorf und auch in diesem Bezirk werden es täglich mehr. Es ist immer noch eine enorm große Zahl, aber es wird greifbarer, wenn man weiter in die Ortsteile hineingeht, die sich hier aus Lichterfelde, Steglitz, Zehlendorf, Lankwitz, Nikolassee, Dahlem und Wannsee zusammensetzen. Und auch die Ortsteile lassen sich weiter gliedern wie beispielsweise Lichterfelde, Ost, West oder Süd. So kommen wir immer weiter dem Ort näher, an dem wir selber leben, dessen Umfeld wir kennen und wo wir beginnen, den Menschen zu begegnen, die ein bekanntes Gesicht oder einen Namen tragen. Hier sind wir keine Zahl von 3,5 Millionen mehr, hier sind wir Nachbarn, Bekannte oder Freunde.

Und hier bekommt die Individualität der Menschen eine tragende Rolle, durch die jeder einzelne von uns zum Gemeinwesen beiträgt. Es sind Merkmale wie Nationalität, Religion, Alter, Geschlecht, Beruf, Interessen, Bildung und viele andere Dinge mehr, die uns einzigartig machen. Dabei spielen Hierarchien keine Rolle, ob der eine Arzt, der andere Müllmann, die eine Chefsekretärin und die andere Putzfrau ist. Alle gemeinsam machen eine funktionierende Gemeinschaft aus, jeder einzelne wird in dieser Gemeinschaft gebraucht und erfüllt seine Aufgabe. Je stärker, toleranter, offener und emphatischer diese Gemeinschaft ist, desto besser ist sie bei Problemen oder Widrigkeiten aufgestellt, die das gemeinschaftliche Leben nun einmal in sich birgt. Die Großfamilie der letzten Jahrhunderte gibt es nicht mehr. An ihre Stelle ist das soziale Leben in Gemeinden und Städten getreten, das in vielseitiger Form in Schulen, Vereinen, sozialen Trägern, kulturelle Begegnungsstätten, sportlichen Vereinigungen, Interessengemeinschaften und anderem ausgelebt wird. Der einzelne Mensch kann ohne Gemeinschaft nicht leben und jeder einzelne macht die Gemeinschaft aus.

Es ist hin und wieder recht hilfreich, sich selber klar zu machen, in welch einem Geflecht von Menschen wir leben und in welchen Abhängigkeiten, im positiven Sinne, wir zu ihm stehen. Jeder einzelne möchte akzeptiert, toleriert, in seiner einzigartigen Art und Weise angenommen sein. So sollte es nur recht sein, dass wir das, was wir für uns selber einfordern, auch bereit sind, anderen zuzugestehen. Anderen den Raum zu geben, sich zu entfalten, den wir auch selber für ein zufriedenes Leben benötigen. Anderen mit Interesse und Neugierde begegnen, die wir uns selber wünschen. Dem Bekannten, dem Freund und Fremden die Wertschätzung schenken, die wir selber erfahren möchten. Und ganz besonders auch schwächere Menschen unterstützen, wo ein Mangel offensichtlich wird. „Eine Kette ist nur so stark, wie ihr schwächstes Glied!“, heißt ein geflügeltes Wort. Ein Gedanke, den man vielleicht nicht nur zur Weihnachtszeit überdenken sollte. Stärkt man die Schwachen der eigenen Gemeinschaft, stärkt man auch die Gemeinschaft und letztlich sich selber.

Den Menschen neben uns wahrnehmen, mutig und für Gespräche bereit sein, über unsere eigenen Grenzen steigen, sind Möglichkeiten, die Anonymität aufheben und kleiner machen. Das hilfreichste und einfachste Mittel ist dabei ein offenes Lächeln, das – noch ein geflügeltes Wort – in jeder Sprache verstanden wird. Wenn wir vielleicht das nächste Mal an der Kasse zurückblicken und aufmerksam sind, uns nicht vom Äußeren täuschen lassen … geben wir den Menschen um uns herum genau das, was wir uns von ihnen wünschen. Dann wird selbst eine große Stadt sehr klein!

