Der Hartz4-Nazi … war einmal

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Selten, ganz selten lese ich Kommentare, die irgendwelche Nutzer in sozialen Netzwerken unter Beiträge schreiben. Sie sind oft abstoßend und selten werden konstruktive, differenzierte Meinungen geäußert. Es ist so leicht, so anonym zu hetzen. Aus irgendeinem Grund blieb ich bei einem Artikel doch an den Kommentaren hängen und lese: „Hartz4-Nazi“. … Ich überlege, was ein Hartz4-Nazi ist. Ich google, aber finde keine richtige Antwort. Das Wort ist eine Beschimpfung, eine Beleidigung, ein Vorurteil und in sich völlig bescheuert. Natürlich weiß ich, was vordergründig gemeint ist. Doch um es richtig zu verstehen, muss ich wohl erst verstehen, was ein Nazi ist. Genau da liegt mein Problem – ein Versuch:

Ich mache eine kleine Liste mit Begriffen, die mir einfallen, wenn ich mir einen Nazi vorstelle. Schon allein das ist schwer, weil natürlich der Springerstiefel-Typ als Erstes in den Sinn kommt. Die Sache ist jedoch viel subtiler, versteckt sich doch so mancher Nazi im Küchenkittel oder Nadelstreifen-Anzug. Und sich vorzustellen, was der Nazi im Kopf hat … ähm … Also:

Eins der häufigsten Probleme, dass Menschen mit dieser Gesinnung haben müssen, ist der Wohlstandsverlust und daraus bedingte Existenzangst. Immer wieder lese ich, dass die bösen Flüchtlinge viel mehr Geld bekommen, als einheimische Bedürftige. Dass dies schlicht und einfach falsch ist und jeglicher Grundlage entbehrt, spielt keine Rolle. Wenn der eine es behauptet, glaubt es der nächste, angebliche Rechenbeispiele werden aus dem Zusammenhang gerissen, falsche widerlegte Zahlen trotzdem in den Netzwerken geteilt – es tut ja so gut, wenn man weiß wer der böse ist. Wenn einer schreit, applaudieren zwei andere und schon tut’s nicht mehr so weh. Ich behaupte mal, dass keine alleinerziehende Mutter, keine Oma im Rentenalter, kein arbeitsloser Mann je einen Euro zu wenig bekommen hat, weil die bösen Flüchtlinge da sind. Wir leben mit einem der besten Sozialsysteme der Welt und trotzdem ist Alters- sowie Kinderarmut ein sehr ernstes Thema bei uns … aber das sind ganz andere Töpfe und gehen den Flüchtling nichts an!

Mangelndes Geschichtsbewusstsein möchte ich fast gleichsetzen mit Realitätsverlust. Geschichte ist nicht zu ändern und die Welt in der wir leben ist bunt. Speziell Deutschland war immer ein Durch- und Einwanderungsland. Die Deutschen sind nicht erst seit den beiden letzten Weltkriegen, der Einwanderungswelle von Türken und Italienern der Nachkriegszeit, der Aufnahme von Menschen aus den Jugoslawienkriegen, Spätheimkehrern, Sudetendeutschen und vieles mehr, vollkommen gemischt und von anderen Völkern durchsetzt. Keine Familie und kein Freundeskreis kann behaupten rein Deutsch zu sein, falls es das überhaupt gibt. Gäbe es ein „Rein Deutsch“ wären wir sehr wahrscheinlich ein degenerierter Haufen von Menschlein, die in der Welt keine Rolle spielten und noch in den Höhlen der Urzeiten vor sich hin vegetierten. Was bei uns in den Landstrichen passiert, die von Durchmischen anderer Nationen ausgeschlossen waren oder sind, kann man fast täglich in der (Lüge-)Presse lesen.

Womit der gemeine Nazi im meinen Augen auch die seinen vor den Zusammenhängen der Länder der Welt verschließt. Ein Staat kann heute nur im Verbund mit anderen Nationen und im offenen Transfer existieren. Verschließen wir uns, verkümmern wir, machen Handel, Wirtschaft und Fortschritt zunichte. Grenzen zu schließen bedeutet Kriege und Allianzen zu fördern, die Vernichtung nach sich ziehen.

Die Empathielosigkeit vor dieser Vernichtung ist ein weiteres Merkmal, dass in der Liste auftaucht. Via Internet erleben wir die Kriege in der Welt als fänden sie im eigenen Wohnzimmer statt. Wir sehen Bilder von Menschen, die unerträgliches Leid erfahren und wollen diesen Menschen einen sicheren Platz bei uns verwehren? Der Gedanke tut mir fast körperlich weh. Ich erlebe Menschen, die über Flüchtlinge schimpfen, sie an Grenzen erschießen lassen wollen, Asylbetrüger in jedem sehen, der nicht ins Bild passt … und gleichzeitig die Todesstrafe für Tierquäler fordern. Jedem Hund und jeder Katze mehr Wohlstand und fettere Bäuche gönnen, als Menschen, die vorm Verhungern flüchten.

Übersteigertes Selbstbewusstsein und Bildungsresistenz möchte ich in einem Satz nennen, gehört es für mich doch sehr zusammen. Der normale Nazi ist nämlich nicht von der ungebildeten Sorte und müsste eigentlich, wenn er einen rein logischen Denkprozess einsetzen würde, wissen, dass seine Thesen und Behauptungen haltlos, selbstsüchtig und veraltet sind. Es gibt für mich bis heute keinen einzigen Grund aus dem sich ein Mensch einem anderen gegenüber als höherwertig stellen kann – der Nazi tut’s … also kann er ja nur so selbstverliebt sein, … oder … ich vermute fast … so wenig von sich selber halten, dass es in übersteigertes Selbstbewusstsein umschlägt. Wäre das nicht so fürchterlich, müsste man fast mit Mitleid kämpfen …

Machtwille steht als letztes in meiner Liste und das ist ein sehr trauriger Punkt. Beobachtet man die politische Entwicklung im Land, stellt man fest, wie einige wenige mit viel Polemik, mit gemachter Angst und Populismus, eine Masse lenken, die Lämmer-gleich und ohne Hinterfragen nachplappert, schreit und brüllt. Das „Hatten-wir-schon-mal!“ bleibt bewusst ungehört und jeglicher Wille aus der Geschichte zu lernen fehlt. Die Lämmer merken nichts … mäh!

Der Nazi ist – unbelehrbar – da … und er war immer da! Die rechte Gesinnung wird – wieder – gesellschaftsfähig. Das ist der Punkt, der mir Angst und mich nachdenklich macht. Er wird wieder so gesellschaftsfähig, dass in den Netzwerken schon eine Art Ranking unter den Nazis beginnt. Der Hartz4- und Springerstiefel-Nazi ist böse und dumm. Bleiben ja noch genug andere, die den politischen Entwicklungen gedankt, sich frei und offen unter uns bewegen. Als wären sie befreit, ihre Parolen endlich wieder in die Gesellschaft zu tragen. Wir geben ihnen Raum in Talkshows, auf der politischen Bühne und in der Nachbarschaft. Wir empören uns ein bisschen, wenn ein Polizist einer rechten Veranstaltung ein gutes Gelingen wünscht. Entschuldigen es damit, dass es ja in dem bestimmten Bundesland passiert. Unsere Politiker halten die Klappe, weil nach der Wahl vor der Wahl ist, hoffend, dass nicht zu viele Stimmen wegwandern.

