Eine kleine Geschichte vom Mandelstrauch

Es ist 25 Jahre her, dass wir, mein Mann und ich, frisch verheiratet, in unser kleines Häuschen einzogen. Damals noch nicht alleine. Die Schwiegermutter und wir bildeten eine Art Wohngemeinschaft, weil zu der Zeit gute Wohnungen schwer zu bekommen waren. Die „Haushoheit“ lag natürlich bei der Schwiegermutter. Was ich vom ersten Tag an jedoch besonders zu schätzen wusste, war der Garten ums Haus. Insbesondere als unsere Kinder geboren wurde, war es immer schön, einfach die Tür aufzumachen und sofort im Freien zu sein. Das bedeutet nicht, dass mir der Garten gefiel. Er war doch sehr praktisch gestaltet: Rundum Nadelbäume auf brauner Erde und in der Mitte Rasen, weiter nix. Mit einer Ausnahme – ein Mandelstrauch.

An der Seite des Hauses stand der Mandelstrauch, der mir nicht sofort auffiel, da er übers Jahr eigentlich nur grüne Blätter trägt. Gleich im ersten Frühjahr sah ich aber die kleinen Knospen und später wunderschönen gefüllten Blüten in zartrosa. Die Blüte dauert nicht lange, ein/zwei Wochen, dann kommen die Blätter. Ich mochte ihn von Anfang an, war er für mich ein Sinnbild des beginnenden Sommers.

Irgendwann war es dann so weit, dass die Schwiegermutter nach Mecklenburg zog. Ich gebe gerne zu, dass wir den Platzgewinn und natürlich auch das wieder gewonnene Alleine-Sein sehr genossen. Nachdem wir im Haus alles neu aufgeteilt und eingerichtet hatten, begannen wir den Garten neu zu gestalten. Dazu muss man wissen, dass Gartenarbeit in jungen Jahren für mich ein Greul war, zumal es meist nur Laubharken und Rasen mähen bedeutete. Blumen pflanzen interessierte mich schlicht gar nicht. Nun hatten wir eine große Fläche und legten ohne Plan los. Das Erste, was fiel, waren die Nadelbäume und Friedhofssträucher. Das war schlicht durch den Wunsch geprägt, ohne Pickser im Garten barfuß laufen zu können. Wir pflanzten aus, wir pflanzten neu und pflanzten um. Zugegebener Maßen ohne Erfahrung und hoffnungsvoll, es richtig zu machen.

Schließlich kam ein Herbst und wir harkten Laub, beschnitten die Bäume und Abgeblühtes. Dabei geriet mir der Mandelstrauch in die Finger. Ich weiß es nicht mehr genau, aber denke, ich wollte ihn in Form bringen. Jedenfalls musste er sich einen starken Rückschnitt gefallen lassen. Das Resultat kam prompt im nächsten Frühjahr in Form von weniger Blüten. Ich hatte es trotzdem noch nicht begriffen und auch der nächste Rückschnitt kam. Das ging so weit, bis in einem Frühjahr nur noch die Feststellung übrig blieb, dass er eingegangen war. Schweren Herzens kam der letzte Rückschnitt auf Boden Niveau … wir hatten mal einen Mandelstrauch.

Mit den Jahren machten wir dann doch gute Erfahrungen und bekamen Routine in unseren Gartenarbeiten. Nicht alles glückte, aber im Großen und Ganzen immer mehr. Ich fand Spaß daran, Neues zu pflanzen und mich im nächsten Frühjahr zu freuen, wenn es den Winter überstanden hatte. Gartenarbeit assoziierten wir immer mehr mit Entspannung, als mit Arbeit. Der Garten wurde unser zusätzliches Wohnzimmer im Sommer.

