Träume in Realität verwandeln

Klausutag_Januar-2016_SzS

Aus einem Wunsch wird ein Traum, aus dem Traum ein Ziel und aus dem Ziel wird Realität. Damit ist fast alles gesagt. Die jährliche Klausurtagung des Stadtteilzentrums Steglitz e.V. (SzS) steht an. 25 ProjektleiterInnen treffen sich in der Geschäftsstelle um Perspektiven des Vereins für die künftige Arbeit zu definieren. Alle freuen sich auf diesen Tag, da es nicht oft vorkommt in dieser Gruppierung gemeinsame Zeit verbringen zu können. Es sind auch gemischte Gefühle dabei, bedeutet Klausurtagung unter anderem sich kritisch mit dem Vergangenen auseinanderzusetzen. Aber: Der Geschäftsführer hat ein gemeinsames Frühstück als ersten offiziellen Tagungsordnungspunkt festgelegt, was die Stimmung erheblich fördert. Das bunte Buffet hat für jeden reichlich zu bieten und die Gelegenheit Neuigkeiten auszutauschen wird reichlich genutzt. Doch irgendwann ist auch der beste Esser gesättigt, der Erzähldrang erfüllt – es geht an die Arbeit.

Thomas Mampel ist Gründer und Geschäftsführer des gar nicht mehr so kleinen Vereins. Er kennt seine ProjektleiterInnen seit vielen Jahren. In diesem Jahr sind drei neue Gesichter dabei. Er begrüßt alle und erklärt, was es mit dem Motto des Tages auf sich hat. Räumt ein, dass er etwas nervös ist, weil er nicht weiß, ob sich seine ProjektleiterInnen auf seine Idee einlassen, ob er alles gut durchdacht hat und wie das Ergebnis des Tages sein wird. Er erläutert den Tagesablauf und wird konkreter mit dem zweiten Tagesordnungspunkt. „Wie wird das Stadtteilzentrum Steglitz e.V. im Jahr 2026 aussehen!“ Wo sieht sich jeder einzelne, wie hat sich seine berufliche Laufbahn, sein Projekt oder seine Einrichtung verändert – in 10 Jahren! Wir sind aufgefordert uns in die Zukunft zu versetzen. Uns unsere Wünsche bewusst zu machen, unsere Träume wahrzunehmen und Wunschvorstellungen zu konkretisieren. Wir haben eine Stunde Zeit unsere Gedanken dazu in irgendeiner Weise darzustellen – alles ist offen. Alle ProjektleiterInnen suchen sich alleine oder zu zweit einen ruhigen Platz um die Aufgabe zu erfüllen. Es wird geschrieben, geplant, gemalt, gelacht, auch mal durchgestrichen und geändert. Vage Vorstellungen werden mutiger, der Spaß gewinnt Oberhand, der Sinn ist verstanden. Jeder wird sich seiner eigenen Ressourcen bewusst, seiner fachlichen Qualitäten, macht sich bewusst, was ihn am Ist-Zustand stört oder ärgert. Jeder weiß, wo er hin will und mischt das alles mit wagemutigen Wunschvorstellungen. Die Stunde ist zu schnell vorbei – Träumen macht Spaß!

Klausutag_Januar-2016_SzS_2Präsentation heißt der dritte Tagesordnungspunkt: 25 ProjektleiterInnen sitzen im Kreis und wissen, dass sie bald an der Reihe sein werden. Die Spannung und Erwartungen sind zu spüren. Thomas Mampel erklärt, dass nun jedem 5 Minuten zur Verfügung stehen um vorzustellen, wo wir im Jahr 2026 sein werden. Ein Feuerwerk beginnt – die Mutigen stehen als Erste vor ihrem vertrauten Publikum. An diesem Punkt sei gewarnt – jetzt wird’s lang. Die Visionen der KollegInnen sind jedoch so spannend, dass hier keine ausgelassen wird. Wem das zu lang wird kann gerne zu dem Punkt • an den Anfang des 11. Absatz springen – aber – ihr verpasst was!

Im Jahr 2026: Der Erste ist mit den Jahren ein virtueller Geschichten-Erzähler geworden, eine Tätigkeit in der er seine Vorliebe, Prozesse zu beobachten und zu begleiten, voll ausleben kann. Unabhängig von jeglichen Grenzen erzählt er die Erfolgs-Geschichte eines ehemals kleinen Vereins, bei der alle an einem Strang zogen und wie man eine solche Geschichte verwirklichen kann. Die Zweite ist weit entfernt vom Ruhestand, der nur eine Randerscheinung ihres Lebenslaufs war. Sie ist aktiv in der Seniorenvertretung des Bezirks (Insider vermuten, sie wird sie leiten) und moderiert eine Gruppe von 30 Ehrenamtlichen, die in verschiedenen Einrichtungen aktiv sind. Finanziert wird ihre Idee von einem Programm 60+ und auch 80+. Die Gesellschaft hat also verstanden die Erfahrungen der älteren Generation zu nutzen. Im Jahr 2026 feiert sie als Ehrenvorsitzende das Jubiläum des Kunst-Kultur-Zentrums und freut sich ungemein, dass sie zum rechten Zeitpunkt ihre Nachfolge im Beruf aufgebaut und gefördert hat. Die nächste Projektleiterin hat es geschafft aus ihrer kleinen Einrichtung im sozialen Brennpunkt eine grüne Oase „lebendiges Gardening!“ zu machen. Dem ist ein multikulturelles Beratungszentrum angeschlossen, so dass der soziale Brennpunkt schon lange keiner mehr ist.

Der nächste Projektleiter ist soweit, völlig entspannt in den Ruhestand zu gehen, da er sich selber überflüssig gemacht hat. Er blickt zufrieden auf die vergangenen Jahre zurück, in denen er den ehemals kleinen Verein in eine berlinweit operierende „Stadtteil Berlin gGmbH“ umgewandelt hat. Mit den richtigen Mitarbeitern und der richtigen Strategie kann er fortan die weiteren Erfolge aus der Ferne beobachten. Auf der anderen Seite des Erdballs haben sich die Ziele einer weiteren Projektleiterin verwirklicht. In Brasilien leitet das SzS ein Kinderheim für Straßenkinder und selbstverständlich gibt es ein umfangreiches Austauschprogramm mit Deutschland. Und auch ihre Kollegin hat ein neues Projekt gegründet. „Ein Ort für Alle!“ ist ein Projekt, das Menschen hilft, sich ihrer Kräfte bewusst zu werden und diese dafür einsetzen zu können, mit Kreativität und Energie ihr selbständiges Leben zu gestalten. Der Nächste ist weltberühmt geworden, hat er doch mit seinem „Jugendfilm-Produktionshaus“ einen Oskar gewonnen (wir verraten jetzt nicht, was sein Hobby ist). Er plant weitere Filme mit seinen Jugendgruppen und sein Name wird unter der Hand schon in die Reihe großer Regisseure eingereiht.

Das unglückliche Schulsystem von 2016 wurde von unserem Kollegen aus der Schulsozialarbeit vollkommen revolutioniert. 2026 gibt es keine Rahmenlehrpläne mehr, Pädagogen sind in der Lage individuell auf Kinder einzugehen, da ihnen ein sozial-pädagogisches Beratungszentrum immer offen steht. Versteht sich von selbst, wer das leitet! Die musikalische Kindertagesstätte kann kaum mehr die Wünsche der Voranmeldungen erfüllen, seitdem die Kollegin ihre Vision der singenden Kita verwirklicht hat. Ihr Team hat sich mit den Jahren durch Umorientierung und Weiterbildungen so gestärkt, dass es nahezu eine Idealbesetzung ist und sie neue Visionen verfolgen kann. Den demographischen Wandel hat eine andere Kita-Leiterin rechtzeitig erkannt und die Weichen für eine erfolgreiche Zukunft gestellt. Aus der ehemaligen Kita ist ein Mehrgenerationen-Haus geworden, in dem sich die Generationen ergänzen können. Personalknappheit gibt es schon lange nicht mehr, da ein MitarbeiterInnen-Pool geschaffen wurde, der keinerlei Engpässe mehr entstehen lässt. Dieser Pool steht selbstverständlich allen Einrichtungen des Vereins zur Verfügung. Und auch der dritte Kita-Leiter hat rechtzeitig die Weichen für ein Projekt gestellt, dass die gesundheitsfördernden Maßnahmen für alle Mitarbeiter im Fokus hat. Wir werden ja alle nicht jünger, aber dank dieses Projektes werden MitarbeiterInnen im Jahr 2026 weniger häufig krank und können länger arbeiten. Den Chef freut’s!