Sie waren immer da und fanden Unterschlupf in den etablierten Parteien, die ihr Profil mehr und mehr einbüßen. Jetzt ist es nicht mehr unfein besorgt, rechts, gegen Werte zu sein – denn – und das kann ich nicht mehr hören – so ist nun mal Demokratie. Was ein Nazi ist, verstehe ich wohl. Warum er jetzt in offener Weise mein Nachbar, mein Kollege, der Mann im Bus sein könnte – das verstehe ich nicht und nicht, dass wir – die Nicht-Nazis – nicht viel lauter schreien. Ich kann nicht nachvollziehen und will auch nicht verstehen, wie ein Nazi denkt. Brauche ich auch nicht – denn er besinnt sich neuer Namen … besorgter Bürger oder Mitglied der Partei, die eben keine Alternative ist. Der Hartz4-Nazi war einmal … jetzt kommen andere.

Immer wieder Zweifel und Entscheidungen

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Es ist früh morgens um 6.00 Uhr. Auf dem Mühlstein, der zum Tisch umgebaut ist, steht meine erste Tasse Kaffee. Von hier aus habe ich einen wunderbaren Blick über den See. Es ist herrlich an diesem Platz so früh morgens, wenn die Natur aufwacht und sich die Sonne langsam über die Bäume schiebt. Wende ich den Blick etwas, sehe ich das Haus. Ihr Haus, in dem sie so lange gelebt hat. Nach dem Frühstück beginnt die Arbeit. Wir lösen ihren Haushalt auf, machen die Räume leer, sortieren, ordnen, entsorgen … sie kommt nie wieder zurück.

Das Haus gehört der Schwiegermutter. Vor einem Jahr hatte sie einen Infarkt, wurde infolge dessen dement und nach kurzer Zeit stand fest, dass sie an diesem schönen Ort nicht mehr alleine leben konnte. Sie zog in ein Seniorenheim, ganz bei uns in der Nähe, wo wir uns um sie kümmern können. Sie hat sich daran gewöhnt und es geht ihr den Umständen entsprechend gut. An diesen Ort erinnert sie sich nicht mehr. Das ganze Jahr blieb das Haus fast unberührt. Zu groß war die Überwindung etwas zu verändern und Tatsachen zu schaffen. Wir kamen her, um nach dem Rechten zu sehen, den Rasen zu mähen und Dinge zu erledigen, die eben gemacht werden müssen. Es war nicht mehr so wie früher. Die Oma war nicht da, richtig wohlfühlen konnten wir uns nicht mehr und die Zeit nicht zurück drehen. Mit den Kindern trafen wir die Entscheidung, dass wir hier nie leben würden. Über das ganze Jahr hatten wir immer ein ungutes Gefühl, das Haus mit allem Inventar alleine stehen zu lassen. Es liegt wunderschön – am Ortsausgang, Waldanfang, genau an der Grenze des Naturschutzes, ruhig, alleine, unbeobachtet.

Also los: Kein wehmütiges Bedauern … ich habe Urlaub – beste Gelegenheit am Stück zu arbeiten. Ein Container wurde gebracht und neben das Haus gestellt. Beim Frühstück unterhalten wir uns wer wo anfängt. Einen richtigen Plan haben wir nur grob und wir ahnen nur, was vor uns liegt. Ein gesammeltes Leben auf 200 qm Wohnfläche untergebracht. Dazu muss man wissen, dass diese Frau alles aufgehoben hat. Nicht nur von sich selber, auch was sie von den Eltern erben konnte und sich über ein ganzes Leben lang angesammelt hat. Regale und Schränke waren voll, jeder mögliche Platz genutzt, jeder Winkel voll gestellt, Keller und Dachboden ausgelastet. Die Räume durchgehend geschmückt mit allerlei Figuren, Bildern, Schalen, Krügen, Erinnerungen, Mitbringsel.

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Die wichtigsten Unterlagen hatten wir schon vorher durchgesehen und gesichert, was für sie persönlich wichtig war. Nun kamen Ordner auf uns zu, in denen Vorgänge ab den 70er Jahren zum Vorschein kamen, ein Stapel Urkunden aus den 1870er Jahren, Fahrscheine und Visa aus DDR-Zeiten, Briefe über Jahrzehnte verteilt. Aber nicht nur Briefe, den entsprechenden Briefumschlag sicherheitshalber dazu. Kalender, gesammelt seit den 80er Jahren oder unbeschriebene Postkarten, die für Jahrzehnte reichen würden. Bücherregale mit allerlei Schätzen, die im Antiquariat nichts mehr zählen. Schon stoße ich an meine Grenze. Gut, Meyers Konversationslexikon, komplett mit Sonderbänden … in „Google-ist-mein-Freund“-Zeiten nicht mehr ganz zeitgemäß. Größere Probleme machen mir die vielen kleinen Büchlein mit Goldschnitt und schön gestalteten Titeln. Kinderbücher oder zum Beispiel „Der Kriegs-Struwelpeter!“ aus der vorletzten Jahrhundertwende … ich kann es nicht weg tun und schon sind die Stapel „Aufheben!“ und „Wegschmeißen!“ geboren. Vier Kartons bleiben übrig und werden sich in die ohnehin schon vollen heimischen Bücherregale einordnen.

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Die Stapel „Aufheben!“ und „Wegschmeißen!“ bleiben durchgehendes Thema und stellen uns permanent vor Entscheidungen und Zweifel. Manchmal fällt es schwer, manchmal leicht, trotzdem müssen wir immer wieder abwägen, ob ein Gegenstand zu den eigenen Sachen passt oder solange aufgehoben wird, bis ein passender neuer Besitzer gefunden ist. Schließlich ist es ja auch ein Platzproblem, denn unser Haus ist kleiner, als das welches wir leer räumen. Mit Geschirr können wir die Polterabende von gut drei Hochzeiten bestens bespaßen. Mit Bettwäsche ein Hotel bestücken, Handtücher brauchen wir für Jahre keine neuen. Fünf Kartons mit ordentlich eingepackten Gläsern holen wir vom Dachboden. Gleich beim Ersten wird klar, dass wir sie alle durchsehen müssen. Eingewickelt finden wir eine vollständige Zuckerdose, den Jahrgang des Zuckers kann ich nicht beziffern, aber der hübsche kleine Silberlöffel mit Familienwappen zwingt mich doch, alle Gläser zu sichten. Acht besondere Trinkgefäße bleiben übrig. Ich bringe es nicht fertig schön geschliffenes Glas dem Container zu übergeben.

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Auf dem Dachboden finden wir das komplette Spielzeug unserer Kinder, welches wir schon längst in anderen Haushalten glaubten. Immer wieder gibt es spannende Überraschungen. Ein Koffer birgt die komplette Hebammen-Ausstattung, die die gelernte Hebamme in den 60er Jahren für die Arbeit brauchte. Ein Stethoskop aus Holz, Spritzen aus Metall, ein alter Pulsmesser … nix für den Container. Der alte Nähkorb ist immer etwas Feines für den Liebhaber und auch hier finden sich erwartungsgemäß ein paar hübsche Kleinigkeiten. Ich kann alte schöne Dinge nicht einfach wegschmeißen – immer wieder müssen wir abwägen, was bleibt und was kommt weg. Fragt mein Mann mich, ob das wirklich sein muss, bin ich kurze Zeit später diejenige, die ihn fragt, ob das sein muss. Jeder hat an Gegenstände andere Erinnerungen und Verbindungen. Schwer manchmal.