Viele Jahre später beschäftigten wir uns mit dem Gedanken das Haus umzubauen. Dazu wollten wir drei weitere Bäume fällen, wozu man in Berlin eine Genehmigung braucht. Für eine sehr große, aber kranke, Birke neben dem Haus bekamen wir diese sofort. Wirklich sehr kurz bevor die Birke gefällt wurde, bemerkte ich genau an der Stelle an der früher der Mandelstrauch stand, einen kleinen Zweig. Ich konnte es kaum fassen, aber es war sofort klar, dass es tatsächlich ein Mandelzweig war. Ich pflanzte ihn sehr behutsam aus, bevor die schweren fallenden Baumabschnitte der Birke ihn wieder kaputtmachten. Er bekam eine sehr geschützte Stelle von mir und ich achtete sehr auf den kleinen Zweig. Dort musste er die Um- und Anbauarbeiten abwarten. Zwei Jahre stand er dort, entwickelte sich und zeigte im Frühjahr wieder seine wunderschönen gefüllten Blüten. Anfänglich ein paar, aber mit den Jahren wurden es wieder mehr. Es ging ihm gut und vor meiner Schere war er sicher!

Ich habe mich schon oft gefragt, warum mir die Geschichte des Mandelstrauches immer wieder in den Sinn kommt. Ich denke, es sind zwei Sachen. Zum Einen wissen wir verloren gegangen Dinge oft erst zu schätzen, wenn wir sie nicht mehr haben. Vieles ist für uns so selbstverständlich, dass wir es erst bemerken, wenn es weg ist. Das gilt für Gegenstände genauso wie für Menschen. Viel öfter sollten wir uns Selbstverständliches bewusst machen und den wirklichen Wert, die Bedeutung für uns klar machen. Ganz besonders denke ich dabei auch an die 74 Jahre Frieden, die wir hier in unserem Land erleben dürfen. Das ist nicht selbstverständlich. Wir haben einfach nur Glück, dass wir hier und jetzt geboren sind.

Der zweite Punkt, der mir bei dieser Geschichte in den Sinn kommt, ist die unglaubliche Kraft, die in der Natur, aber auch in vielen Menschen steckt. Es ist bekannt, dass sich die Natur alles zurückholt. Viele Bilder zeigen vergangene Bauwerke, die von Wurzeln und Blattwerk überzogen sind. Natur ist unglaublich Stark und mit dieser Stärke sollten wir rechnen. Greifen wir weiter wie bisher in die Natur ein, holt sie sich auf ihre Weise alles wieder zurück. Wie das letztlich aussieht, mag ich mir nicht vorstellen. Aus dem Grunde bin ich jedem jungen Menschen dankbar, der uns Ältere mahnt, endlich zukunftsweisende Klimapolitik umzusetzen und unsere Welt als Leihgabe der Jugend zu begreifen.

Auch Menschen können eine unglaubliche Kraft entwickeln. Mittlerweile bin ich so alt, dass ich schon öfter erleben durfte, wie sich der ein oder andere veränderte und sich seiner Kraft bewusst wurde. Menschen, die eine Situation nicht mehr ertrugen und von heute auf Morgen alles änderten. Menschen, die sich ein sehr hohes Ziel steckten und es tatsächlich erreichten. Menschen von anderen aufgegeben, die sich einen neuen Platz in der Gesellschaft erkämpften. Entscheidend sind der Wille und der Glaube in sich selbst.

Der Mandelstrauch hat seinen endgültigen Platz in unserem Vorgarten zwischen vielen Steinen gefunden. Heute weiß ich, dass man ihn nach der Blüte durchaus zurückschneiden darf, bzw. sogar soll. Heute kenne ich ja auch seine Kraft, die er nutzt, wenn ich ihn gut behandele. Und es ist für mich nicht selbstverständlich, wenn er jedes Jahr im Frühjahr wieder wunderschön blüht … es ist mir umso mehr eine besondere Freude!

