Es ist still im Land

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Endlich Sommer … lang genug haben wir gewartet um das Grau in Grau zu verlassen, ohne dicke Jacke herumzulaufen, bis nachts auf der Terrasse zu sitzen oder die Blumentöpfe wieder mit bunter Vielfalt zu füllen. Parks und Straßen sind lebendig geworden. Die Menschen gehen raus und genießen die schöne Jahreszeit. Mit dem Sommer – so scheint es – ist auch endlich Ruhe in die Nachrichten eingekehrt. Keine täglichen Berichte von wartenden Flüchtlingen vor dem LaGeSo. Kaum einer spricht noch von Engpässen in den Turnhallen, die als Notunterkunft dienen. Keine Prognosen mehr, wer wohl das Richtige oder Falsche wählt. Es ist still im Land – keine größeren Probleme erhitzen die Gemüter. Aber: Die Flüchtlinge sind noch alle da, die Turnhallen belegt und Wahlen kommen wieder. Und doch hat es den Anschein, dass kaum einer noch darüber reden mag – im Moment jedenfalls nicht – ist doch jeder mit sich und der schönen Jahreszeit beschäftigt. Vor dem LaGeSo friert ja keiner, Sport machen wir im Freien und Wahlen … die sind erst in ein paar Monaten wieder aktuell. Verdiente Pause, trügerische Ruhe, Gleichgültigkeit oder Leichtsinn?
Mir ist es zu still im Land!

Um mich herum arbeiten die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter meines Arbeitgebers tagtäglich an den Erfordernissen der Flüchtlingsarbeit. Die Menschen in der Notunterkunft in der Halle werden in ihren behördlichen und alltäglichen Gängen betreut. Die jeweiligen Stadien ihrer Asylanträge stellen neue Anforderungen, die bewältigt werden müssen. Nebenher laufen alle möglichen Integrationsangebote für deren Kinder und natürlich auch für die Erwachsenen, die vornehmlich unsere Sprache lernen müssen. Zusätzlich müssen alteingesessene Nachbarn umfassend informiert werden und insbesondere Gelegenheit bekommen „die Neuen“ kennenzulernen, denn nur so können Ängste abgebaut werden. Integration der neuen und Teilhabe der alten Nachbarn – ein sehr wichtiger und zeitaufwendiger Aspekt der Flüchtlingsarbeit und erklärter Auftrag sozialer Träger.

In einer Einrichtung haben zwei junge Männer das Asylverfahren erfolgreich durchlaufen. Die Kollegin erzählt immer wieder von ihren Bemühungen, die jungen Männer zu begleiten, eine Wohnung und Arbeit zu finden. Erzählt von den Hindernissen und Teilerfolgen. Eine interne AG tagt regelmäßig, in der Vertreter verschiedenster Institutionen im Kiez zusammensitzen, Erfolge und Hindernisse der Arbeit zusammentragen und machbare Lösungswege beraten. Eine AG in der Nachbarschafts- und Jugendeinrichtung, Schulsozialarbeit und Politik ineinandergreifen. Was der eine nicht weiß oder kann, schafft der andere auf kürzerem Weg und umgekehrt.

Ein anderer Kollege ist kaum noch im Büro, sondern vor Ort, wo im Januar eine Einrichtung für unbegleitete Jugendliche eröffnet wurde. Vor ein paar Wochen kam ein zweiter Standort für unbegleitete Kinder hinzu. Neue Kolleginnen und Kollegen müssen eingestellt werden – sofern sie denn gefunden werden – und ein Team muss sich bilden. Die Einrichtungen müssen Auflagen erfüllen, die nicht immer sehr leicht zu erreichen sind. Vor allem aber müssen sich die jungen Bewohner wohl fühlen können. Sie brauchen Angebote, die ihre Tage nicht leer erscheinen lassen und sie müssen in Schulen untergebracht werden. Der Kollege führt mich durch beide Einrichtungen, zeigt mir wo geschlafen, gegessen, gemeinschaftlich Freizeit verbracht wird. Immer wieder begegnen uns Jugendliche, die respektvoll und wertschätzend gegrüßt werden. Die gute Atmosphäre ist deutlich in beiden Häusern spürbar.