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Leichter ist es bei den Möbeln, die in den eigenen Haushalt wechseln. Leichter? Ein alter Schrank soll mit. So groß, dass er nicht durch das Treppenhaus passt. Zwei Freunde helfen mit. Die Männer beschließen, ihn durch das Fenster über eine Leiter nach draußen rutschen zu lassen. Ich stehe auf der anderen Straßenseite und zwinge den Verkehr langsam zu fahren. Das erste Stück geht relativ gut. Beim Zweiten sieht man beim Zuschauen, dass es schief gehen muss. Es rutscht, ist kaum zu halten für den einen (meinen) Mann auf der Leiter. Vor meinem Auge spielt sich ein Unglück ab, als plötzlich zwei Autos halten, Männer aussteigen, spontan anpacken und nun sechs Männer den Giganten auf die Straße heben. Sie tragen es um die Ecke, steigen ein und sind wieder weg … alles gut. Unkonventionelle Hilfe made in Mecklenburg.annaschmidt-berlin.com_haushaltsaufloesung_10 Zum Glück können wir nun darüber lachen. Zum Lachen bringt uns auch eine andere Situation. Zwei liebe Kollegen kommen an dem Tag mit einem gemieteten Transporter, der alles nach Berlin bringt. Wir stellen die Möbel in die Einfahrt um später schneller einladen zu können. Auch einen Löwensessel. Innerhalb kurzer Zeit führen wir mehrere nette Gespräche, ob wir die Möbel nicht hergeben möchten. Ich platziere den Gatten auf dem Stuhl für eine kleine Pause und bitte ihn den Sessel doch außer Straßensichtweite zu stellen. Der Transporter war schnell gepackt und nach einer leckeren Kartoffelsuppe alle Männer wieder auf dem Weg nach Berlin. Der zweite Container war schnell gefüllt. Das Haus wurde leer, die Räume klar und nach einer Woche war geschafft ein Ferienhaus einzurichten. Kein ungutes Gefühl mehr die persönlichen Dinge alleine zu lassen. Nun können wir gelassen hier entspannen oder abwarten, welche Bestimmung das Haus bekommt. Zum Schluss wagten wir noch den Blick in den kleinen Gewölbekeller. Auch hier durften wir staunen, was Aufhebenswert ist. Marmeladengläser bräuchten wir jedenfalls für Jahre nicht mehr und der ein oder andere Steinguttopf wird nun unseren Garten schmücken.

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Zwischen der Arbeit wandern die Gedanken immer wieder zu der alten Frau, die sich an all dies hier nicht mehr erinnert. An den Dingen, die sie aufgehoben hat, wie sie sich eingerichtet hat, erkennen wir viel aus ihrer Gedankenwelt. Durch manches gibt sie uns einen Blick in die Vergangenheit, wie dem alten Familienstammbaum, den wir unscheinbar in einer Rolle fanden. Auf vielen Fotos erkennen wir Verwandte, aber manche Menschen erkennen wir nicht. Briefe und Karten zeigen, was die Mutter für den Sohn tat. Eine umfangreiche Sammlung an Kühen und Kuscheltieren in jeglicher Form zeigt, was sie liebte. Alles erzählt von ihr und ihrem Leben, dass nun nur noch in ihrer Erinnerung existiert – oder eben auch nicht.

Wir denken über den Sinn und Unsinn nach, Dinge aufzuheben und an alte Zeiten festzuhalten. Denken darüber nach, was wir selber alles aufheben und uns nicht trennen können. Wir überlegen, wann wir anfangen auszumisten, um unseren Kindern kein volles Haus zu hinterlassen. Grübeln, wann der richtige Zeitpunkt kommt sich von den Gegenständen, die unser Leben belegen, zu trennen. Wer sagt uns, was wert und wertlos ist, um es der Nachwelt zu erhalten? Welches Foto schmeiße ich weg, welches behalte ich? Hat ein persönlicher Gegenstand, der mich an einen verstorbenen lieben Menschen erinnert, für meine Kinder den gleichen Stellenwert? Wohl kaum.

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Auch am Abend sitze ich gerne am alten Mühlstein mit dem Blick auf den See. Hier fällt es leicht meinen Gedanken nachzugehen. Die Zweifel, das Richtige zu tun, sind nicht weniger geworden. Entscheidungen, die nicht mehr zu ändern sind, fallen nicht leichter. Zuhause wartet viel Arbeit auf uns. Nun müssen wir das Gedenken an die Großmutter für unsere Kinder und uns im eigenen Haus integrieren. Wo es passt, wo es schön aussieht, dort wo es uns ein Lächeln entlockt – in Erinnerung an eine bemerkenswerte alte Frau.

Zum Leben zu müde, zum Sterben zu schwach …

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Sie hebt ihre Hände hoch, schaut auf den kleinen Schlauch an ihrem Handgelenk und fragt, für was der ist. Ich erkläre ihr, dass darüber Flüssigkeit in ihren Körper kommt, weil sie krank ist und sie wieder gesund werden muss. Dafür bekommen ich einen verständnislosen Blick. Um die Situation zu überspielen, erkläre ich ihr weiter, dass es jetzt Frühling wird. Erzähle ihr, dass alle Vögel zurück kommen und sie im Frühling doch so gerne draußen ist. Dann wird ihr Blick wieder milde und wandert weiter … Das machten wir seit fast 5 Stunden und alle paar Minuten fragte sie mich wieder, für was der Schlauch an ihrem Handgelenk ist.

Wir freuten uns auf ein ruhiges Wochenende. Ohne Verpflichtungen und ohne Kinder, die zu einem Hockeyturnier gefahren waren. Es kam anders. Gegen Mittag kommt ein Anruf aus dem Seniorenheim, dass es der Schwiegermutter nicht gut ginge und man sie in ein Krankenhaus bringen wollte. Nach fünf Minuten, wir wohnen 200 Meter entfernt, waren wir dort. Sie schlief, aber selbst der schlafenden Frau war anzusehen, dass es nicht gut stand. Beim Transport wurde sie teilweise wach, ob sie uns wirklich erkannte ist unsicher. Auch später als wir warten mussten dauerte es recht lange, bis sie wirklich realisierte, dass wir anwesend und bei ihr waren. Nach relativ kurzer Zeit holte uns ein Arzt zur Untersuchung, ließ sich die Umstände erzählen, fragte nach Verfügungen und Vollmachten und begann mit der ersten Untersuchung. Wieder einmal waren wir froh, dass wir spontan die Papiere mitgenommen hatten. Schließlich erklärte er uns die weiteren Untersuchungen, die notwendig waren. Dann stellte er das erste Mal die belastende Frage, welche lebenserhaltende Maßnahmen gemacht werden sollten. Mein Mann und ich schauten uns kurz an, bis er antwortete „Keine!“ Der Arzt ließ aber nicht locker, fragte, ob ein Infekt behandelt werden dürfe, was mit Herzbehandlungen wäre und einiges andere, bis er zufrieden war. Schließlich mussten wir auf weitere Untersuchungen warten.