Aus dem ehemaligen Jugendfreizeithaus ist ein Familien- und Therapiezentrum Lichterfelde geworden. Kinder und ihre Familien finden hier präventiv Hilfe in allen Lebensbereichen. Man kann effektiv und nachhaltig arbeiten, da die Finanzierung durch die Senatsverwaltung für Gesundheit und Soziales auf Jahre gesichert ist. Geleitet wird das Zentrum durch den ehemaligen Projektleiter eines Schülerclubs, der sich in den Jahren immer weiter entwickeln und steigern konnte – Ende nicht in Sicht. Der nächste Kollege hat sich im Netzwerk „Aus Steglitz für Berlin“ verwirklicht. Es ist eine Ausgründung aus dem ehemaligen Stadtteilzentrum. In diesem Netzwerk gibt es keine Hierarchie mehr, die Mitarbeiter freuen sich über das Bedingungslose Grundeinkommen und sie wählen ihre Leitung demokratisch. Aufgrund der freien Arbeitsbedingungen ist dieses Netzwerk in ganz Berlin sehr erfolgreich. Der SzS-Campus wird vom nächsten Kollegen vorgestellt. Er hat im Jahr 2026 die Schulen in den Grenzen von 2016 abgelöst. Man hatte verstanden, dass lebenslanges Lernen für die Förderung der Menschen von elementarster Bedeutung und ein Grundrecht ist. Schulen gibt es nur noch in freier Trägerschaft, womit Berlin eine bundesweite Vorreiterrolle übernommen hat.

Ja, man erkennt, dass das SzS sich im Jahr 2026 sehr verändert hat, was natürlich auch große Auswirkungen auf die Verwaltung des Vereins hatte. Doch die Zeichen wurden rechtzeitig erkannt und mit den Jahren eine papierlose Verwaltung geschaffen. Das digitalisierte System ist so gut, dass alle ProjektleiterInnen ortsunabhängig optimal arbeiten können. Diese Kollegin bereitet sich auf die Altersteilzeit vor, aber ihr System ist so gut, dass sie bundesweit Workshops und Vorträge anbietet, um auch andere freie Träger von dem Nutzen der Digitalisierung zu überzeugen. 2020 war ein furchtbares Jahr in der sozialen Arbeit – die öffentliche Jugendhilfe war kollabiert und ein neues System wurde geschaffen. Von diesen Erfahrungen geprägt wurde damals aus einer Koordinatorin eine „feel-good-Managerin“. Ihr Netzwerk ist in der Lage junge Familien so vortrefflich in Erziehungsfragen zu unterstützen, dass tatsächlich die Geburtenrate 2026 auf einem neuen Rekordstand ist.

Der Pachtvertrag wurde nicht verlängert. Wegen der optimalen Pflege und Nutzung ging das Gutshaus Lichterfelde in den Besitz des SzS über. Der Verein nutzte die Chance und so blickt die Projektleiterin des Hauses 2026 zufrieden von der Terrasse ihrer Einrichtung für fitte Senioren auf den generationsübergreifenden Fitness-Parcours. Seinen eigenen Quereinstieg als Projektleiter einer Notunterkunft hat ein anderer Kollege genutzt, um seine persönlichen Erfahrungen für den sozialen Bereich zu nutzen. Er hat es geschafft ein Projekt zu gründen, dass als zentrale Aufgabe hat, die Personalressourcen geflüchteter Menschen optimal einzusetzen. Ein Projekt, dessen Erfolg sich herum gesprochen hat und nicht nur die geflüchteten Menschen und das SzS profitieren. Das neue „Live-Zentrum SzS“ wird 2026 durch die Leiterin von einem mobilen Büro aus geleitet. Die mittlerweile sieben Kindertagesstätten bilden das Herzstück des Zentrums, das aber neben den Kindern, Tieren, Häusern mit Land, Garten und Seegrundstücken durchaus generationsübergreifend arbeitet. Wir arbeiten 2026 nur noch vier Tage in der Woche – ja, wir sind effektiver geworden und haben die work-live-Balance verwirklicht.

Natürlich wäre es schade, wenn wir uns bei derart hoher fachlicher Qualifikation auf das Schulwesen beschränken. Auch wir werden älter und müssen für junge Fachkräfte sorgen. So wurde die social-work-Akademie von der nächsten Projektleiterin gegründet. Der Erfolgsfaktor der Akademie ist recht einfach: Wir fungieren als Vorbilder im Umgang mit MitarbeiterInnen und Kunden. Die Akademie ist ein Aus- und Fortbildungszentrum für Sozialarbeit und Sozialmanagement. 2026 sucht man schon neue Räume. Unterstützt wird die Akademie durch den kleinen Verlag der sich im Bereich der Öffentlichkeitsarbeit gegründet hat. Derart viele fachliche Qualifikationen und Kompetenzen müssen natürlich publiziert werden. Es wurde ein ganzer Arbeitsbereich aus einer ehemals Halbtagsstelle, deren Leiterin allerdings viel unterwegs ist. Macht nichts, denn auch sie trägt in Vorträgen die Botschaft des SzS in andere Städte. Wie lange sie das machen wird, wissen wir nicht, da das Rentenalter abgeschafft wurde und jeder so lange arbeiten darf, wie er sich weiter verwirklichen kann!

Punkt • An diesem Punkt ist es 13.00 Uhr und wir kehren, gefüllt von Visionen, ins Jahr 2016 zurück. Thomas Mampel blickt beeindruckt in die Runde und ist erstaunt, welches Potential er losgelassen hat. Eine Pause ist angesagt und sofort gehen die neugierigen Gespräche los. Bei dem ein oder anderen müssen wir mehr wissen, Zustimmung und Lob äußern. Dazu sei erwähnt, dass sich wahre Talente der Vortragskunst offenbar haben. Wenig später ging es weiter mit einem sogenannten Fish-Bowl, eine Methode in einer großen Gruppe eine Diskussion zu führen. In zwei Kreisen sitzen alle beisammen. Im Inneren der Diskussionsleiter, der bei den Vorträgen eifrig mitgeschrieben hat, und drei Gesprächspartner. Ein Stuhl ist frei. Auf den freien Stuhl setzt sich immer derjenige, der zu dem Gesagten eine Frage hat. Die Gesprächspartner wechseln. So kommt jeder an die Reihe und vorher vorgestellte Visionen, Wünsche, Träume, Ziele werden genauer unter die Lupe genommen. Auch dieser Tagesordnungspunkt ist von großer Kurzweiligkeit geprägt. Die Ergebnisse werden zusammengefasst und am Ende steht die kleine Hausaufgabe, dass jeder seine Visionen schriftlich fixiert.

Gemeinsam schauen wir zum Abschluss den Film „Augenhöhe“. Ein Film mit dem Thema, wie gemeinsam die Arbeitswelt verändert werden kann. Dieser Film soll Inspiration für alle sein, die in ihrem Umfeld Impulse für eine andere Arbeitswelt setzen möchten. Passt also zu unserem Tagesthema. In einer Abschlussrunde fassen wir die Ergebnisse des Tages zusammen und haben Gelegenheit unsere persönlichen Eindrücke zu äußern. Es fällt durchweg positiv aus und wer die Runde dieser Projektleiter kennt, weiß, dass viele Visionen durchaus ernst zu nehmende Ziele sind. Thomas Mampel blickt auf einen erfüllten Tag zurück und freut sich, dass sich alle auf seine Form, diesen Tag zu gestalten, so bereitwillig eingelassen haben.