All diese Flüchtlingsarbeit wird still gemacht und trotzdem merke ich wie an allen Ecken und Enden im sozialen Verein intensiv gearbeitet wird um den anvertrauten Menschen gerecht zu werden. Sie machen diese Arbeit, weil sie selbstverständlich für sie ist, aber eine Schlagzeile in den Nachrichten bekommen sie dafür nicht. Dies genauso wenig, wie die vielen Menschen, die zur Zeit das gute Wetter nutzen und versuchen über das Meer zu kommen – und es nicht schaffen. Es sind Hunderte, aber Europa hat das Problem vor die Grenzen geschoben. Es betrifft uns nicht mehr direkt, betrifft nicht unser Land, unsere Nachbarschaft und unsere Nachrichten. Nur hin und wieder kommt eine Nachricht durch. Wo vor Monaten noch das Bild eines ertrunkenen Kleinkindes Symbol für das Versagen Europas in der Flüchtlingspolitik wurde, kann nun das Bild eines ertrunkenen Säuglings in den Armen eines Retters keine Redaktion mehr dazu bewegen eine Schlagzeile daraus zu machen. Kein Sturm der Bestürzung geht durch die Netzwerke, kein Politiker reagiert darauf.

Die Nachrichten beherrschen andere. Leute, die den Deckmantel der Demokratie nutzen um sie permanent anzugreifen. Leute, die sich Politiker nennen, sich dabei aber einen Deut um unsere Grundwerte scheren. Parolen und Unverschämtheiten in die Welt posaunen um bewusst zu provozieren um in den Medien zu landen. Das Spiel geht auf! Es hat den Anschein, dass es wichtiger ist eine Talk-Sendung zu zeigen in der es um die Glaubwürdigkeit eines fragwürdigen „Politikers“ geht, als über fliehende und sterbende Menschen zu berichten. Es ist wichtiger, sich darüber zu empören, dass da jemand unseren dunkelhäutigen Nationalspieler diskreditiert, als darüber nachzudenken, wie man doch eine europäische Lösung in der Flüchtlingsfrage bewerkstelligen kann. Wir empören uns nicht über jetzt sterbende Menschen, sondern darüber, dass jemand das Land seiner Väter von 1941 zurückhaben will. Ein Land,  das alles in Schutt und Asche legte und 6 Millionen Menschen ermordete. Das Argument, dass es gewählte Vertreter sind mit denen man sich auseinandersetzen muss, kann ich nicht mehr hören, denn wer sich so verhält und so einen Müll erzählt – damit auch noch auf offene Ohren stößt – den kann ich nicht wirklich ernst nehmen … und sollte es doch, denn die Gefahr ist offensichtlich.

Kürzlich warf ein Bekannter eine interessante Frage auf: Er sprach davon, dass der Begriff Rassismus von manchen Menschen sehr weit gefasst wird. Für ihn ist Rassismus, wenn jemand stigmatisiert wird, weil er ein Merkmal (Hautfarbe, Nationalität, Religion …) hat für das er von Geburt nichts kann. Für andere beginnt Rassismus schon dort, wo sich jemand dumm äußert und verhält, obwohl er die Möglichkeit und Zugang zu Bildung hat. Im zweiten Fall überlege ich erstmalig, ob ich rassistisch bin, weil ich jedem verachtend gegenüberstehe, der sich überheblich, dumm und menschenverachtend verhält. Diese Leute bringen mich an meine Toleranzgrenze … ich werde weiter darüber nachdenken.