Wir waren beide in Gedanken, immer mit dem Blick auf die ruhende Patientin. Waren in Gedanken bei der gesunden Frau, die sie noch vor einem Jahr war, wanderten zu dem Tag ihres Infarkts, zu der Reha, zu der Erkenntnis, dass sie nicht mehr alleine lebensfähig war. Zum letzten gemeinsamen Tag in ihrem Haus, zu der Zeit in der sie sich im Seniorenheim zurechtfinden und wir uns mit Demenz auseinander setzen mussten. Die ersten Wochen waren schwer, aber auch an Demenz, an gemeinsame kleine Spaziergänge und an Unterhaltungen in einer Endlosschleife, kann man sich gewöhnen. An immer wieder gleiche Fragen, kleine Rituale und Begebenheiten, die einem doch ein liebevolles Lächeln entlocken. Und trotzdem schaut man zu, wie ein geliebter Mensch immer weniger, zarter, kleiner, transparenter wird. Und weil man nicht weiß, wie lange dieser Zustand dauern wird, schwankt man ständig zwischen der Dankbarkeit, gemeinsame Zeit verbringen zu können und dem Wunsch, es möge doch wieder wie früher sein. Es wird nie mehr wie früher.

Es wird schwieriger und nun kommen andere Krankheitssymptome hinzu. Wir haben gesehen, dass sie zerbrechlicher wurde. Haben bemerkt, dass der Kopf immer weniger leisten konnte, dass ihre Erinnerungen schwächer und entfernter waren. Und wenn sie für wenige Momente einmal im Jetzt war, haben wir ihre Befürchtung, was sie für eine Belastung für uns wäre, entkräftet. Immer öfter hat sie geäußert, dass es doch besser wäre, wenn sie sterben würde. Das haben wir versucht zu ignorieren, aber das sagt sie nun auch im Krankenbett, wenn sie für einen kurzen Moment bei uns ist. Sie will einfach nicht mehr, ist des Lebens müde, möchte Ruhe und ihren Frieden haben. Und wir – wir sind nun soweit, dass wir ihr wünschen, ihr Wunsch möge erfüllt werden.

Belastend ist die Frage der Ärzte, was für Maßnahmen noch getroffen werden sollen, damit sie wieder gesund werden kann. Ein Harnwegsinfekt, eine Lungenentzündung und ein Schlaganfall stehen zur Auswahl. Es ist die eine Sache, alle Vorsorgepapiere auszufüllen, die Kreuze an die richtige Stelle zu machen und zu verfügen, dass ein anderer Mensch entscheiden soll, welche lebensverlängernde Maßnahmen getroffen werden sollen oder eben auch nicht. Diese Papiere haben uns immer sehr geholfen, entscheiden zu können. Eine ganz andere Sache ist es vor einem Arzt zu stehen und diese Entscheidung zu treffen. Zum Glück ist es in unserem Fall eindeutig und oft kommuniziert. Sie selber hat es verfügt, festgeschrieben und uns oft gesagt, das sie alles ablehnt, was sie künstlich am Leben hält.

Aber sie ist nun mal die Mutter, die Schwester, die Schwiegermutter, die Oma. Wir möchten festhalten – wissen aber, dass dies nicht mehr richtig ist. Der Wunsch, dass sich ihr Wille erfüllt und sie Frieden findet, wird immer stärker. Wir reden viel miteinander, müssen diese Situation gemeinsam bewältigen, kämpfen mit der inneren Zerrissenheit und wissen doch, dass es so kommen wird. Und wann? In Stunden, Tagen oder Monaten? Er kommt – der Frieden, den sie sich wünscht – bis dahin werden wir weiter machen … Leben, Arbeiten, Reden, Nachdenken – aber auch Lachen, Freude empfinden, das Miteinander genießen und erinnern uns an die vielen gemeinsamen Jahre – mit einer einst starken Frau.

Am nächsten Tag ein weiterer Anruf. Sie ist aus dem Krankenhaus entlassen worden und wieder im Seniorenheim. Innerhalb kürzester Zeit sind wir bei ihr – fassungslos, dass so eine schnelle Wende möglich sein soll. Gestern noch zum Sterben bereit und heute wieder entlassen. Sie liegt wieder in ihrem Bett, erkennt uns sofort, setzt sich mit Hilfe auf und redet mit uns … immer die gleichen Fragen. Sie sieht immer noch nicht gut aus, ihr Atem rasselt, aber es ist möglich ihr ein Lächeln zu entlocken. Im Schwesternzimmer lasse ich mir den Entlassungsbericht geben. Unter vielem anderen steht dort: „Auf Wunsch der Patientin erfolgt eine rasche Rückverlegung in die gewohnte Umgebung der Pflegeeinrichtung!“ … wir sind sprachlos. Wie kann man einen dementen Patienten auf eigenen Wunsch entlassen, der zwei Minuten später davon nichts mehr weiß? Will sie nun leben oder sterben? Wir sind durcheinander.

Gut, alles geht wieder seinen gewohnten Lauf … wir werden sie beobachten, besuchen, unterstützen, betreuen … alle Auf und Ab’s mit ihr durchleben, ihre Fragen beantworten und mit ihr lachen, wenn es geht. Wir sind dankbar für unseren Alltag, die Arbeit, die Kinder, die uns ablenken. An ihrem Handgelenk trägt sie immer noch das Plastik-Armband aus der Klinik mit ihrem Namen drauf … es sieht aus wie das bei der Geburt eines Kindes … das ist der Lebenskreislauf. Und das Leben fragt nicht, wie es uns geht, es geht immer weiter – dafür bin ich besonders dankbar!

Die Zeitung Nummer 374

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Nr. 374 macht sich auf den Weg

In der riesigen Produktionshalle der Druckerei steht ein Koloss von einer Maschine, der fünf Farbwerke verbindet und einfaches weißes Rollenpapier in bedruckte Zeitungsseiten verwandelt. Es ist laut in der Halle, denn verbunden mit dem Koloss sind weitere Maschinen und Förderwerke, die in einer Endlosschleife das Rollenpapier verarbeiten und am Ende fertig verpackte Zeitungsstapel produzieren und auswerfen. Es ist die Geburtsstunde der kleinen Stadtteilzeitung, die sich von hier aus auf ihren Weg zum Leser macht. In einem dieser Zeitungsstapel lag eines Tages eine kleine Zeitung, die gleich nach Entstehung eine unglaubliche Neugierde entwickelte, wohin ihr Weg sie führen würde. Sie war ungemein stolz auf ihre schönen gedruckten Buchstaben und bunten Bilder, die viele schöne Berichte auf ihren 12 Seiten zusammenfassten.

Doch zuerst führte der Weg der Zeitungen in der Druckerei zu einem großen Lastwagen. In dem war es ziemlich eng und voll, von oben und unten wurde gedrückt, alles war mit Zeitungsstapeln voll gepackt. Doch es half nichts. Die Lastwagen wurde geschlossen, Motorengeräusche waren zu hören und in schunkelnder Fahrt machten sich alle Zeitungsstapel auf ihren gemeinsamen Weg. Lange dauerte die Fahrt nicht. Der Laster hielt an, wurde geöffnet, Stapel für Stapel wurde in einen kleinen Raum getragen. Die Tür des Raums ging zu und erst einmal war Ruhe. Unsere kleine Zeitung schaute sich ein bisschen um und entdeckte ein Plakat auf dem in bunten Buchstaben stand: „Faschingsfest im KiJuNa“. „Aha, KiJuNa heißt das hier also,“ dachte sich die kleine Zeitung und überlegte, was das wohl war.

