Es ist 25 Jahre her, dass wir, mein Mann und ich, frisch verheiratet, in unser kleines Häuschen einzogen. Damals noch nicht alleine. Die Schwiegermutter und wir bildeten eine Art Wohngemeinschaft, weil zu der Zeit gute Wohnungen schwer zu bekommen waren. Die „Haushoheit“ lag natürlich bei der Schwiegermutter. Was ich vom ersten Tag an jedoch besonders zu schätzen wusste, war der Garten ums Haus. Insbesondere als unsere Kinder geboren wurde, war es immer schön, einfach die Tür aufzumachen und sofort im Freien zu sein. Das bedeutet nicht, dass mir der Garten gefiel. Er war doch sehr praktisch gestaltet: Rundum Nadelbäume auf brauner Erde und in der Mitte Rasen, weiter nix. Mit einer Ausnahme – ein Mandelstrauch.
An der Seite des Hauses stand der Mandelstrauch, der mir nicht sofort auffiel, da er übers Jahr eigentlich nur grüne Blätter trägt. Gleich im ersten Frühjahr sah ich aber die kleinen Knospen und später wunderschönen gefüllten Blüten in zartrosa. Die Blüte dauert nicht lange, ein/zwei Wochen, dann kommen die Blätter. Ich mochte ihn von Anfang an, war er für mich ein Sinnbild des beginnenden Sommers.
Irgendwann war es dann so weit, dass die Schwiegermutter nach Mecklenburg zog. Ich gebe gerne zu, dass wir den Platzgewinn und natürlich auch das wieder gewonnene Alleine-Sein sehr genossen. Nachdem wir im Haus alles neu aufgeteilt und eingerichtet hatten, begannen wir den Garten neu zu gestalten. Dazu muss man wissen, dass Gartenarbeit in jungen Jahren für mich ein Greul war, zumal es meist nur Laubharken und Rasen mähen bedeutete. Blumen pflanzen interessierte mich schlicht gar nicht. Nun hatten wir eine große Fläche und legten ohne Plan los. Das Erste, was fiel, waren die Nadelbäume und Friedhofssträucher. Das war schlicht durch den Wunsch geprägt, ohne Pickser im Garten barfuß laufen zu können. Wir pflanzten aus, wir pflanzten neu und pflanzten um. Zugegebener Maßen ohne Erfahrung und hoffnungsvoll, es richtig zu machen.
Schließlich kam ein Herbst und wir harkten Laub, beschnitten die Bäume und Abgeblühtes. Dabei geriet mir der Mandelstrauch in die Finger. Ich weiß es nicht mehr genau, aber denke, ich wollte ihn in Form bringen. Jedenfalls musste er sich einen starken Rückschnitt gefallen lassen. Das Resultat kam prompt im nächsten Frühjahr in Form von weniger Blüten. Ich hatte es trotzdem noch nicht begriffen und auch der nächste Rückschnitt kam. Das ging so weit, bis in einem Frühjahr nur noch die Feststellung übrig blieb, dass er eingegangen war. Schweren Herzens kam der letzte Rückschnitt auf Boden Niveau … wir hatten mal einen Mandelstrauch.
Mit den Jahren machten wir dann doch gute Erfahrungen und bekamen Routine in unseren Gartenarbeiten. Nicht alles glückte, aber im Großen und Ganzen immer mehr. Ich fand Spaß daran, Neues zu pflanzen und mich im nächsten Frühjahr zu freuen, wenn es den Winter überstanden hatte. Gartenarbeit assoziierten wir immer mehr mit Entspannung, als mit Arbeit. Der Garten wurde unser zusätzliches Wohnzimmer im Sommer.
Viele Jahre später beschäftigten wir uns mit dem Gedanken das Haus umzubauen. Dazu wollten wir drei weitere Bäume fällen, wozu man in Berlin eine Genehmigung braucht. Für eine sehr große, aber kranke, Birke neben dem Haus bekamen wir diese sofort. Wirklich sehr kurz bevor die Birke gefällt wurde, bemerkte ich genau an der Stelle an der früher der Mandelstrauch stand, einen kleinen Zweig. Ich konnte es kaum fassen, aber es war sofort klar, dass es tatsächlich ein Mandelzweig war. Ich pflanzte ihn sehr behutsam aus, bevor die schweren fallenden Baumabschnitte der Birke ihn wieder kaputtmachten. Er bekam eine sehr geschützte Stelle von mir und ich achtete sehr auf den kleinen Zweig. Dort musste er die Um- und Anbauarbeiten abwarten. Zwei Jahre stand er dort, entwickelte sich und zeigte im Frühjahr wieder seine wunderschönen gefüllten Blüten. Anfänglich ein paar, aber mit den Jahren wurden es wieder mehr. Es ging ihm gut und vor meiner Schere war er sicher!
Ich habe mich schon oft gefragt, warum mir die Geschichte des Mandelstrauches immer wieder in den Sinn kommt. Ich denke, es sind zwei Sachen. Zum Einen wissen wir verloren gegangen Dinge oft erst zu schätzen, wenn wir sie nicht mehr haben. Vieles ist für uns so selbstverständlich, dass wir es erst bemerken, wenn es weg ist. Das gilt für Gegenstände genauso wie für Menschen. Viel öfter sollten wir uns Selbstverständliches bewusst machen und den wirklichen Wert, die Bedeutung für uns klar machen. Ganz besonders denke ich dabei auch an die 74 Jahre Frieden, die wir hier in unserem Land erleben dürfen. Das ist nicht selbstverständlich. Wir haben einfach nur Glück, dass wir hier und jetzt geboren sind.
Der zweite Punkt, der mir bei dieser Geschichte in den Sinn kommt, ist die unglaubliche Kraft, die in der Natur, aber auch in vielen Menschen steckt. Es ist bekannt, dass sich die Natur alles zurückholt. Viele Bilder zeigen vergangene Bauwerke, die von Wurzeln und Blattwerk überzogen sind. Natur ist unglaublich Stark und mit dieser Stärke sollten wir rechnen. Greifen wir weiter wie bisher in die Natur ein, holt sie sich auf ihre Weise alles wieder zurück. Wie das letztlich aussieht, mag ich mir nicht vorstellen. Aus dem Grunde bin ich jedem jungen Menschen dankbar, der uns Ältere mahnt, endlich zukunftsweisende Klimapolitik umzusetzen und unsere Welt als Leihgabe der Jugend zu begreifen.
Auch Menschen können eine unglaubliche Kraft entwickeln. Mittlerweile bin ich so alt, dass ich schon öfter erleben durfte, wie sich der ein oder andere veränderte und sich seiner Kraft bewusst wurde. Menschen, die eine Situation nicht mehr ertrugen und von heute auf Morgen alles änderten. Menschen, die sich ein sehr hohes Ziel steckten und es tatsächlich erreichten. Menschen von anderen aufgegeben, die sich einen neuen Platz in der Gesellschaft erkämpften. Entscheidend sind der Wille und der Glaube in sich selbst.
Der Mandelstrauch hat seinen endgültigen Platz in unserem Vorgarten zwischen vielen Steinen gefunden. Heute weiß ich, dass man ihn nach der Blüte durchaus zurückschneiden darf, bzw. sogar soll. Heute kenne ich ja auch seine Kraft, die er nutzt, wenn ich ihn gut behandele. Und es ist für mich nicht selbstverständlich, wenn er jedes Jahr im Frühjahr wieder wunderschön blüht … es ist mir umso mehr eine besondere Freude!