In diesem Zusammenhang möchte ich einmal einen Werbefilm empfehlen: momondo – The DNA Journey. Es ist ein Werbefilm der mehrere Personen zeigt, die aus verschiedenen Ländern kommen. Alle haben irgendein Ressentiment gegen ein anderes Land. Schließlich machen alle einen DNA Test und die Ergebnisse machen ihnen klar, dass keiner aus einer reinen Abstammung hervorgeht. Jeder verbindet in sich mehrere Länder. Wann begreifen auch hier die Letzten, dass wir ein multikulturelles Volk sind, das schon seit Jahrhunderten … und genau das unsere Stärke ist.

 

Ich möchte nicht still sein und mag die Stille im Land nicht. Ich möchte Schlagzeilen lesen von Politikern, die nach Lösungen suchen. Möchte Stimmen hören, die unbequem sind und die Mächtigen zum Handeln zwingen. Wünsche mir dass die Redaktionen die stillen, konstanten Menschen und Projekte entdecken und von ihnen erzählen – von denen, die immer und unermüdlich ihre Arbeit im Sinne der heimatlosen Menschen tun. Ich möchte etwas tun … nicht still sein … Stellung beziehen.

Wir können etwas tun:

Hand in Hand gegen Rassismus für Menschenrechte und Vielfalt
Bundesweite Menschenketten am 18. und 19. Juni 2016

Einen Tag vor dem internationalen Gedenktag für Flüchtlinge
soll ein gemeinsames ein Zeichen gesetzt werden – gegen Fremdenhass
und für Menschlichkeit, Vielfalt und Weltoffenheit.

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Unterschiede und Gemeinsamkeiten

Foto: © AllebaziB - Fotolia.com

Foto: © AllebaziB – Fotolia.com

Hand auf’s Herz: Insgeheim hat jeder von uns befürchtet, dass etwas passieren könnte, hat die Nachrichten beobachtet, ob etwas verkündet wird und war am Morgen erleichtert, dass wir nichts von Bomben, Schüssen oder Opfern lesen mussten. Aber die Erleichterung währte nicht lange, denn es ist doch etwas passiert. Etwas, was sich vordergründig vielleicht nicht so grausam anhört, aber ebenso schlimm ist, wie der befürchtete Fall. Die Silvesternacht hat etwas verändert, etwas ins rollen gebracht, deren Auswirkungen das ganze Land diskutiert. Ich lese seither die Nachrichten mit äußerster Skepsis, schaue immer genau aus welchem Topf sie kommen und kann das Kopfschütteln nicht vermeiden. Weil ich genauso wenig, wie die meisten von uns darüber weiß, wollte ich mich dazu nicht äußern.

Jetzt werde ich es doch tun, weil es um Grundsätzliches geht: Auf der Startseite meines Blogs werbe ich für „Vielfalt“ und „Unterschiedlichkeit“ und gehe später in den Kommentaren auf die „Gemeinsamkeiten, die uns zusammenhalten“ ein. Ein neuer Kommentar meint nun, dass sich gerade jetzt ein völlig neues Bild der „Unterschiede“ und „Gemeinsamkeiten“ ergibt und beides zur Zeit wie eine große Schere auseinander klappt. Muss ich nun wegen einer einzigen Nacht und deren Auswirkungen, der Art und Weise wie darüber diskutiert wird, mein Weltbild hinterfragen? Dazu sage ich ein klares „Nein!“

Seit dieser Nacht haben wir es mit drei großen Themen zu tun: Sexuelle Übergriffe, Rassismus und Flüchtlingsdebatte. Alles drei Themen, die für sich alleine schon eine Nation in Atem halten können. Alles drei Themen, die man sauber getrennt behandeln muss.