Als sich unsere kleine Zeitung gerade so richtig anfing zu langweilen, ging die Tür wieder auf. Zwei Männer kamen herein und besprachen sich, wie sie die ganzen Zeitungsstapel nun im Bezirk verteilen würden. Sie brachten die Stapel erneut in einen Wagen, diesmal in einen kleinen Transporter, der keine allzu lange Fahrt vermuten ließ. Unsere kleine Zeitung dachte sich ganz richtig, dass dies nun wohl der Zeitpunkt war, sich von seinen Brüdern und Schwestern zu verabschieden. Die Zeitungen hatten ja eine Aufgabe: Die Buchstaben und bunten Bilder, die sie trugen, ergaben spannende Informationen, die unbedingt einen Leser finden wollten. Recht hatte sie – nach kurzer Zeit trugen die beiden Männer mal hier, mal dort – immer ein, zwei, drei Stapel der Zeitungen in ein Geschäft, eine Bücherei, ein Bezirksamt oder eine Einrichtung. Bei den Einrichtungen stand immer Stadtteilzentrum auf einem Schild. Die mochte unsere kleine Zeitung, denn das Wort „Stadtteil…“ war ja auch ein Teil ihres schönen Namens. In einer dieser Einrichtungen wurde ihr Stapel schließlich auch gebracht. Dort war eine Frau, die die Männer sehr herzlich begrüßte und sich richtig freute, dass sie die neuen Zeitungen bekam. Als die Männer weiterfuhren, legte die Frau die älteren Zeitungen zur Seite und platzierte die neuen in einem schönen Stapeln bereit. Was wohl mit den älteren Zeitungen gemacht werden würde, überlegte sich unsere kleine Zeitung. Aber das vergaß sie recht schnell, denn nun war ja der Moment „ihren“ Leser zu finden in greifbare Nähe gerückt. Drei Geschwister lagen über ihr – oh, wie sie sich freute.

In der Einrichtung, in der die Zeitungen lagen, war ganz schön viel los. Männer, Mütter mit Kindern, ältere Frauen und Herren, alle aus aller Herren Länder. Die sprachen so viele unterschiedliche Sprachen, dass unsere kleine Zeitung sich immer freute, wenn sie entdeckte, dass die ganzen Menschen ja doch ihre Sprache, also ihre Buchstaben, verstehen und sprechen konnten. Eine Frau mit Kopftuch nahm die erste Zeitung und steckte sie ohne zu lesen ein. „Hm, liest sie bestimmt heute Abend“, dachte die kleine Zeitung, „noch zwei, dann bin ich dran!“ Die nächste Ausgabe nahm eine junge Frau mit einem Baby auf dem Arm und setzte sich ins Café. „Noch eine über mir,“ dachte die kleine Zeitung. Nach einer Weile kam ein ziemlich alter Herr mit Aktentasche. Der sah etwas grummelig aus. Auch er nahm sich eine Zeitung, schaute sich das große Titelbild an, las ein bisschen und fing an zu lächeln. „Aha, wir haben also die Kraft unsere Leser zum Lächeln zu bringen!“ dachte sich unsere Zeitung und konnte kaum mehr aushalten, da sie nun an der Reihe war.

Nun … es dauerte. Keiner kam und nahm sich die kleine Zeitung. Es wurde Nacht und wieder Tag. Die freundliche Frau kam zurück, schloss alles auf, kochte Kaffee, breitete das Frühstück vor für die Gäste in ihrer Einrichtung, die „kieztreff“ hieß. Zu ihr kam eine zweite Frau und sie unterhielten sich, dann kam ein Mann, der sich an die Theke setzte. „Jetzt,“ dachte sich die kleine Zeitung, „gleich entdeckt er mich!“ und tatsächlich zog der Mann die oberste Zeitung zu sich heran. Fing an zu lesen, blätterte, las weiter, blätterte … oh, wie wohl fühlte sich die kleine Zeitung. Schließlich zog der Mann einen Kugelschreiber aus seiner Tasche, klappte die Zeitung zu und schrieb in die obere Ecke „374“. Faltete die Zeitung zusammen und steckte sie in seine Jackentasche.

„Ich bin jetzt also die Zeitung Nr. 374.“ überlegte sich unsere Zeitung. „Was das wohl zu bedeuten hat?“ Aber das überlegte sie nicht lange, denn der Mann machte sich auf den Weg und unsere Nr. 374 freute sich auf die Dinge, die sie nun mit dem Mann erleben würde …

Familie Glück und Nummer 374

Der Mann, der die Zeitung mit der Nummer 374 mitgenommen hat, heißt Herr Glück. Er ist der Vater von Jule und Paul und wohnt mit Frau Bärbel und Schwiegermutter Else zusammen in einem kleinen Haus in Lichterfelde. Ab und zu geht er in den „kieztreff“, trink dort einen Frühstückscafé, liest etwas in der Zeitung, bevor er sich auf den Weg zur Arbeit macht. In seinem Garten steht eine riesengroße Lärche, die mit der Zeit sehr krumm gewachsen ist und er Befürchtungen hat, dass sie irgendwann umfällt. In der kleinen Zeitung hatte er in einem Beitrag gelesen, dass man unter bestimmten Voraussetzungen solch einen Baum fällen darf. Eine Amtsnummer, die Auskunft geben kann, stand auch in dem Artikel, Durchwahl -374. Dort wollte er anrufen und sich erkundigen.

Als Herr Glück am Abend nach Hause kam, hatte er seine Informationen bekommen. Die Lärche gehört nicht zu den geschützten Baumarten in Berlin, also durfte sie ohne Genehmigung und Ersatzbepflanzung gefällt werden. Herr Glück hängte seine Jacke an den Garderobenhaken, sah die kleine Zeitung in der Tasche, die er nun ja nicht mehr brauchte und legte sie auf den Beistelltisch. Er begrüßte seine Familie und freute sich auf einen schönen Abend zuhause. Natürlich erzählte Herr Glück davon, dass die Lärche gefällt werden dürfe und man nun schauen müsse, wer so etwas machen kann. Frau Glück, die ja die Pläne den Baum zu fällen kannte, hatte sich schon einmal online umgeschaut, was man statt dessen dort pflanzen könne. Verliebt war sie in einen Ginkgobaum, der zwar auch ein Nadelgehölz ist, aber doch Blätter hat. Gefallen hat ihr besonders, dass der Ginkgo als Lebensbaum gilt und seinen Blättern eine große Heilwirkung zu gesprochen wird.

Später, als Frau Glück schlafen ging, kontrollierte sie noch einmal die Haustür. Dabei fiel ihr Blick auf die kleine Zeitung auf dem Beistelltisch oder besser gesagt, auf die Nummer auf der kleinen Zeitung auf dem Beistelltisch. 374 … was hatte denn nun das zu bedeuten. 374 war genau die Online-Bestellnummer für einen Ginkgo-Baum. Sie nahm die kleine Zeitung in die Hand, blätterte sie durch und überlegte. Bestimmt wollte sie ihr Mann mit dem schönen Baum überraschen und da er sich keine Zahlen merken konnte, hatte er sie hier aufgeschrieben und vergessen einzustecken. Aber hatte sie tatsächlich die Nummer in dem Gespräch erwähnt? Nun, das wusste sie nicht mehr und legte die Zeitung gedankenverloren in die Schublade darunter.