 

Türen öffnen …

annaschmidt-berlin.com_tueren

Ich ging durch eine Winterstraße und kam an einer Tür vorbei,
die wirkte fest und auch sehr sicher, ging sicherlich nicht schnell entzwei.
Sie war sehr schön und gut beleuchtet, der Anblick lies mich nicht mehr los,
doch stand ich zweifelnd auf dem Weg – was ist denn ihre Botschaft bloß?

Wird sie sich öffnen, mich empfangen, darf ich der Gast des Hauses sein?
Bleibt sie verschlossen, weist mich ab, lässt keine Fremden dort hinein?
Was ist dahinter? Wie ist der Mensch, der hinter dieser Türe lebt?
Wie ist sein Geist, was ist das Ziel, das hier durch diese Räume schwebt.

Viel weiter führte mich mein Weg durch diese ruhige Winternacht,
Offen die Tür oder verschlossen – ich habe noch viel nachgedacht.
Bevor ich deine Tür betrachte, wie sieht’s mit meiner eig’nen aus?
Was denkt der fremde Mensch, der steht vor meinem Haus?

Was siehst du, wenn du meine Tür von außen musst betrachtest?
Fühlst du dich eingeladen wohl oder sogar verachtet.
Steht meine eigene Tür zuhaus‘ dem Fremden auf und lässt ihn rein,
Oder leb’ ich doch lieber hier für mich und ganz allein?

Und so verglich ich dann – den Mensch, ja mich, mit meiner Türe.
Was steht als erstes wohl bei mir, wenn ich den Türgriff führe?
Ist es die Neugier und das Öffnen, das meine Tür bewegt
Oder die Angst und Sicherheit, die mein Gefühl hier regt?

Ob Tür, ob Tor, ob der Gedanke, der Wissensdurst oder mein Herz,
Ich möchte offen sein für alles – Verweigerung bringt mir Schmerz.
Ich möchte hören, fühlen, sehen, was dich wohl mag bewegen,
Mit dir gemeinsam mag ich hier den Grundstein für die Zukunft legen.

Die Türen, da sind sie alle gleich, haben ein Schloss und einen Griff,
Es ist der Mensch, der dieses nutzt, der Tür gibt ihren letzten Schliff.
So lassen wir, wer will, hinein ist er in seinem Denken gut,
Dann können wir das Anderssein, betrachten mit viel Mut …

… und schöpfen aus dem Topf des anderen, der dann – ist seine Zeit gekommen,
Auch seine Tür wird öffnen mir – ganz frei und unbenommen!

 

Dieses Jahr war ganz ohne Zweifel von den vielen Menschen geprägt, die bei uns Zuflucht und Schutz gesucht haben. Es war aber auch dadurch geprägt, wie unterschiedlich die Bereitschaft aller hier lebenden Menschen ist, sich auf neue Dinge und Fremdes einzulassen. Gerade zur Weihnachtszeit, die mit einer Flüchtlingsgeschichte begann, ist es wichtig, sich selber zu hinterfragen und seine eigene Bereitschaft zu prüfen, neuen Entwicklungen den Raum zu geben, in dem sie sich entfalten können. Fremden Menschen die Möglichkeit zu geben ihr Können und Vermögen zu zeigen und in die Gemeinschaft mit einzubringen. Gewinnen tun letztendlich unsere Kinder, wenn wir uns für eine offene, multikulturelle und moderne Gesellschaft einsetzen.

Ich wünsche allen ein wunderschönes Weihnachtsfest, ganz gleichgültig, ob in der Religion oder einem anderen Glauben verwurzelt. Wichtig ist, dass wir überhaupt etwas glauben … zum Beispiel an eine gute, erfüllte Zukunft!

Frohe Weihnachten!