Fazit: Manch einer könnte uns für größenwahnsinnig halten. Nein, wir wollen nicht tonangebend in der sozialen Arbeit sein. Wir wollen sie zukunftsträchtig, unter Berücksichtigung aller zeitlichen Entwicklungen und Energien verbundener Menschen in der sozialen Arbeit, mitgestalten. Wenn wir beobachten welche Entwicklungen und Veränderungen allein das Stadtteilzentrum Steglitz e.V. in den letzten Jahren durchlebt hat, ist es nicht schwer sich auch künftige, rasante Entwicklungen vorzustellen. Und wie kann man einen Menschen am besten motivieren, seine optimalen Kräfte für eine gute Sache einzusetzen? Man lässt in seine Träume und Ziele verwirklichen … wir haben 2016 angefangen das Jahr 2026 vorzubereiten … und lassen garantiert von uns hören.

Leitartikel der Homepage des Stadtteilzentrum Steglitz e.V. vom 1. Februar 2016

Wir müssten mal wieder …

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Wer kennt es nicht: Man ist unterwegs und trifft alte Freunde oder Bekannte aus längst vergangenen Tagen wieder. Die Freude ist groß, man grüßt sich, fragt wie es geht, tauscht spannende Dinge aus, die sich zwischenzeitlich ergeben haben und stellt fest, dass die Sympathie doch noch die gleiche ist wie früher. Und eh man sich versieht, sagt einer von beiden: „Wir müssten mal wieder …!“ Gegenseitig verspricht man sich zu melden und geht wieder getrennter Weg … Zuhause erzählen wir vielleicht von der Begegnung, gehen ins Tagesgeschehen über und vergessen in der Regel ziemlich schnell dieses „Wir müssten mal wieder …!“

Ich sage es selber und halte mir zugute, dass ich es ehrlich so meine – solange bis ich wieder in meinem eigenen Trott bin. Schuld daran ist natürlich die Zeit, die ich nie habe. Das glaube ich jedenfalls, wenn ich denkfaul bin oder eine Ausrede parat haben möchte. Tatsächlich bin ich diejenige, die ihre Zeit verwaltet und ja, ich habe inzwischen gelernt, dass es nicht die Zeit ist, die ich nicht habe. Es sind die Prioritäten, die allein ich selber festlege. Doch gerade diese Prioritäten sind es, die sich von Zeit zu Zeit verschieben und sich aus meiner jeweiligen Lebenssituation ergeben. Dieses „Wir müssten mal wieder …!“ ist eigentlich der Wunsch an etwas Vergangenem anzuknüpfen, das es in der damaligen Form nicht mehr gibt.

Der Kern ist, dass sich die Menschen, mit denen wir uns umgeben, immer wieder in der Zusammensetzung verändern. Es gibt einige wenige, die für immer bleiben. Die Familie bleibt, wenn man ein gutes Verhältnis hat, und ein paar Freunde, von denen uns, wenn wir Glück haben, ein paar das ganze Leben begleiten. Alle anderen Freunde wie Bekannte, ArbeitskollgInnen, Freunde aus Interessensgruppen, Menschen, die man aus bestimmten Aktualitäten kennt, kommen und gehen, meist ohne bewusstem Beginn oder Abschied. Man kann diese Menschen nicht festhalten. Muss akzeptieren, dass die Dinge sich ändern und Freundschaften ihre Zeit haben, so schmerzlich es manchmal ist.

Es ist ein langer Prozess, dies zu erkennen und, vor allen Dingen, auch zu akzeptieren. Definiert man sich in jungen Jahren oft über viele Freunde und dem Wunsch einer Gruppe anzugehören, setzt sich mit steigendem Alter immer mehr durch, dass eher die Qualität als die Zahl der Freunde von Bedeutung ist. Die Erkenntnis, dass jeder wirkliche Freund einen besonderen Stellenwert hat und zu anderen nicht vergleichbar ist, kommt ebenso hinzu. So ist der Freund mit dem ich prima philosophieren kann, nicht minder demjenigen, der der ideale Partner ist um zum Beispiel Museen und Ausstellungen zu besuchen. Genauso wie das Heer von Bekannten, die je nach Kontext eine andere Funktion erfüllen.

Ein gutes Beispiel dafür sind unsere Schulfreunde, mit denen wir jahrelang die gleichen Stundenpläne, Lehrer, Schulstreiche und Notenkonferenzen teilen. Kaum vorstellbar für den Schüler, diesen Verband zu verlassen – bis zum letzten Zeugnis. Damit trennt sich dann die Gemeinsamkeit und allein die Berufswahl schickt alle in verschiedene Richtungen. Wie schön sind da Klassentreffen, bei denen sicherlich oft das ein oder andere „Wir müssten mal wieder …!“ gesprochen wird. Mit Studienfreunden verhält es sich genauso, wie mit Freunden aus Sport oder Hobby. Freundschaften trennen sich, wenn Paare beschließen alleine zu bleiben oder Kinder zu bekommen. Hat man Kinder, lernt man viele Bekannte unter den Eltern von Kita und Schule kennen. Elternabende und Schulfeste verbinden für ein paar Jahre und trotz Sympathie verliert man sich später aus den Augen. Trifft man sich dann beim Einkauf, hört man, wie sich die Kinder entwickelt haben und kann sich dieses „Wir müssten mal wieder …!“ vielleicht gerade noch verkneifen. Man hat die Realität verstanden oder fürchtet zu wenig Gesprächsstoff für ein ganzes Treffen. Die wenigsten bleiben übrig und nur dann, wenn das eigene Lebensmodell sich mit dem des Freundes oder Bekannten überschneidet, wenn eine Grundhaltung die gleiche ist oder ein anderes Interesse eine Fortführung der Freundschaft stützt.

Das schöne daran ist, dass man im Laufe seines Lebens unglaublich viele tolle Menschen und Erinnerungen an sie sammeln kann. Akzeptiert man, dass alles seine Zeit hat, bleibt in manchen Fällen vielleicht etwas Wehmut und Bedauern. Bei manchen Fällen, seinen wir ehrlich, bemerkten wir den Verlust kaum oder sind vielleicht sogar froh darüber. Andererseits kommen ja auch immer wieder neue Bekanntschaften hinzu, die sich vielleicht in Freundschaften wandeln. Es gibt viele Menschen, die ich kennengelernt habe, mit denen ich sehr gerne befreundet wäre. Viele, die ich leider hinter mir lassen musste. Viele, die ich bewundere, die aber aus den verschiedensten Gründen nicht zu meiner Lebensweise, Familie oder Umfeld passen. Doch welch glücklicher Umstand, dass es keine Grenze gibt, wie viele Bekannte ein Mensch verkraften kann. Das ist etwas, was ich an den sozialen Netzwerken sehr genieße: Zwar trifft man sich nicht mehr im realen Leben, kann aber doch ab und zu lesen, wie es dem anderen ergeht. Wer weiß, was daraus wird. Ich persönlich mag Menschen – viele, vielfältig, multikulturell und grenzenlos.