Das gefiel der kleinen Zeitung nun nicht. In der dunklen Schublade konnte sie keiner sehen. Sie wollte gelesen werden und erst nach ein paar Tagen, in denen sie außerhalb viele Geräusche gehört hatte, zog jemand die Schublade wieder auf. Das Gesicht von Oma Else war zu sehen. Die suchte ihren Schlüssel – wieder einmal – und hoffe ihn in der Schublade zu entdecken. Da war er nicht, aber die Zeitung kannte sie nicht und beschloss, sie sich zum Kaffee anzuschauen. „Endlich wieder jemand der mich lesen möchte,“ stellte die kleine Zeitung zufrieden fest. „Ich kam mir schon wie Altpapier vor!“ … am Nachmittag war es dann soweit. Oma Else machte es sich auf der Terrasse gemütlich, legte sich die Zeitung und ihr Strickzeug bereit, dann machte sich eine schöne Tasse Kaffee. Sie las in der Zeitung, die sich nun so richtig wohl und beachtet vorkam. Alle Beiträge hatten etwa das gleiche Thema. Es ging in der ganzen Zeitung um „Nachhaltigkeit“. Ein ganz modernes Thema, das davon handelt, wie wir unsere Bedürfnisse und unseren Verbrauch so ändern, dass wir die Welt nicht zu sehr belasten und für unsere Nachkommen erhalten. Oma Else las alles durch und legte die Zeitung später zufrieden zur Seite. 374 … sie nahm ihr Strickzeug in die Hand, blickte aber immer wieder auf die 374, die auf die Zeitung geschrieben stand. War sie beim Stricken tatsächlich in Reihe 374 stehengeblieben? Nun, Oma Else grübelte nicht lange und legte los … Reihe 375, 376, 377 … die kleine Zeitung lag zufrieden auf dem Tisch … durchgelesen!

Etwas später am Nachmittag setze sich Paul zur Oma und erzählte ihr, was er am Nachmittag mit seinem Freund Jasper erlebt hatte. Die beiden Jungen waren zum Weiher gefahren und hatten dort ihre Boote fahren lassen. Paul war so stolz auf sein selbstgebautes Boot, das aber etwas langsamer als Jaspers Boot war … Jasper hatte Model 374 – als Paul die Zahl in der oberen Ecke auf der kleinen Zeitung sah, erschrak er so heftig, dass er gegen den Tisch stieß und sein Saftglas umstieß. Na, was für eine Freude. Oma Else sprang auf und rettete vor dem Saft was sie halten konnte. Paul holte einen Lappen und so hatten sie schnell wieder alles in Ordnung gebracht. Nur die kleine Zeitung sah jetzt nicht mehr so fein aus. Else legte sie schnell zur Seite auf die Fensterbank, wo sie trocknen konnte. „Was ist nur mit dir los, Paulchen,“ schimpfte Oma Else, „manchmal bist du wirklich ungeschickt.“ Paul hörte das nicht. Er überlegte, warum die Nummer mit seinem Wunschmodel auf der Zeitung gestanden hatte. Ob sich da wohl jemand Gedanken für seinen Geburtstag gemacht hatte?

Am frühen Abend kam die ganze Familie auf der Terrasse zusammen. Die Mutter hatte für alle etwas zu essen bereit gestellt, alle hatten etwas über den Tag zu erzählen und unterhielten sich angeregt. Bis Oma Else anfing vom Nachmittag und dem umgeschubsten Saftglas zu erzählen. Sie beklagte sich, dass das Strickzeug ja doch ein paar Spritzer von dem Saft abgekommen hatte und nun ganz klebrig sei. „Aber,“ beschwerte sie sich, „ist ja eh wurscht. Ich hab bei Reihe 374 weitergestrickt, weil das auf der kleinen Zeitung stand. Als ich den Fehler gemerkt hatte, war ich im Muster schon viel zu weit. Jetzt muss ich wieder alles aufmachen und neu anfangen.“ „Äh, 374. Auf der kleinen Zeitung? Das war doch nur die Durchwahl für das Grünflächenamt, weil ich wissen wollte, ob wir die Lärche fällen dürfen. Sonst würde die ja immer noch dort stehen!“ sagte Herr Glück ganz verwundert und schaute in die großen Augen seiner Frau. „Wie, Durchwahl,“ , meinte sie. „War das nicht die Online-Bestellnummer für meinen neuen Ginkgo-Baum? Hast du ihn nicht bestellt?“ Die Eltern schauten sich fragend an und wieder zur Oma, die leise vor sich hin schimpfte und irgendwas von mangelnder Kommunikation in der Ehe erzählte. Und Paul … tja, der schaute ebenso verwundert, nein eher enttäuscht, und erzählte mit leiser Stimme ebenfalls von seiner Verbindung zu Nummer 374 … Sprachlosigkeit in der Familie und jeder hing seinen Gedanken nach. Der Vater fragte mit einem Mal, wo eigentlich Jule ist. „Jule wird ja wohl nichts mit 374 zu tun haben … Jule!“ rief er laut.

Jule meldete sich … im hintersten Winkel des Gartens, dort wo vorher die Lärche gestanden hatte, war sie auf dem Boden beschäftigt. Das interessierte dann doch alle und sie gingen zu ihr hinüber. Jule buddelte in der Erde. „Schau mal, Mama. Ich habe diese kleine Kastanie im Park gefunden. Die hat ausgekeimt und ist schon so groß. Wenn ich sie im Park gelassen hätte, wäre sie bestimmt kaputt gegangen. Wir haben doch jetzt den Platz, wo die Lärche weg ist.“ Jule schaute alle mit strahlendem Gesicht an. Herr und Frau Glück konnten sich ihr Lächeln nicht verkneifen und Paul meinte dazu: „Ich weiß jetzt, was Jule mit der kleinen Zeitung Nummer 374 zu tun hat. Schaut mal zu der Erde. Jule hat Zeitungsschnipsel mit eingegraben.“ „Warum hast du das denn gemacht?“ fragte die Oma. „Na, in der Schule im Hort haben wir heute gelernt, dass Zeitungspapier aus Bäumen gemacht wird. Und als ich vorhin mit der Kastanie gekommen bin, habe ich die nasse Zeitung gesehen. Die kann ja keiner mehr lesen.“ „Dann hat der kleine Baum ja genügend Lesestoff und wird bestimmt ein schlauer Baum,“ lachte die Oma und auch die anderen mussten jetzt alle lachen. 374 – eine einfache Zahl auf so einer kleinen Zeitung und jeder hatte damit etwas zu tun. „Ach, Paulchen, natürlich bekommst du dein Model Nr. 374 zum Geburtstag. Das Geld für den Ginkgo haben wir ja jetzt eingespart, dank Jule und der kleinen Zeitung!“

Die kleine Zeitung war zufrieden – zwar in kleine Schnipsel zerrissen, aber sie hatte alles erlebt, was so eine Nr. 374 erleben kann. Eines Tages würde sie wieder ein großer starker Baum sein, der sicherlich nicht zu Zeitungspapier verarbeitet werden würde!

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Die Geschichte von Nr. 374 ist im Zusammenhang mit dem Papierpaten-Projekt des Stadtteilzentrum Steglitz e.V. entstanden. Eine schöne Projektbeschreibung findet sich in diesem Beitrag: Neue KollegInnen in der Geschäftsstelle

Die letzte Mohnstolle …

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Ich sah aus dem Augenwinkel, dass eine E-Mail von der Mutter ankam, worüber ich mich immer freue. Als ich sie las, war ich gar nicht mehr so freudig. Ich wusste nicht, wie ich sie einschätzen sollte. Es war die Ankündigung an meine Geschwister und mich, dass unsere Weihnachtspäckchen unterwegs seien. Das bedeutet in der Regel, bald gibt’s Mohnstollen, den sie jedes Jahr für uns backt – so lecker! Also eigentlich etwas, was Freude bei mir auslösen sollte. Aber in der Mail stand auch der Satz: „Genießt den Kuchen, denn ab jetzt könnt Ihr nur noch das Rezept von mir bekommen.“ Schon schlugen die Gefühle Purzelbaum – richtig auf’s Päckchen freuen wollte ich mich nicht mehr. Natürlich antwortet ich fröhlich, dass sie mir sicherheitshalber das Rezept schicken solle, falls ich sie im nächsten Jahr nicht mehr überreden könne, wieder eine Stolle zu backen.