Immer wieder Zweifel und Entscheidungen

annaschmidt-berlin.com_haushaltsaufloesung_7

Es ist früh morgens um 6.00 Uhr. Auf dem Mühlstein, der zum Tisch umgebaut ist, steht meine erste Tasse Kaffee. Von hier aus habe ich einen wunderbaren Blick über den See. Es ist herrlich an diesem Platz so früh morgens, wenn die Natur aufwacht und sich die Sonne langsam über die Bäume schiebt. Wende ich den Blick etwas, sehe ich das Haus. Ihr Haus, in dem sie so lange gelebt hat. Nach dem Frühstück beginnt die Arbeit. Wir lösen ihren Haushalt auf, machen die Räume leer, sortieren, ordnen, entsorgen … sie kommt nie wieder zurück.

Das Haus gehört der Schwiegermutter. Vor einem Jahr hatte sie einen Infarkt, wurde infolge dessen dement und nach kurzer Zeit stand fest, dass sie an diesem schönen Ort nicht mehr alleine leben konnte. Sie zog in ein Seniorenheim, ganz bei uns in der Nähe, wo wir uns um sie kümmern können. Sie hat sich daran gewöhnt und es geht ihr den Umständen entsprechend gut. An diesen Ort erinnert sie sich nicht mehr. Das ganze Jahr blieb das Haus fast unberührt. Zu groß war die Überwindung etwas zu verändern und Tatsachen zu schaffen. Wir kamen her, um nach dem Rechten zu sehen, den Rasen zu mähen und Dinge zu erledigen, die eben gemacht werden müssen. Es war nicht mehr so wie früher. Die Oma war nicht da, richtig wohlfühlen konnten wir uns nicht mehr und die Zeit nicht zurück drehen. Mit den Kindern trafen wir die Entscheidung, dass wir hier nie leben würden. Über das ganze Jahr hatten wir immer ein ungutes Gefühl, das Haus mit allem Inventar alleine stehen zu lassen. Es liegt wunderschön – am Ortsausgang, Waldanfang, genau an der Grenze des Naturschutzes, ruhig, alleine, unbeobachtet.

Also los: Kein wehmütiges Bedauern … ich habe Urlaub – beste Gelegenheit am Stück zu arbeiten. Ein Container wurde gebracht und neben das Haus gestellt. Beim Frühstück unterhalten wir uns wer wo anfängt. Einen richtigen Plan haben wir nur grob und wir ahnen nur, was vor uns liegt. Ein gesammeltes Leben auf 200 qm Wohnfläche untergebracht. Dazu muss man wissen, dass diese Frau alles aufgehoben hat. Nicht nur von sich selber, auch was sie von den Eltern erben konnte und sich über ein ganzes Leben lang angesammelt hat. Regale und Schränke waren voll, jeder mögliche Platz genutzt, jeder Winkel voll gestellt, Keller und Dachboden ausgelastet. Die Räume durchgehend geschmückt mit allerlei Figuren, Bildern, Schalen, Krügen, Erinnerungen, Mitbringsel.

annaschmidt-berlin.com_haushaltsaufloesung_6

Die wichtigsten Unterlagen hatten wir schon vorher durchgesehen und gesichert, was für sie persönlich wichtig war. Nun kamen Ordner auf uns zu, in denen Vorgänge ab den 70er Jahren zum Vorschein kamen, ein Stapel Urkunden aus den 1870er Jahren, Fahrscheine und Visa aus DDR-Zeiten, Briefe über Jahrzehnte verteilt. Aber nicht nur Briefe, den entsprechenden Briefumschlag sicherheitshalber dazu. Kalender, gesammelt seit den 80er Jahren oder unbeschriebene Postkarten, die für Jahrzehnte reichen würden. Bücherregale mit allerlei Schätzen, die im Antiquariat nichts mehr zählen. Schon stoße ich an meine Grenze. Gut, Meyers Konversationslexikon, komplett mit Sonderbänden … in „Google-ist-mein-Freund“-Zeiten nicht mehr ganz zeitgemäß. Größere Probleme machen mir die vielen kleinen Büchlein mit Goldschnitt und schön gestalteten Titeln. Kinderbücher oder zum Beispiel „Der Kriegs-Struwelpeter!“ aus der vorletzten Jahrhundertwende … ich kann es nicht weg tun und schon sind die Stapel „Aufheben!“ und „Wegschmeißen!“ geboren. Vier Kartons bleiben übrig und werden sich in die ohnehin schon vollen heimischen Bücherregale einordnen.