Nun, vielleicht ist dieses „Wir müssten mal wieder …!“ aber auch ein zaghaftes Abtasten, ob sich ein neuer Anknüpfungspunkt finden lässt. Oder es ist ein Test, ob der andere einen noch mag. Ein verlegener Satz eventuell, weil man sonst nicht weiß, wie man sich endgültig vom anderen trennen soll. Lassen wir sie gehen, diese vielen tollen Menschen und bedenken, dass „Vergangenheit ist, wenn es nicht mehr weh tut!“ – Mark Twain. Soll es aber nicht Vergangenheit sein, müssen wir den Augenblick nutzen. Dann gibt’s als Antwort auf das „Wir müssten mal wieder …!“ einzig ein bestimmendes „Wann?“

Zum Leben zu müde, zum Sterben zu schwach …

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Sie hebt ihre Hände hoch, schaut auf den kleinen Schlauch an ihrem Handgelenk und fragt, für was der ist. Ich erkläre ihr, dass darüber Flüssigkeit in ihren Körper kommt, weil sie krank ist und sie wieder gesund werden muss. Dafür bekommen ich einen verständnislosen Blick. Um die Situation zu überspielen, erkläre ich ihr weiter, dass es jetzt Frühling wird. Erzähle ihr, dass alle Vögel zurück kommen und sie im Frühling doch so gerne draußen ist. Dann wird ihr Blick wieder milde und wandert weiter … Das machten wir seit fast 5 Stunden und alle paar Minuten fragte sie mich wieder, für was der Schlauch an ihrem Handgelenk ist.

Wir freuten uns auf ein ruhiges Wochenende. Ohne Verpflichtungen und ohne Kinder, die zu einem Hockeyturnier gefahren waren. Es kam anders. Gegen Mittag kommt ein Anruf aus dem Seniorenheim, dass es der Schwiegermutter nicht gut ginge und man sie in ein Krankenhaus bringen wollte. Nach fünf Minuten, wir wohnen 200 Meter entfernt, waren wir dort. Sie schlief, aber selbst der schlafenden Frau war anzusehen, dass es nicht gut stand. Beim Transport wurde sie teilweise wach, ob sie uns wirklich erkannte ist unsicher. Auch später als wir warten mussten dauerte es recht lange, bis sie wirklich realisierte, dass wir anwesend und bei ihr waren. Nach relativ kurzer Zeit holte uns ein Arzt zur Untersuchung, ließ sich die Umstände erzählen, fragte nach Verfügungen und Vollmachten und begann mit der ersten Untersuchung. Wieder einmal waren wir froh, dass wir spontan die Papiere mitgenommen hatten. Schließlich erklärte er uns die weiteren Untersuchungen, die notwendig waren. Dann stellte er das erste Mal die belastende Frage, welche lebenserhaltende Maßnahmen gemacht werden sollten. Mein Mann und ich schauten uns kurz an, bis er antwortete „Keine!“ Der Arzt ließ aber nicht locker, fragte, ob ein Infekt behandelt werden dürfe, was mit Herzbehandlungen wäre und einiges andere, bis er zufrieden war. Schließlich mussten wir auf weitere Untersuchungen warten.

Wir waren beide in Gedanken, immer mit dem Blick auf die ruhende Patientin. Waren in Gedanken bei der gesunden Frau, die sie noch vor einem Jahr war, wanderten zu dem Tag ihres Infarkts, zu der Reha, zu der Erkenntnis, dass sie nicht mehr alleine lebensfähig war. Zum letzten gemeinsamen Tag in ihrem Haus, zu der Zeit in der sie sich im Seniorenheim zurechtfinden und wir uns mit Demenz auseinander setzen mussten. Die ersten Wochen waren schwer, aber auch an Demenz, an gemeinsame kleine Spaziergänge und an Unterhaltungen in einer Endlosschleife, kann man sich gewöhnen. An immer wieder gleiche Fragen, kleine Rituale und Begebenheiten, die einem doch ein liebevolles Lächeln entlocken. Und trotzdem schaut man zu, wie ein geliebter Mensch immer weniger, zarter, kleiner, transparenter wird. Und weil man nicht weiß, wie lange dieser Zustand dauern wird, schwankt man ständig zwischen der Dankbarkeit, gemeinsame Zeit verbringen zu können und dem Wunsch, es möge doch wieder wie früher sein. Es wird nie mehr wie früher.

Es wird schwieriger und nun kommen andere Krankheitssymptome hinzu. Wir haben gesehen, dass sie zerbrechlicher wurde. Haben bemerkt, dass der Kopf immer weniger leisten konnte, dass ihre Erinnerungen schwächer und entfernter waren. Und wenn sie für wenige Momente einmal im Jetzt war, haben wir ihre Befürchtung, was sie für eine Belastung für uns wäre, entkräftet. Immer öfter hat sie geäußert, dass es doch besser wäre, wenn sie sterben würde. Das haben wir versucht zu ignorieren, aber das sagt sie nun auch im Krankenbett, wenn sie für einen kurzen Moment bei uns ist. Sie will einfach nicht mehr, ist des Lebens müde, möchte Ruhe und ihren Frieden haben. Und wir – wir sind nun soweit, dass wir ihr wünschen, ihr Wunsch möge erfüllt werden.

Belastend ist die Frage der Ärzte, was für Maßnahmen noch getroffen werden sollen, damit sie wieder gesund werden kann. Ein Harnwegsinfekt, eine Lungenentzündung und ein Schlaganfall stehen zur Auswahl. Es ist die eine Sache, alle Vorsorgepapiere auszufüllen, die Kreuze an die richtige Stelle zu machen und zu verfügen, dass ein anderer Mensch entscheiden soll, welche lebensverlängernde Maßnahmen getroffen werden sollen oder eben auch nicht. Diese Papiere haben uns immer sehr geholfen, entscheiden zu können. Eine ganz andere Sache ist es vor einem Arzt zu stehen und diese Entscheidung zu treffen. Zum Glück ist es in unserem Fall eindeutig und oft kommuniziert. Sie selber hat es verfügt, festgeschrieben und uns oft gesagt, das sie alles ablehnt, was sie künstlich am Leben hält.

Aber sie ist nun mal die Mutter, die Schwester, die Schwiegermutter, die Oma. Wir möchten festhalten – wissen aber, dass dies nicht mehr richtig ist. Der Wunsch, dass sich ihr Wille erfüllt und sie Frieden findet, wird immer stärker. Wir reden viel miteinander, müssen diese Situation gemeinsam bewältigen, kämpfen mit der inneren Zerrissenheit und wissen doch, dass es so kommen wird. Und wann? In Stunden, Tagen oder Monaten? Er kommt – der Frieden, den sie sich wünscht – bis dahin werden wir weiter machen … Leben, Arbeiten, Reden, Nachdenken – aber auch Lachen, Freude empfinden, das Miteinander genießen und erinnern uns an die vielen gemeinsamen Jahre – mit einer einst starken Frau.

Am nächsten Tag ein weiterer Anruf. Sie ist aus dem Krankenhaus entlassen worden und wieder im Seniorenheim. Innerhalb kürzester Zeit sind wir bei ihr – fassungslos, dass so eine schnelle Wende möglich sein soll. Gestern noch zum Sterben bereit und heute wieder entlassen. Sie liegt wieder in ihrem Bett, erkennt uns sofort, setzt sich mit Hilfe auf und redet mit uns … immer die gleichen Fragen. Sie sieht immer noch nicht gut aus, ihr Atem rasselt, aber es ist möglich ihr ein Lächeln zu entlocken. Im Schwesternzimmer lasse ich mir den Entlassungsbericht geben. Unter vielem anderen steht dort: „Auf Wunsch der Patientin erfolgt eine rasche Rückverlegung in die gewohnte Umgebung der Pflegeeinrichtung!“ … wir sind sprachlos. Wie kann man einen dementen Patienten auf eigenen Wunsch entlassen, der zwei Minuten später davon nichts mehr weiß? Will sie nun leben oder sterben? Wir sind durcheinander.

Gut, alles geht wieder seinen gewohnten Lauf … wir werden sie beobachten, besuchen, unterstützen, betreuen … alle Auf und Ab’s mit ihr durchleben, ihre Fragen beantworten und mit ihr lachen, wenn es geht. Wir sind dankbar für unseren Alltag, die Arbeit, die Kinder, die uns ablenken. An ihrem Handgelenk trägt sie immer noch das Plastik-Armband aus der Klinik mit ihrem Namen drauf … es sieht aus wie das bei der Geburt eines Kindes … das ist der Lebenskreislauf. Und das Leben fragt nicht, wie es uns geht, es geht immer weiter – dafür bin ich besonders dankbar!