Was mich so „unfreudig“ gestimmt hatte war die Tatsache, dass sich meine Mutter bester Gesundheit erfreut. Sie ist aber auch ein sehr klar denkender Mensch, der Tatsachen anspricht und ehrlich damit umgeht. Also auch, dass sie älter wird und manche Dinge ihr nicht mehr von der Hand gehen wie früher. So auch das Backen der Stollen für fünf „Kinder“ zu Weihnachten. Unterschwellig war aber auch eine andere Botschaft damit verbunden, die sich für mich durch dieses ganze Jahr zieht. Ich muss bereit sein mich von Menschen zu verabschieden. Akzeptieren, dass Menschen sich auf die letzte Lebensphase vorbereiten. Damit verbunden auch annehmen, dass dieses Thema für mich persönlich näher kommt. Ein sehr unbequemes Thema, wenn man eigentlich Mitten im Leben steht.

Im Juni haben wir die Schwiegermutter auf andere Weise verloren. Sie ist in die Demenz gefallen, das hatte ich in diesem Beitrag schon einmal beschrieben. Die ersten Wochen und Monate waren sehr schwer und wir mussten lernen damit umzugehen. Demenz muss man erleben, sonst kann man sich schwer vorstellen, wie sich die betroffenen Menschen verändern. Dabei haben wir es noch relativ gut getroffen, da sie zweihundert Meter weiter im Seniorenheim sehr gut untergebracht ist. Es fällt uns dennoch immer schwer sie zu besuchen. Ein Teil in uns möchte, dass es wieder so wie früher wird und der andere Teil beobachtet sehr realistisch, dass sich diese einst starke Frau immer weiter von uns entfernt. Sie wird kleiner, transparenter, leiser, zärtlicher, dankbarer … weniger!

Ich habe ihr eine kleine Nikolaustüte gepackt. Ein Schokoladen-Nikolaus, ein Schoko-Glückskäfer (den sie uns immer schenkte) und dann noch jeweils eine Klappdose mit Bonbons und eine mit kandiertem Ingwer. Ich war gespannt und diesmal fiel es mir nicht so schwer sie zu besuchen, hoffte ich doch, dass sie diese Dinge erkennt und sich freut. Normale Tüten zu öffnen und schließen geht mit ihren Fingern nicht mehr. Ich zeigte ihr, wie sie die erste Dose auf bekommt. Auf die Frage, ob sie weiß, was es ist, meinte sie: „Na diese Bonbons, diese Ca… , diese mit Lakritz.“ und ich sagte „Ja, Cachou-Bonbons!“ Sie nahm ganz schnell die zweite Dose in die Hand, die sie selber öffnete. „Ach, Ingwer!“ und schon war der erste in ihrem Mund. Ihr Lächeln war mehr als 1000 Goldstücke wert. Nach einem schönen Spaziergang mit ihr, ging ich einigermaßen zufrieden nach Hause. Nur einigermaßen zufrieden, weil sie mir im Gespräch wieder gesagt hatte, dass sie manchmal nicht mehr aufwachen möchte. Das tut weh. Zufrieden, weil ich gesehen habe, dass sie sich über Kleinigkeiten freut und ich aktiv etwas tun kann. Cachou-Bonbons und Ingwer, die sie immer liebte, sind offensichtlich noch in ihrer Erinnerung wach. Wer weiß, wie lange noch.

Abschied hat immer etwas Schweres in sich, ob plötzlich oder langsam, spielt keine große Rolle dabei. Man kann etwas nicht wieder zurückholen, es ist endgültig und die Angst, was diese Veränderung mit sich bringt und die verbundene Ungewissheit doch groß. Ein Kollege hat kürzlich seine Mutter verloren. Sie war friedlich eingeschlafen, was sicherlich tröstlich war, aber damit ist für ihn die ganze Elterngeneration weggebrochen. Er hat am Tag der Beerdigung einen sehr schönen, ergreifenden Nachruf an seine Eltern veröffentlicht. Ich habe ihn sehr bewundert dafür, weil er offen über seine Trauer sprach, dennoch seine Dankbarkeit zu Ausdruck brachte und seine Verbundenheit und Liebe zeigen konnte. So hat er seinen Söhnen vermittelt, was er selber an Erziehung erfahren hat, was er an Erziehung den Söhnen weitergeben wollte und die Söhne dies in ihre Kinder weitergeben können. Trotz aller Trauer hat er einen Weg aufgezeigt, wie seine Eltern weiterleben in der Erinnerung und der Erziehung der Kinder in dieser Familie.

Es geht immer weiter – anders halt, aber es geht! Manchmal schwer, manchmal leichter … mir ist bewusst, dass ich die Veränderungen nicht aufhalten kann. Will ich auch nicht, genauso wenig wie ständig daran denken. Oder durch so eine Mail mit einer Mohnstolle daran erinnert werden. Lieber konzentriere ich mich auf das Jetzt. Überlege, wie ich die Zeit, die ich z.B. mit der Schwiegermutter noch habe, nutzen kann. Wie ich mich auf Veränderungen vorbereiten und wappnen kann. Genauso wie ich bereit sein muss, mich von Menschen zu verabschieden, muss ich bereit sein, Menschen in meinem Leben zu begrüßen. Was steht mir noch mit meinen Kindern bevor? Ich bin so dankbar, dass ich sie um mich habe, sind sie doch ein entscheidender Motor für mein Leben. Ich freue mich auf neues Leben, denn sicherlich werde ich in vielen Jahren auch einmal Oma sein. Erst einmal werde ich Tante – im nächsten Mai bekomme ich eine Nichte oder einen Neffen. Mein jüngster Bruder wird das erste Mal Vater und die Familie wächst weiter. Ein absoluter Grund für Optimismus – so eine große Freude für uns alle.

In diesem Jahr genieße ich die letzte, von der Mutter gebackene, Mohnstolle, denn das Päckchen ist angekommen. Im nächsten Jahr … backe ich sicherheitshalber schon mal selber … oder schaffe es doch noch, sie wieder zu überreden! 🙂 Denn es gibt einfach Gerichte und Gebackenes, die bei aller Mühe nicht so schmecken wollen, wie es zuhause einmal war!

 

 

 

Die Erinnerung bleibt

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Sie sitzt auf ihrem Findling im Garten und ihr Blick geht über den See. Sie schaut in die Ferne. Nicht in die messbare Ferne in Kilometern, sondern in die Ferne ihrer Erinnerungen, die nunmehr übrig bleiben. Gestern hatte sie mich noch gefragt, ob sie den Findling nicht wegräumen sollte. Dann erzählte sie aber, wie gerne sie immer auf dem Stein saß, wenn Schwester Longina, eine befreundete Nonne, zu Besuch kam und sie der Schwester beim Schwimmen im See zuschaute. Schon war sie wieder in den Erinnerungen und ihr Blick nicht mehr greifbar.