annaschmidt-berlin.com_haushaltsaufloesung_2

Die Stapel „Aufheben!“ und „Wegschmeißen!“ bleiben durchgehendes Thema und stellen uns permanent vor Entscheidungen und Zweifel. Manchmal fällt es schwer, manchmal leicht, trotzdem müssen wir immer wieder abwägen, ob ein Gegenstand zu den eigenen Sachen passt oder solange aufgehoben wird, bis ein passender neuer Besitzer gefunden ist. Schließlich ist es ja auch ein Platzproblem, denn unser Haus ist kleiner, als das welches wir leer räumen. Mit Geschirr können wir die Polterabende von gut drei Hochzeiten bestens bespaßen. Mit Bettwäsche ein Hotel bestücken, Handtücher brauchen wir für Jahre keine neuen. Fünf Kartons mit ordentlich eingepackten Gläsern holen wir vom Dachboden. Gleich beim Ersten wird klar, dass wir sie alle durchsehen müssen. Eingewickelt finden wir eine vollständige Zuckerdose, den Jahrgang des Zuckers kann ich nicht beziffern, aber der hübsche kleine Silberlöffel mit Familienwappen zwingt mich doch, alle Gläser zu sichten. Acht besondere Trinkgefäße bleiben übrig. Ich bringe es nicht fertig schön geschliffenes Glas dem Container zu übergeben.

annaschmidt-berlin.com_haushaltsaufloesung_9

Auf dem Dachboden finden wir das komplette Spielzeug unserer Kinder, welches wir schon längst in anderen Haushalten glaubten. Immer wieder gibt es spannende Überraschungen. Ein Koffer birgt die komplette Hebammen-Ausstattung, die die gelernte Hebamme in den 60er Jahren für die Arbeit brauchte. Ein Stethoskop aus Holz, Spritzen aus Metall, ein alter Pulsmesser … nix für den Container. Der alte Nähkorb ist immer etwas Feines für den Liebhaber und auch hier finden sich erwartungsgemäß ein paar hübsche Kleinigkeiten. Ich kann alte schöne Dinge nicht einfach wegschmeißen – immer wieder müssen wir abwägen, was bleibt und was kommt weg. Fragt mein Mann mich, ob das wirklich sein muss, bin ich kurze Zeit später diejenige, die ihn fragt, ob das sein muss. Jeder hat an Gegenstände andere Erinnerungen und Verbindungen. Schwer manchmal.