Das Wertvollste, was wir haben!

Anfang der 60er Jahre saß ich zwischen diesen portugiesischen Fischerfrauen ... eine sehr prägende Kindheitsphase

Mitte der 60er Jahre saß ich zwischen diesen portugiesischen Fischerfrauen … sehr prägende Jahre für unsere ganze Familie

Man könnte sie mit einem Chamäleon vergleichen. Je nachdem, wie der Untergrund, der Nährboden, beschaffen ist und je nachdem, wie die Umgebung sich verhält, verändert sich ihre Färbung. Ist der Grund gut und die Umgebung freundlich gesinnt, ist auch die Färbung ausgeglichen. Es gibt sie in unzähligen Nuancen und Arten, genauso wie es kaum zählbare Farbtöne gibt. Gemeint ist die Kindheit – unsere Kindheit und die derjenigen, die wir beeinflussen.

Wir stellen im Redaktionsteam wieder eine Zeitung zusammen. Dieses Mal wird das Leitthema „Kindheit“ sein. Das Leitthema wird in einer Redaktionssitzung vorbereitet und besprochen. Nach dem Redaktionsschluss ist es meine Aufgabe aus den eintreffenden Berichten der Redakteure, sozusagen einem digitalen Stapel Manuskripte, eine 12-seitige Zeitungsausgabe zu gestalten. Das mache ich schon lange und es ist ein sehr routinierter Vorgang, dennoch manchmal eine Herausforderung. Spannend ist für mich insbesondere, wenn ich lesen kann, was die Redakteure zusammengestellt haben und von welch unterschiedlichen Aspekten und Sichtweisen her, sie ein Thema behandeln. So auch dieses Mal wieder. Welche Inhalte in der nächsten Zeitung stehen werden, kann ich jetzt noch nicht verraten. Es ist immer wieder spannend für mich, die Beiträge aus meiner eigenen persönlichen Position zu hinterfragen und so auch mir selber ein Stück näher zu kommen.

Die Kindheit ist das wertvollste, was wir haben. Immer … auch wenn sie Vergangenheit ist. Dabei spielt es keine Rolle, ob sie gut oder schlecht war. Was dabei gut oder schlecht war, ist sehr persönliches Empfinden und durch die Sensibilität des einzelnen geprägt. Empfinde ich meine Kindheit als gut, kann sie ein fruchtbares Fundament für mein ganzes Leben sein. Empfinde ich sie als schlecht, birgt sie eine sehr große Chance, daraus zu lernen und meinem Leben eine gute Richtung zu geben, weil ich genau weiß, was ich nicht mehr erleben will. Wenn man es kann und schafft, sich von den negativen Erlebten zu lösen und darauf aufzubauen. Viele können das nicht.

Mir persönlich liegt es mehr zu differenzieren. Zu reflektieren, was ich an meiner Kindheit als gut und was als schlecht empfand. Zum Beispiel empfand ich es immer und bis heute als Geschenk einem großen, engen Familienbund anzugehören. Vermisst habe ich dagegen, dass meine Mutter nicht lobte. Das hatte sie nicht gelernt und ich denke auch, sie hatte die Einstellung, dass wir alles eh für uns selbst erreichen müssten. Ich werde sie fragen. Jetzt ist es aber nicht so, dass ich sehnsüchtig auf Lob warte. Ich habe es als bewusstes Element in meine Erziehung aufgenommen, lobe meine Kinder, wo es angemessen und angebracht ist. Ja, ich lobe oft, ohne zu überloben.  So schaue ich immer, was ich mit positiven oder negativen Erinnerungen an Kindheit verbinde und versuche es in Einklang mit meinem heutigen Handeln zu bringen. Ich kann eigentlich gar nicht sagen, meine Kindheit war gut oder schlecht. Ich glaube, sie war gut, aber es waren auch nicht so gute Dinge dabei. Ich hoffe, sie war gut, ist doch bekannt, dass sie den Menschen für sein ganzes Leben prägt. Meine Erinnerung möchte, dass sie gut war und ich habe ein gutes Gefühl zu ihr.

Meine Kinder müssen beide den Abschied von der Kindheit bewältigen. Sie sind fast erwachsen und es gibt Situationen in denen ich genau merke, dass sie dann gerne klein sein möchten. Das verbietet oft der Stolz, aber genauso oft lassen sie es auch noch zu – wertvolle Momente für uns. Ich hoffe, dass sie einmal, mit dem nötigen Abstand, sagen werden, dass sie eine schöne Kindheit hatten. Wir hatten auch schwierige Zeiten, haben sie aber gemeinsam bewältigt. Ich denke, wir sind ein gutes Familienteam und ich genieße unsere letzten Jahre mit diesen jungen Frauen in unserem gemeinsamen Haushalt. Wenn ich ihnen drohe, dass ich und ihr Vater die einzigen sind, die auch noch mit 80 Jahren sagen dürfen: „Mein Kind!“ müssen wir alle lachen.

In Bezug auf Kindheit müssen wir zwei Seiten beachten. Die eine ist die eigene Kindheit. Das was wir daraus für Schlüsse ziehen, ob wir sie als Fundament zulassen, uns bewusst machen welche Bezüge wir dazu haben und wie weit wir unser erwachsenes Leben von ihr bestimmen lassen. Die andere Seite ist die Kindheit der eigenen Kinder, die wir entscheidend prägen und die absolute Verantwortung dafür tragen. Auch zu anderen fremden Kindern, die genau beobachten, wie wir Erwachsene uns verhalten. Ob wir sie als Persönlichkeiten anerkennen, sie als Bereicherung empfinden oder sie von oben herab und besserwisserisch behandeln. In der Kindheit ist es möglich starke und weltoffene Menschen zu formen.

Das die Kindheit auch der Schlüssel zum erwachsenen Menschen ist, habe ich vor nicht allzu langer Zeit wieder einmal erlebt. Ich hatte ein Gespräch mit einer Frau, die ich schon lange kenne. Als wir den Gesprächsgrund befriedigend abgehandelt hatten, kamen wir auf verschieden andere Dinge bis sie anfing, von ihrer eigenen Kindheit zu erzählen. Es war eine sehr spannende Schilderung von einer Kindheit unter schweren Bedingungen. Dennoch kam immer wieder der Wille sich zu behaupten und Stärke zu zeigen heraus. Als ich ihr Tage später wieder begegnete, war mir klar, dass ich diese Frau in ihrer Art, ihrem Handeln und ihrem Ausdruck nun viel besser verstehen konnte. Vieles erklärt sich nun von selbst und ich kann mich gut darauf einstellen.

Das Wort „Kindheit“ allein verleitet zu Träumen, ist Stoff für unzählige Geschichten und Filme. Es trägt immer eine kleine Sehnsucht mit sich, die den Wunsch nach Unversehrtheit, Schutz, Geborgenheit, Reinheit, Freiheit von Last, in sich trägt. Erwachsene neigen dazu Kindern zu sagen, dass sie es genießen sollen, so klein zu sein. Dabei vergessen sie, dass auch Kindheitsprobleme genauso gewichtig sind, wie die der großen Leute. Sind wir Kind, wollen wir groß sein – sind wir groß, sehnen wir uns manchmal zurück. Eine glückliche Kindheit ist das Ideal einer Gesellschaft, das oft unter realistischen Bedingungen schon in der Entwicklung nicht wirklich erreicht werden kann.