Leitartikel der Stadtteilzeitung Steglitz-Zehlendorf
Dezember 2015 – Januar 2016

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Lebensphasen

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Jeder durchlebt sie, niemand kann sich davon ausnehmen – im Guten wie im Schlechten. Die Schlechten bleiben uns im Gedächtnis, die Guten werden uns erst bewusst, wenn sie vorbei sind. Lebensphasen begleiten uns bewusst oder unbewusst ständig. Sie sind eine nicht zu verachtende Quelle unserer Erfahrungen. Meiner Familie steht die nächste bevor – diesmal eine absehbare Lebensphase.

Ich bin verheiratet, seit fast 20 Jahren, auch eine Lebensphase. In kurzer Zeit geht mein Gatte in Pension. Nein, er ist noch nicht im üblichen Pensionsalter. In seinem Beruf geht er regulär mit 54 Jahren in den Ruhestand. Ich werde weiter arbeiten, noch 13 Jahre. Die Kinder leben noch im Haus, sind in der Schule oder am Beginn der beruflichen Wegfindung. Also haben wir demnächst eine Schülerin, eine Studentin, eine Berufstätige, einen Pensionär. Wir sind dann so in etwa der Bevölkerungsdurchschnitt in einer Familie.

Und natürlich kommen nun viel Gedanken auf, was diese nächste Phase für uns bedeuten wird. Klar ist, er ist kein Mensch von Langeweile und auch Interessen hat er ausreichend zur Verfügung. Sicherlich wird er es erst einmal genießen, wir werden unsere Späße damit machen und viele Möglichkeiten entdecken, die wir bisher nicht hatten. Klar ist auch – der Alltag wird wieder kommen. Dann muss es sich bewähren. Wir werden uns, wieder einmal, als Partner neu kennenlernen, werden unsere Bereiche neu ordnen, werden neue Rhythmen entwickeln und vieles wird möglich, was uns bisher aus Zeitgründen nicht gegeben war. Wir werden Vorteile gegen Nachteile abwägen und so den höchstmöglichen Gewinn daraus suchen.

Eine absehbare Lebensphase … wir konnten uns lange darauf (gedanklich) vorbereiten. Im Vorfeld darüber nachdenken, was alles sein könnte, auch wenn es dann sicherlich ganz anders wird. Eine Lebensphase, die wir gemeinsam erleben und gestalten werden. Eine Phase, die viele Chancen eröffnet. Wir sehen dem entspannt entgegen.

Die meisten Lebensphasen werden uns immer erst im Nachhinein bewusst. Mir jedenfalls. Bin ich Mitten in einer drin, realisiere ich es nicht als Phase. Dann sind es die momentanen Umstände, die mich beschäftigen, an denen ich arbeiten muss. Die Kindheit ist eine Lebensphase, die wir erst viele Jahre später realisieren und analysieren. Sie ist wohl eine der prägendsten für einen Menschen. Eine meiner Lebensphasen ist die der Mutter. Mutter sein ist natürlich keine Phase, aber die der aktiven, versorgenden Mutter. Auch da werde ich erst im Nachhinein feststellen und analysieren können, ob sie gut war, ob ich meinen „Job“ zufriedenstellend gelöst habe und meinen Kindern das nötige Rüstzeug für ihr Leben gegeben habe.

Viele Lebensphasen stehen im Kontext von Ereignissen oder Personen. Dennoch erleben wir sie meistens alleine und unbewusst. Manche Lebensphasen hinterlassen tiefe Spuren, manche geben die Möglichkeit lange davon zu profitieren. Natürlich ist es uns auch gegeben Lebensphasen bewusst zu beginnen und zu beenden. Wir entschließen uns zu etwas oder hören mit etwas gezielt auf. Letztendlich ist aber jede dieser Lebensphasen ein Gewinn. Die Kunst besteht allein darin herauszufinden, worin die Chance liegt. Welche Erfahrung, Richtungsänderung oder Vermeidungstaktik daraus gewonnen werden kann.

In der Summe meiner Lebensphasen liegt mein Grund, warum ich mit meinem Alter nicht hadere, sondern es genieße. Ich bin heute die Summe dessen was ich erlebt habe, der Lebensphasen, die ich gemeistert habe und das Resultat vieler Richtungsänderungen. Und wenn ich den Rückwärtsblick wieder nach vorne richte, weiß ich, dass es noch viele Phasen geben wird, von denen ich heute noch nicht einmal etwas weiß. Will ich auch gar nicht wissen … nur im Nachhinein staunen.