annaschmidt-berlin.com_haushaltsaufloesung_1

Leichter ist es bei den Möbeln, die in den eigenen Haushalt wechseln. Leichter? Ein alter Schrank soll mit. So groß, dass er nicht durch das Treppenhaus passt. Zwei Freunde helfen mit. Die Männer beschließen, ihn durch das Fenster über eine Leiter nach draußen rutschen zu lassen. Ich stehe auf der anderen Straßenseite und zwinge den Verkehr langsam zu fahren. Das erste Stück geht relativ gut. Beim Zweiten sieht man beim Zuschauen, dass es schief gehen muss. Es rutscht, ist kaum zu halten für den einen (meinen) Mann auf der Leiter. Vor meinem Auge spielt sich ein Unglück ab, als plötzlich zwei Autos halten, Männer aussteigen, spontan anpacken und nun sechs Männer den Giganten auf die Straße heben. Sie tragen es um die Ecke, steigen ein und sind wieder weg … alles gut. Unkonventionelle Hilfe made in Mecklenburg.annaschmidt-berlin.com_haushaltsaufloesung_10 Zum Glück können wir nun darüber lachen. Zum Lachen bringt uns auch eine andere Situation. Zwei liebe Kollegen kommen an dem Tag mit einem gemieteten Transporter, der alles nach Berlin bringt. Wir stellen die Möbel in die Einfahrt um später schneller einladen zu können. Auch einen Löwensessel. Innerhalb kurzer Zeit führen wir mehrere nette Gespräche, ob wir die Möbel nicht hergeben möchten. Ich platziere den Gatten auf dem Stuhl für eine kleine Pause und bitte ihn den Sessel doch außer Straßensichtweite zu stellen. Der Transporter war schnell gepackt und nach einer leckeren Kartoffelsuppe alle Männer wieder auf dem Weg nach Berlin. Der zweite Container war schnell gefüllt. Das Haus wurde leer, die Räume klar und nach einer Woche war geschafft ein Ferienhaus einzurichten. Kein ungutes Gefühl mehr die persönlichen Dinge alleine zu lassen. Nun können wir gelassen hier entspannen oder abwarten, welche Bestimmung das Haus bekommt. Zum Schluss wagten wir noch den Blick in den kleinen Gewölbekeller. Auch hier durften wir staunen, was Aufhebenswert ist. Marmeladengläser bräuchten wir jedenfalls für Jahre nicht mehr und der ein oder andere Steinguttopf wird nun unseren Garten schmücken.

annaschmidt-berlin.com_haushaltsaufloesung_5

annaschmidt-berlin.com_haushaltsaufloesung_4

Zwischen der Arbeit wandern die Gedanken immer wieder zu der alten Frau, die sich an all dies hier nicht mehr erinnert. An den Dingen, die sie aufgehoben hat, wie sie sich eingerichtet hat, erkennen wir viel aus ihrer Gedankenwelt. Durch manches gibt sie uns einen Blick in die Vergangenheit, wie dem alten Familienstammbaum, den wir unscheinbar in einer Rolle fanden. Auf vielen Fotos erkennen wir Verwandte, aber manche Menschen erkennen wir nicht. Briefe und Karten zeigen, was die Mutter für den Sohn tat. Eine umfangreiche Sammlung an Kühen und Kuscheltieren in jeglicher Form zeigt, was sie liebte. Alles erzählt von ihr und ihrem Leben, dass nun nur noch in ihrer Erinnerung existiert – oder eben auch nicht.

Wir denken über den Sinn und Unsinn nach, Dinge aufzuheben und an alte Zeiten festzuhalten. Denken darüber nach, was wir selber alles aufheben und uns nicht trennen können. Wir überlegen, wann wir anfangen auszumisten, um unseren Kindern kein volles Haus zu hinterlassen. Grübeln, wann der richtige Zeitpunkt kommt sich von den Gegenständen, die unser Leben belegen, zu trennen. Wer sagt uns, was wert und wertlos ist, um es der Nachwelt zu erhalten? Welches Foto schmeiße ich weg, welches behalte ich? Hat ein persönlicher Gegenstand, der mich an einen verstorbenen lieben Menschen erinnert, für meine Kinder den gleichen Stellenwert? Wohl kaum.

annaschmidt-berlin.com_haushaltsaufloesung_8

Auch am Abend sitze ich gerne am alten Mühlstein mit dem Blick auf den See. Hier fällt es leicht meinen Gedanken nachzugehen. Die Zweifel, das Richtige zu tun, sind nicht weniger geworden. Entscheidungen, die nicht mehr zu ändern sind, fallen nicht leichter. Zuhause wartet viel Arbeit auf uns. Nun müssen wir das Gedenken an die Großmutter für unsere Kinder und uns im eigenen Haus integrieren. Wo es passt, wo es schön aussieht, dort wo es uns ein Lächeln entlockt – in Erinnerung an eine bemerkenswerte alte Frau.