Die Kindheit ist für jeden Mensch ein Schlüssel – zur eigenen Persönlichkeit und im Verständnis zu anderen Menschen. Vieles was wir als Kind als störend empfanden, sehen wir im erwachsenen Leben mit ganz anderen Augen. Vieles vergessen wir, verdrängen wir oder möchten auch nicht mehr daran denken. Manche Erinnerungen verklären wir und machen sie uns schöner als sie waren. Umso wertvoller, wenn wir ein kleines Stück davon erhalten können und uns in die Welt der Kinder als Erwachsene noch hineindenken können. Wer den Schlüssel nicht mehr hat, findet bestimmt einen Ersatzschlüssel. Dieser Schlüssel gehört zu den wertvollsten Dingen die wir haben!

Wer lesen möchte, was die Redakteure zum Thema „Kindheit“ geschrieben haben, findet sie am 1. Dezember unter diesem Link.

„Nur“ ein gelbes Bobbycar

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Es hat eigentlich ganz einfach angefangen: Eine Kollegin fragte in einer Besprechungsrunde, ob irgendwer noch ein ungenutztes Bobbycar im Keller hätte. Sie hätte in ihrer Einrichtung viele Mütter mit kleinen Kindern, denen solch ein Spielzeug nicht zur Verfügung stehen würde und sie es sich auch gar nicht leisten könnten. In dieser Runde konnte jedoch keiner dem Wunsch entsprechen. Ein paar Tage später fragte die Kollegin über ein vereinsinternes Netzwerk aber noch einmal nach. Der Wunsch danach war offensichtlich groß. Also gab’s eine kleine Anfrage in einem großen Netzwerk (das mit F) und innerhalb weniger Stunden meldeten sich zwei Freundinnen und drei Gefährte wurden zur Abholung versprochen.

Ein paar Tage später drehte ich nach der Arbeit eine Runde mit dem Auto und holte das erste Bobbycar ab. Quitschgelb und im einwandfreien Zustand. Die Spenderin sagte nur: „Was gibt es schöneres als ein Kinderlachen und wenn sich darüber noch ein Kind freut, wäre ihr das Dank genug.“ Dann brachte ich das kleine Auto in die Einrichtung. Als ich dort ankam, waren eine ganze Gruppe Mütter dort und auch genau das kleine Mädchen, für das dieses Auto gedacht war. Die Kollegin freute sich unheimlich als sie das Auto sah, zeigte es den Müttern und die Schwester des Mädchens setzte sie auf das Bobbycar. Anfängliche Skepsis zeichnete sich im Gesicht des Kindes ab, wandelte sich ganz schnell in die Erkenntnis, dass es sicher und gemütlich sitzen konnte und in Windeseile hatte das Kind verstanden, wie das Auto zu bewegen war. Das Lachen und die Freude des Kindes und der Erwachsenen war meinen Weg wert. Zufrieden und mit einem Lächeln ging ich wieder zum Auto und fuhr nach Hause.

Es hat mich aber noch eine Weile beschäftigt. Es war so einfach hier eine Freude zu machen und bei mir ein gutes Gefühl zu hinterlassen. Warum machen wir so etwas eigentlich nicht öfters? Wie viele Spielzeuge liegen ungenutzt in Kellern oder sind in irgendwelchen Ablagen in Kartons verstaut? Und warum? Aus Bequemlichkeit, damit sie erst einmal aus dem Weg sind? Aus Nostalgie-Gründen, weil die eigenen Kinder damit ja gespielt hatten. Oder weil vielleicht, eventuell, gegebenenfalls … noch die potentiellen Enkelkinder damit spielen könnten. Oder weil man einfach nicht weiß, wo man es abgeben könnte und es zum Wegschmeißen ja doch zu schade ist.

Wir haben zuhause so gut wie alle Spielzeuge abgegeben. Zum einen, weil die Kinder groß sind und wir einfach keinen Platz haben das alles aufzuheben. Zum anderen, weil ich eh aus einer Familie komme, die Dinge immer dort zur Verfügung stellt, wo sie besser gebraucht werden können. Entsprechend dem Alter der Kinder wurde immer getauscht, verteilt und verschenkt. Das lernt man einfach in großen Familien so. Aber eine große Familie hat nicht jeder und auch nicht das Geld, ständig neues Spielzeug zu kaufen.

Wenn man im Moment durch die Supermärkte läuft, weiß man schon automatisch, was in ein paar Wochen wieder los ist. Die Weihnachtssüßigkeiten stehen seit September in den Regalen, gleich neben den Halloween-Sachen – es lebe der Konsum. Der Handel macht uns freundlicherweise darauf aufmerksam, was wir kaufen sollen und wo unsere Bedürfnisse sind. Das finde ich persönlich übel – Altweibersommer will in meinem Kopf einfach nicht zu Lebkuchen und Spekulatius passen. Aber ich will nicht undankbar sein und freue mich über die rechtzeitige Erinnerung Weihnachtsgeschenke zu besorgen. Klappt nur nie und die Geschenke in letzter Minute stehen bei mir jährlich hoch im Kurs. Gut, darum geht’s mir hier nicht. Der Gedanke Weihnachtsgeschenke besorgen zu müssen, verursacht vielen Eltern schlaflose Nächte. Denn auch wenn sie es gerne täten, können sie es nicht, weil das Geld dafür fehlt. Und so mancher Wunsch, den sie gerne erfüllen würden, muss sich in einem Nichts oder einer halbherzigen Alternative auflösen. Das kennt wohl jeder, der Kinder hat – Millionäre sind eher die wenigsten von uns. Glücklich sei derjenige, der es einigermaßen gut hinbekommt und die Kinder glücklich machen kann, ohne das Dispo in eine schwere Krise zu stürzen.

Und mit den Weihnachtssüßigkeiten kommen auch bald die Spendenaktionen, die für gute Zwecke sammeln und werben, was das Zeug hält. Im Fernsehen, im Radio, mit der Post … Möglichkeiten und Angebote gibt es unzählige. Man kann überall spenden und sich selber ein gutes Gefühl vermitteln. Ich habe schon oft gehört, dass mir Leute sagten, sie spenden jedes Jahr an die gleiche Organisation. Dann hätten sie etwas getan, könnten bei den anderen absagen „Ich habe ja schon …“ und das gute Gewissen ist für ein Jahr ruhig. Es ist richtig und wichtig, dass gespendet und geholfen wird, ganz ohne Zweifel. Was ich schade dabei finde ist, dass man eben im Fernsehen, im Radio und in der Post nur die großen Organisationen findet, die sich den Werbeaufwand leisten können. Die kleinen Projekte, Vereine und Einrichtungen können das nicht, weder personell noch finanziell.

Wenn ich mich – unabhängig davon, dass ich für einen sozialen Träger arbeite – in meinem unmittelbaren Wohnumfeld umsehe, fallen mir sofort mehrere Möglichkeiten ein, wo man helfen kann. Nur ist das nicht ganz so bequem, wie ein Überweisungsformular auszufüllen. Man muss einmal hingehen und fragen, was gebraucht wird – schauen, ob man’s verwirklichen kann und noch einmal hingehen um es zu bringen. Ich bin mir sehr sicher, dass so gut wie jeder in seiner Nähe eine Möglichkeit findet, bei kleinen Einrichtungen zu helfen und zu spenden. Es müssen nicht die großen sein. Die kleinen Sachen, gleich um die Ecke, brauchen es meistens viel mehr als große Organisationen, nur muss ich dann auf eine glamouröse Fernsehgala verzichten. Gewinnen tue ich dabei allerdings den Dank der Menschen, die versuchen mit ihrer Arbeit mein Umfeld ein bisschen besser zu machen. Vielleicht den Dank einer Mutter, die sonst kein Geschenk fürs Kind hätte. Sicherlich den Dank der Menschen, deren Arbeit mit ihrer Spende unterstützt wird.