Die Oma, die wir kannten, gibt es nicht mehr. Vorangegangen war ein Infarkt, ein Krankenhausaufenthalt und eine Reha. Eine Zeit, in der Bangen, Hoffen und Wunschdenken sich die Klinke in die Hand gaben. Schließlich wurde sie nach Hause entlassen, mit einer vagen Prognose und einer perspektivischen Einschätzung der Ärzte, die den Angehörigen Mut, aber dennoch nichts Greifbares in die Hand gaben. Das Zuhause erkannte sie und der Auftrieb, der sie zu erfassen schien, gab wieder Hoffnung.

Mit den ersten Tagen zuhause kam die Erkenntnis. In den vertrauten Räumen findet sie die Türen nicht, die Anziehsachen liegen immer am falschen Ort, die Zahnbürste war im falschen Raum. Hunger und Durst kennt sie nicht, isst und trinkt nur, wenn sie dazu aufgefordert wird. Von einer Puppe, die immer am gleichen Ort liegt, sagt sie, sie sei gestohlen worden. Wenn man sagt, Nein, sie sitzt auf ihrem Platz. kommt ein kurzes Ach ja! um nach einer halben Stunde wieder zu erzählen, dass die Puppe weg sei. Beim Kaffeetrinken fragt sie alle paar Minuten, wo ich den Kuchen gekauft habe und ich gebe immer wieder die gleiche Antwort. In den Minuten dazwischen ist ihr Blick sehr weit weg … wo, wissen wir nicht.

Zwei Arztbesuche holen uns auf den Boden der Tatsachen. Die Augenärztin erklärt uns das eingeschränkte, irreversible Blickfeld, dass sie noch hat – Orientierung unmöglich – Infarktbedingt. Der Hausarzt erklärt uns den abschließenden Arztbericht der Klinik – selbstständiges Leben unmöglich – Infarktbedingt. Auch Infarktbedingt ist die Demenz, die keine Heilungschancen, eher das Gegenteil erwarten lässt. Wir fahren nach Hause, jeder in seinen Gedanken und beantworten auf der Fahrt wie einstudiert ihre wiederholte Frage, was das denn nun für ein Arzt gewesen sei – immer wieder.

Ohnmacht und ein leerer Tagesablauf sind die Folge. Immer angespannt und auf der Hut, wohin sie nun wieder läuft. Fragen, ob sie nicht trinken möchte, ob sie Hunger hat, wie es ihr geht. Schlafen tut sie schlecht und bei dem schlurfenden Geräusch ihrer Schritte in der Nacht sind alle wieder wach. Argwöhnisches beobachten, ob wir nicht doch wieder einen Funken der alten Oma entdecken, so wie sie früher war. Rundumbetreuung ist notwendig und selbst wenn sie stundenlang am gleichen Platz sitzt, trauen wir uns nicht, sie aus dem Blick zu lassen. Und immer wieder Gespräche zwischen uns, reden und erzählen, abwägen und besprechen, versuchen zu planen und überlegen, wohin es gehen soll. Dazwischen eigene Erinnerungen und die unlösbare Frage nach dem Grund. Und nach der Lösung. Hilflose Versuche ihr Verhalten in den letzten Monaten zu deuten.

Die Entscheidung … tut furchtbar weh und gleicht einem Scheitern. Wir erkennen, dass wir nicht in der Lage sind, diese Rundumbetreuung aufrecht zu erhalten und gleichzeitig unserem Leben, in dem wir an vieles gebunden sind, und unseren Kindern gerecht zu werden. Die Entscheidung ist getroffen, die Oma muss in einem Seniorenheim betreut werden. Dabei haben wir Glück, sofern man in diesem Zusammenhang von Glück reden mag. 200 Meter von unserem Haus ist eine Einrichtung, die auch einen Platz hat und sie sofort aufnehmen kann. Zwei Tage zwischen der Entscheidung und der Abfahrt, die gefüllt sind mit der immer währenden Frage, ob wir das richtige tun. Zwei Tage voll Zweifel und auch voll mit Schuldgefühlen, sie zu verraten. Manchmal, ganz unvermittelt, sagt sie Dinge, die im Zusammenhang passen und zeigen, dass sie durchaus noch Momente in der jetzigen Zeit hat. Momente, in denen wir verzweifeln und wünschten, dass dies alles nicht wahr ist.

Am Morgen vor der Fahrt läuft sie im Bademantel an mir vorbei in den Garten. Wohin sie denn möchte, beantwortet sie damit, dass sie in den See wolle, sich erfrischen. Das hat sie immer getan, jeden Morgen, teils bis in den November, in all den Jahren. Nun das erste Mal seit dem Krankenhaus. Ich sage, dass sie aber nicht hinaus schwimmen solle, platziere mich in angemessenem Abstand, passe auf sie auf und frage mich wieder einmal, ob das alles richtig ist. Warum jetzt? Warum geht sie ausgerechnet an dem Morgen, an dem wir sie wegbringen, an dem sie das letzte Mal hier ist, in den See. Ahnt sie es und verabschiedet sie sich? Später frühstücken wir, packen und als es hinaus ins Auto geht, dreht sie sich noch einmal um und fragt: Und wann bringt ihr mich wieder zurück?“ Ich kann die Tränen noch halten bis das Auto hinter der Kurve verschwunden ist. Zuhause parkt ihr Sohn das Auto an dem Haus in dem sie fast 40 Jahre gewohnt hat. Er läuft mit ihr die 200 Meter in der Straße, die fast 40 Jahre ihr Arbeitsweg war. Sie erkennt das alles nicht mehr und geht mit ihm in das Seniorenheim, dass nun ihr Zuhause werden soll oder besser, werden muss.

Der Sohn spricht mit den Kindern. Er erzählt ihnen, was sie in vielen Telefonaten noch nicht erfahren haben. Sie besuchen gemeinsam die Oma und nun erkennen die Kinder den leeren Blick. Sie sehen, dass die Oma sich verändert hat. Erkennen sie und doch wieder nicht und sind erschüttert. Wir müssen viel reden.

In ihrem Haus, sozusagen in ihrem Leben, kommen wir uns wie Einbrecher vor. Es ist das gleiche Haus, wie wir es immer kannten und doch wieder nicht. Es ist leer … es ist ein Haus ohne Oma. Und doch müssen wir Einbrecher sein und sehen, wie wir alles für sie regeln, was wir beachten müssen, wem wir Bescheid geben müssen. Wir sind zerrissen – zwischen der Vernunft, dass es so sein muss und den Emotionen, dass wir es doch gar nicht wollen.

Zwischen all der Arbeit sitzen wir hin und wieder in ihrem Garten. Nicht auf dem Findling, auf den werden wir uns nicht mehr setzen können. Wir tauschen unsere Erinnerungen und denken über ihr Leben nach. Sie lebte dafür, das Gedenken an ihre Eltern zu erhalten. An den Vater, den Müller und größten Arbeitgeber am Ort. An die Mutter, die alles im Krieg und den schwierigen Zeiten danach aufrecht erhielt. An ihre Bemühungen die Mühle zu erhalten. Wir denken an ihren Weg, dieses Haus am See auszubauen und an die vielen Jahre, in denen sie nicht erreichbar war, weil sie den Garten hegte und von morgens bis abends draußen war. Jeder Gegenstand im Haus erinnert an sie. Ein gelebtes Leben voll Erinnerungen. Um dann am Ende mit einem Koffer in das Seniorenheim umzuziehen. Wir hoffen, dass ihre Erinnerungen sie tragen, die sie mitnehmen kann. Was wir uns wünschen sollen, wissen wir nicht. Aber auch unsere Erinnerungen an die gesunde Oma bleiben … und trösten … ein wenig.