Angekommen

annaschmidt-berlin_angekommen

 

Im Rheinland hatte ich eine Freundin mit der ich mich über unseren damaligen Wohnort unterhielt. Ich lebte mit meiner Familie für unsere Verhältnisse schon lange in dem kleinen Ort am Rhein. Diese Freundin erzählte mir damals, dass sie in diesem Ort aufgewachsen ist, ihre Eltern dort geboren und aufgewachsen sind und auch die Großeltern das gleiche erlebt hatten. Alle hatten im gleichen Haus gewohnt, entsprechend der Generation in der unteren oder oberen Etage. Sie erzählte auch, dass sie sich nichts anderes vorstellen könnte als dort zu wohnen, nicht mal im Nachbarort. Dieses Gespräch hat mich damals unwahrscheinlich beeindruckt, so dass ich es nie vergessen habe. Immer am gleichen Ort zu leben war für mich damals mit einem Gefühl zwischen Hochachtung und Mitleid belegt. In jedem Fall war es für mich suspekt, was das für eine Sorte Mensch sein konnte, die sich mit einem Ort in der Welt zufrieden gab.

Ich hatte es anders erlebt. Zu meiner Kindheit und Jugend gehörten Umzüge. Der Vater war bei der Bundeswehr und die Familie gewöhnt dort zu leben, wo er eingesetzt wurde. Zuhause war dort, wo die Eltern lebten. Alles andere war austauschbar und zu ersetzen. Uns war sehr bewusst, dass wir viel gesehen und erlebt hatten und wirklich viele Menschen kannten. Oft Bundeswehrangehörige, denen es genauso ging wie uns. Der Satz „Nette Menschen gibt es überall, es kommt nur darauf an, wie man selber auf sie zugeht!“ prägte uns von Kindheit an. Was wir nicht hatten, waren Jugendfreunde, aber das wurde uns erst später bewusst. Nach dem Gespräch mit der Freundin kamen noch viele weitere Umzüge dazu. Wegen der Ausbildung, wegen verschiedener Arbeitsstellen, wegen der Liebe und der letzte Umzug mit der Liebe, sprich dem Ehemann, gemeinsam. Die Republik hatte ich von unten nach oben durch, auch das Ausland war dabei. Der letzte Umzug ging in die große Stadt. Wir waren in Berlin gelandet.

Nun ein Zeitsprung von 20 Jahren: Wir leben immer noch am gleichen Ort und im gleichen Haus. Für mich etwas ganz Besonderes. Wenn mich früher jemand fragte, woher ich komme, sagte ich mit einem Grinsen, ich sei Kosmopolit. Heute weiß ich nicht mehr genau, was ich bei der Frage antworten soll. Ich empfinde mich nicht als Berlinerin, aber ich fühle mich Zuhause. Das liegt nicht an Berlin, das hängt mit meinem kleinen Bezirk zusammen. Manche sagen mein „Kiez“, und auch wenn ich das Wort nicht mag, so drückt es doch aus, was mich verbindet. Es ist ein sehr vertrautes, inniges Gefühl für das unmittelbare Umfeld. Ich kenne mich hier aus, kann wie im Schlaf meine Wege gehen. Ich weiß, wohin ich mich wenden muss um bestimmte Dinge zu erreichen. Es gelingt fast nicht mehr einen Einkauf oder Hundespaziergang zu Ende zu bringen, ohne gegrüßt zu haben oder eine kleine Unterhaltung mitzunehmen.