Der Blick in den eigenen Keller lohnt sich sicherlich einmal. Vielleicht finden man ja Sachen, die woanders besser aufgehoben wären und anderen Freude machen. Nicht verkehrt ist es in jedem Fall, sich jetzt schon Gedanken zu machen, ob man in der Weihnachtszeit helfen kann und wie man es machen möchte. Ob es wirklich die großen Spendenaktionen sein müssen oder ob sich nicht ganz in der Nähe etwas anbietet, was die ganze Aufmerksamkeit wert wäre.

Ich werde in den nächsten Tagen noch die beiden anderen Autos abholen und an den versprochenen Platz bringen. Und dann mache ich mir meine Gedanken, wo ich selber einen sinnvollen und guten Beitrag in der Weihnachtszeit leisten kann. Oder noch besser – wo ich auch zwischendurch mal, zum Beispiel bei der Vermittlung eines Bobbycars, helfen kann.

Ich bedanke mich herzlich bei Feza Guschke und Dorothée Wiese für die Bobbycars und den Trecker
– damit habt ihr den Kindern im „kieztreff“ eine große Freude gemacht!

Generationswechsel …

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Ich gebe zu, dass ich diesbezüglich gedankenlos war oder blauäugig könnte man es auch nennen. Denke jedoch eher, ich wollte mich nicht damit auseinandersetzen. Wollte, dass es immer so bleibt, wie es ist. Ich wollte die Vorzüge genießen, erwachsen zu sein und dennoch hin und wieder in die Rolle des Kindes zurück schlüpfen zu dürfen. Wollte eigenständiges und freies Handeln und Entscheiden bewusst ausüben und mich trotzdem von den Älteren, den Menschen mit mehr Lebenserfahrung, beraten und mich von ihnen unterstützen lassen. So wie es immer war. Eine, wie ich finde, sehr angenehme Lebensphase, deren Endlichkeit nun absehbar ist. Ich muss endgültig erwachsen sein. Ein Generationswechsel steht uns bevor.

Abschiede kündigen sich an. Keine vorübergehenden, sondern endgültige Abschiede. Abschiede von Menschen, die mich mein Leben lang begleitet haben. Natürlich habe ich hin und wieder darüber nachgedacht, dass ich älter werde. Aber ich lege keinen besonderen Wert darauf, jung sein zu müssen, weshalb mir dieses Thema zwar bewusst, aber nicht wichtig ist. Ich genieße es sogar ein „gewisses“ Alter zu haben. Was ich dabei völlig außer acht gelassen habe ist, dass die Menschen um mich herum ebenso älter werden. Menschen, die immer für mich da waren. Menschen, die immer dazu gehörten und mit meinem Lebensweg eng verbunden sind. Wichtige Menschen für mich.

Vor 15 Jahren musste ich mich schon einmal damit auseinander setzen. Mein Vater starb innerhalb eines halben Jahres an Krebs. Das traf uns unvorbereitet und viel zu früh. Ich selber habe zwei Jahre gebraucht, bis ich wieder richtig auf den Füßen stand und das verkraftet hatte. Bereit war, mein Leben weithin ohne ihn anzunehmen und meine Wut, dass mein Großvater viel älter werden durfte als er, beizulegen. Mit der Zeit habe ich ein sehr tröstliches Verhältnis zu diesem Verlust aufbauen können und lasse mich weiterhin in Gedanken von ihm begleiten.

Nun kündigen sich weitere Abschiede an. Meine Schwiegermutter haben wir in den letzten Wochen wegen eines Infarkts und dessen Folgen in einem Seniorenheim bringen müssen. Wir sind froh, dass sie uns erkennt, nur Zeit und Raum gehören nicht mehr in ihre Welt. Wir können sie besuchen, mit ihr sprechen, sie sehen und in den Arm nehmen. In den Arm nehmen … etwas, was die gesunde Frau nur zögerlich zuließ. Ein langsamer Abschied von einer starken Frau. Und immer noch mit dieser neuen Familiensituation beschäftigt, erreichen uns die nächsten Nachrichten von Verwandten, die zur älteren Generation gehörend ihr Leben nicht mehr alleine führen können. Ein Onkel, der auch eine Pflegestufe benötigt und eine Tante, die einen längeren Krankenhausaufenthalt überstanden hat. Wir haben eine wirklich sehr große Familie … aber das reicht für’s erste an Nachrichten.

Erstaunlicherweise hat mich die Nachricht von der Tante so verstört und nachdenklich gemacht. Bei ihr und meinem Onkel habe ich meine erste Ausbildung gemacht. Sie hatte einen Verlag und er eine Werbeagentur. Ich lernte bei ihm und habe dort eine wirklich solide Grundlage für meinen Beruf bekommen. Das ist richtig viele Jahre her und ich war ihm immer dankbar und verbunden dafür. Das besondere daran ist heute, dass diese Tante und dieser Onkel 94 und 93 Jahre alt sind. Ein verheiratetes Paar, dass sich im Restaurant immer noch streitet, wer die Rechnung bezahlen darf. Als ich hörte, dass sie im Krankenhaus liegt und es anfänglich schlecht aussah, war ich erst erstaunt und dann fast empört. Meine Welt ohne sie  – für mich unvorstellbar. Im zweiten Moment erst merkte ich, dass meine Empörung völlig absurd ist. Sie sind 94 und 93 Jahre alt – wer darf das gemeinsam bei relativer Gesundheit erleben?

Ich muss mich bereit machen, mich trennen zu können. Muss akzeptieren, dass die Zeit ihren Tribut fordert und meinen eigenen Wunsch hinten anstellen, dass alles so bleibt, wie es ist. Muss für die anderen, die gehen müssen, bedenken, was das Beste für sie ist. Ich möchte meine Erinnerungen bewahren und einpacken, möglichst an einem Platz, wo sie sich mit der Zeit nicht verklären und ändern können. Und schließlich muss ich mich vorbereiten in ihre Reihen zu treten. In die Reihen der Ältesten der Gesellschaft, in denen wir diejenigen sein werden, die Halt, Zuversicht und Unterstützung geben. Letztlich muss ich mich der Verantwortung den Jüngeren gegenüber stellen und ihnen das bieten, was ich an den Älteren so liebe, die mich und meine Geschichte kennen. Ich muss mich bei ihnen nicht verstellen und verbiegen und sie geben mir den Halt, den speziell ich benötige. Den Halt, den ich künftig aus eigener Kraft aufbringen muss.

Das Schöne daran ist, dass ich das alles nicht alleine erleben muss. Ich habe einen Mann an der Seite, viele gleichaltrige Verwandte, Geschwister, Cousinen, Cousins und viele Freunde. Ich werde mich an die neue Rolle gewöhnen. Werde in Gedanken damit spielen, was der ein oder andere, der gehen muss oder musste, wohl für einen Rat gegeben hätte und mich an sie erinnern. Wir werden nun die Generation, die sich kümmert, die pflegt, regelt, entscheidet, trauert, erinnert und die letzten Reste des Kind-Seins aufgeben wird.

Generationen wechseln – natürlich – zur Zeit erlebe ich das sehr bewusst. Einerseits mag ich nicht so richtig daran denken, andererseits möchte ich es als Natürlichkeit annehmen. Ich kann es nicht aufhalten und weiß, dass es noch sehr oft weh tun wird. Und trotzdem, je mehr es mich beschäftigt, desto stärker wird mein Hunger auf’s Leben. Auf das Hier und Jetzt, meine Kinder und Familie, die Freunde, die Arbeit, das Lachen und die Neugierde, die mich jeden Morgen neu antreibt. Die Vorstellung, was diejenigen, die gehen werden, von mir erwarten würden, wird mein Antrieb sein. Lebensbejahend, positiv und optimistisch … bereit ihre Kinder und Kindeskinder zu stützen.