Berlin kann so dörflich sein. Ich habe oft zu den Kindern gesagt, dass sie sich gut überlegen sollten, mit wem sie sich verzanken. Wir haben mehrfach erlebt, dass wir zu Wegbegleitern den Kontakt verloren und sie in vollkommen anderen Zusammenhängen wiedergetroffen haben. Wenn ich mit den Kindern durch die Straßen gehen, ist eine häufige Frage „Woher kennst du den denn?“. Die Kinder sind echte Berlinerinnen. Hier geboren, aufgewachsen, verwurzelt und heimisch. Sie kennen nichts anderes und bei Diskussionen um Auslandsjahr oder Ausbildung an fremden Orten, staune ich über die hartnäckige Weigerung einer Tochter, woanders hinzugehen. Wir erleben immer öfter bei Menschen, dass sie jemanden kennen, den wir kennen und Querverbindungen entstehen. Bei einem Hundespaziergang kam ich mit einer Frau ins Gespräch, die ich seit zwei Jahren vom sehen kannte und grüßte. Bei dem Gespräch kam heraus, dass sie eine Freundin hat, die wiederum Freundin einer meiner Freundinnen ist, mit deren Kinder unsere Kinder befreundet sind. Verstanden? Nicht wichtig. Jedenfalls kannte ich den Namen der Frau viele Jahre bevor ich die Frau selber kennenlernte.

Was ich an unserem kleinen Bezirk besonders schätze und liebe ist, dass ich gar nicht mehr umziehen muss um nette und neue Menschen zu finden. Die Auswahl ist riesig, abwechslungsreich, spannend und multikulturell. Es kommt eben wirklich auf uns selber an, wie wir uns dem Umfeld öffnen und neue Menschen in unser Leben lassen. Hier sind wir ein Teil des Umfeldes geworden und genießen sehr, dass wir „alte Hasen“ geworden sind. Zu „alten Hasen“ gehören auch alte Freundschaften, etwas dass es in meiner Jugend nicht gab. Freunde und Bekannte geben uns Sicherheit, Abwechslung und schenken uns viele schöne Gemeinsamkeiten und Momente im Jetzt. Wir haben Wegbegleiter mit denen wir Erinnerungen aus 20 Jahren teilen können und gemeinsam älter werden. Wir können bei manchen Entwicklungen mitreden, weil wir sie durch die Jahre begleitet haben. Wir haben gesehen, wie die Kinder von Nachbarn von den Windeln bis zum Abitur groß wurden. Wissen, wer in den benachbarten Häusern wohnt und genießen eine freundschaftliche, unaufdringliche Nachbarschaft. Es ist Geborgenheit, die uns hier begegnet, ohne das Gefühl zu bekommen gebunden oder kontrolliert zu sein.

Heute sind mir Menschen, die immer an einem Ort leben nicht mehr suspekt. Mein Gefühl ihnen gegenüber ist Verständnis und fast ein bisschen Neid. Dennoch bin ich froh, dass ich beide Seiten kenne und das prickelte Gefühl erlebt habe, eine neue Stadt zu entdecken und kennenzulernen. Aber ich vermisse das Gefühl nicht mehr, etwas entdecken zu müssen. Ich lebe hier in einer Stadt, die mir jeden Tag die Möglichkeit bietet neues zu entdecken und mich dennoch in den vertrauten Bezirk zurückzuziehen kann. In der jeder nach Vorliebe seinen Platz und Akzeptanz finden kann. In einer Stadt, in der ich die Straßennamen kenne. Die spannend ist, Möglichkeiten bietet mitzumachen und sich einzumischen. Es ist eine Stadt, die beides hat – Großstadtflair einerseits, Parks und ruhige grüne Plätze andererseits. Sie ist laut und leise, Weltstadt und doch dörflich, offen und problembeladen, modern und alt zugleich.

Wir streben nicht an, mit der dritten Generation gemeinsam in einem Haus zu leben. Wohin es die Kinder einmal zieht, wird die Zeit zeigen. Wir haben unsere Entscheidung getroffen. Wir werden hier bleiben. Nicht mehr umziehen. Werden noch mehr in diesen Bezirk eintauchen und Teil davon werden. Ich habe immer noch das Gefühl in jeder anderen Stadt leben zu können, aber ich will nicht mehr, denn dieser Platz ist eben nicht austauschbar und zu ersetzen. Er ist einzigartig, vertraut und gehört zu unserer kleinen, meist heilen Welt. Wir sind genau in diesem Monat im 20. Jahr angekommen.