Toleranz und Anerkennung – Zwischen Wunsch und Wirklichkeit

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Stellen Sie sich vor, Sie kommen in einen Raum und wissen sofort, dass Sie anders sind als alle anderen in diesem Raum. Jetzt haben Sie zwei Möglichkeiten: Sie können zum einen versuchen, sich zu verstecken und so unauffällig wie möglich zu verhalten oder Sie können zum anderen Stärke und Selbstbewusstsein zeigen. Consolata Chepkoech Kipchoge ist immer anders als alle anderen. Das weiß sie und hat sich für Stärke und Selbstbewusstsein entschieden.

Consolata Chepkoech Kipchoges Hautfarbe ist fast schwarz. Sie ist in Kenia geboren, das älteste von acht Kindern und ihre Eltern stammen aus der Volksgruppe der Maasai, der wohl bekanntesten ethnischen Gruppe Afrikas. Dort ist sie in der Gemeinschaft der großen Familie aufgewachsen und hat ihre Kindheit auf dem Land verbracht, zwischen Dörfern, Weiden und Tierhaltung. Sie sagt, dass man in Kenia nur eine Chance mit einer guten Schulbildung hat. Das bedeutete für die Kinder, dass sie in Internate gehen mussten und nur in den Ferien nach Hause kommen konnten. In der Schule begann es dann mit dem „Anderssein“. Sie war größer als alle anderen und fiel deshalb immer auf. Mussten die Kinder in einer Reihe stehen, hat sie versucht sich kleiner zu machen. Wurde eine Frage gestellt, wurde sie oft zur Antwort aufgefordert. Das hat sie gehasst und hätte sich oft gewünscht, kleiner zu sein. So hat sie gelernt, dass sie gut sein musste, hat immer sehr gut aufgepasst um die richtige Antwort zu wissen. War immer sauber und passend angezogen, um eben nicht aufzufallen. Und hat sich immer auf die Ferien gefreut. Nicht wie andere Kinder, weil man frei hat. Sie hat sich gefreut in ihr Dorf zu kommen, wo sie einfach Conny sein konnte, die nicht mehr auffiel und wie alle anderen war.

Mehrere ihrer Verwandten sind in andere Länder der Erde gezogen und haben sich dort Existenzen aufgebaut. So entstand auch ihr Wunsch, nach erfolgreicher Berufsausbildung in ein anderes Land zu gehen. Nach kaufmännischer und pharmazeutischer Ausbildung kam sie im Sommer 2009 nach Deutschland. Hier bekam das Anderssein eine ganz andere Dimension für sie. Nun war sie nicht anders, weil sie sehr groß ist, jetzt war sie auch noch anders, weil sie schwarz ist. Sie war anders, weil sie genau diese Sprache nicht sprach und war anders, weil sie diese Kultur und Mentalität nicht kannte.

Der Abstand der Menschen, die ihr begegneten, war ihr sehr deutlich. Skepsis und Scheu wurden zu unbeliebten Begleitern in ihrem Leben. Das konnte sie nur durchbrechen, indem sie schnell die deutsche Sprache lernte. In der Sprachschule kamen alle Mitschüler aus anderen Nationen, aus Kolumbien, Australien und Dänemark beispielsweise. Aber, die waren weiß und fielen ob der Hautfarbe nicht ganz so sehr auf wie sie selber. Was sie dort aber bald merkte, war dass das Sprachvermögen offensichtlich keinen Zusammenhang mit der Hautfarbe hat. Lernte sie schnell, aus dem Willen heraus dazuzugehören, taten sich viele ihrer Mitschüler schwer.

Mit der Sprache konnte sie dann unangenehme Situationen vermeiden. Stand sie anfänglich im Supermarkt und suchte bestimmte Dinge, wurde ihr oft die Antwort versagt oder die Menschen drehten sich einfach weg, weil sie sie nicht verstanden oder verstehen wollten. Nun konnte sie fragen, Dinge benennen, was schon verbindlicher war und auf Antwort hoffen ließ.

Die Bedeutung der Sprache machte ihr die Dame beim Arbeitsamt deutlich. Da ihre Abschlüsse nicht anerkannt wurden, musste eine andere Wahl getroffen werden. „Wenn Sie die Sprache schnell lernen wollen, gehen Sie in den Verkauf!“ bekam sie als Auskunft und das tat sie dann auch. Von der Inventurhilfe über die Modeverkäuferin, hat sie sich in drei Jahren zu Assistentin der Geschäftsleitung in einem Store einer namhaften Modemarke hoch gearbeitet. Heute spricht sie fließend Deutsch und kann es schreiben. Aber sie kann sich auch noch in Englisch, Französisch, Swahili und verwandten Sprachen unterhalten.

Beim Anderssein hat das jedoch nicht geholfen. Die Hautfarbe bleibt schwarz, aber die Sprache macht es ein bisschen leichter. Sie merkt oft, wenn die Menschen in den Laden kommen, dass sie nicht von ihr beraten werden möchten. Unsicherheit oder Ablehnung, dass weiß sie nicht. Wenn die KollegInnen bedienen und eine besondere Situation gelöst werden muss, kommen sie dann doch wieder auf sie zu, ist sie doch die Juniorchefin mit dem entsprechenden Know-how. Aber auch das musste sie sich erkämpfen. Den Respekt unter den KollegInnen musste sie sich erarbeiten, immer ein bisschen besser sein und sich unter der ständigen Beobachtung bewähren. Sie muss ständig beweisen, dass Intelligenz nichts mit Hautfarbe zu tun hat und Dummheit nicht in schwarz oder weiß geteilt ist. Qualität muss ihr ständiger Begleiter sein um keine Angriffsfläche für Respektlosigkeit und Ignoranz zu bieten.

Conny_Bjoern

Der gemeinsame Blick in die Zukunft lässt keinen Zweifel darüber offen, dass Toleranz und Anerkennung ein ständiges Thema sein wird.

Sie hat immer mit dem Anderssein zu tun. Im Bus würde sie sich wünschen, dass einmal jemand Platz macht, nur weil sie eine Frau ist. Die Leute schauen weg. Im Restaurant wird sie anders angesprochen, als ob farbige Menschen andere Nahrung als Weiße brauchen. Beim Einkauf muss sie klar machen, wann sie an der Reihe ist. Etwas besser, etwas respektvoller werden diese Situationen nur, wenn die Menschen merken, dass sie fließend deutsch spricht und alles versteht.

Sie hat sich daran gewöhnt, anders zu sein, sich ständig beweisen zu müssen. Hat sich daran gewöhnt um Respekt und Anerkennung zu kämpfen. Sie muss eine starke Frau sein und zieht ihre Stärke aus dem Bewusstsein, was sie alles kann, sich erarbeitet hat und daraus selber Toleranz üben kann. Kommt ihr doch jemand ganz dumm daher, gilt der alte Spruch: „Die Gedanken sind frei!“, denn die kann man kaum erahnen, schon gar nicht bei einer schwarzen Frau. Dabei ist es doch nur ihre Hautfarbe, die nichts mit Intelligenz, Gefühlen, Wahrnehmung und Lebenseinstellung zu tun hat.

Aber – sie hat in diesem Land auch die anderen gefunden. Die Menschen, die neugierig sind, die sich trauen zu fragen was sie denkt, wie sie fühlt. Diejenigen, die fragen, wie es ihr geht. Die mehr über ihr Land, ihre Kultur und die Menschen dort wissen wollen. Und selbst die Liebe ist ihr in diesem Land über den Weg gelaufen. Ein Mann, der die Zukunft mit ihr teilen will, dem sie nichts erklären muss und bei dem sie einfach Conny sein kann. Der eine Familie hat, die seine Liebe zu ihr rückhaltlos unterstützt. Eines Tages wird sie mit ihm nach Hause fahren. Dann wird er derjenige sein, der immer anders ist. Das wünscht sie sich für viele Menschen – dass sie merken, was es bedeutet, anders zu sein. Das diejenigen, die anders sind, jedem dankbar sind, der einen kleinen Schritt auf sie zugeht.

Stadtteilzeitung Steglitz-Zehlendorf, Nr. 174 • Februar 2014