Wir leben in einem Staat, der einem Grundgesetz verpflichtet ist. Artikel eins bis drei sagen alles aus, was dazu grundlegend ist. An dieses Gesetz haben sich alle zu halten, die in diesem Staat leben und dieses Gesetz für sich selber in Anspruch nehmen. Besonders: „Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit.“ und „Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.“ – mehr braucht man nicht, um zu wissen, dass alles was dem zuwider läuft eine Straftat ist. Und auch für die Straftat gilt, dass es gleichgültig ist, welchen Geschlechts, Abstammung, Rasse, Sprache, Heimat, Herkunft, Glaube oder Anschauung der Täter ist. Ein sexueller Übergriff ist eine Straftat. Unser Strafrecht geht von einer individuellen Verantwortlichkeit aus, d.h. es gibt keine Kollektivschuld und somit keine Kollektivstrafe. Jede Straftat muss individuell nachgewiesen werden sowie es keine Vorverurteilungen gibt. Soweit die Theorie!

Und doch gibt es sie massenhaft hier und in der ganzen Welt – sexuelle Übergriffe und Vergewaltigungen. In Indien, beim IS, Boko Haram sind aktuelle Beispiele. Aber es gibt sie genauso tagtäglich in deutschen Wohnungen, auf deutschen Straßen, von deutschen Bürgern. Es gab und gibt sie als gezieltes Mittel in Kriegen. Und nur, weil andere Kulturen ein vermeintlich anderes Frauenbild haben, sind sie dort nicht schlimmer als hier. Wie lange ist es denn her, dass bei uns die Prügelstrafe verboten wurde? Wie lange, dass Frauen wählen durften und als gleichberechtigt galten? So weit sind wir noch lange nicht entfernt von dem ach so fortschrittlichen Frauenbild mit dem wir uns gerne brüsken. Und dürfen nicht die Arroganz besitzen zu behaupten, dass im Gesetz verankerte Grundsätze tatsächlich in den Köpfen der Menschen hier angenommen sind.

Was in dieser Nacht passiert ist, ist niederträchtig und für die Betroffenen furchtbar. Ein Phänomen, das in anderen Staaten bekannt ist. Es ist Aufgabe der Politik geeignete Mittel dagegen zu finden – damit es nicht wieder passiert und damit unmissverständlich klar wird, wie man hier im Rahmen der Gesetze mit solchen Straftaten umgeht.

Schneller als man lesen konnte, entsprang aus dieser Nacht erneut die Debatte um den Umgang mit den Flüchtlingszahlen. Weil ein paar wenige eine Straftat verübten, wurden gleich tausende von Hilfe suchenden Menschen unter Generalverdacht gestellt. Wer bitte ist so naiv zu glauben, dass alle Flüchtlinge nette Menschen sind? Natürlich sind auch solche dabei, die wir lieber nicht hier hätten. Das heißt aber noch lange nicht, dass diese Menschen ein Frauenbild zu uns tragen, das wir nicht wollen. Das heißt noch lange nicht, dass diese Menschen alle Straftäter sind und/oder unsere Kultur unterwandern. Es sind Menschen die Hilfe und Ruhe suchen. Die geordnete Verhältnisse und Sicherheit möchten. Die ihren Kindern eine menschenwürdige Zukunft ermöglichen möchten. Flüchtlinge sind Menschen, die sich in unsere Kultur eingliedern werden, sie mit ihren Elementen ergänzen und bereichern und so für unsere ganze Gesellschaft ein Gewinn sein werden. Auch hier ist es Aufgabe der Politik endlich ein funktionierendes System zu schaffen, diese Menschen aufzunehmen, ihre Anträge zu bearbeiten und Entscheidungen zu treffen, wie weiter mit ihnen verfahren wird. Und auch hier sind wir dem Grundgesetz verpflichtet, dass uns einen ganz klaren Auftrag dafür gibt.

Schneller als man lesen konnte, waren die Rechten wieder auf dem Plan und nutzen ihre Chance wieder einmal in abstoßender Art und Weise, einen Vorfall für ihre Zwecke zu missbrauchen. Sollen wir die nun auch unter Generalverdacht und Kollektivschuld stellen. Alle, die Flüchtlingsunterkünfte anzünden, den Namen „Volk“ missbrauchen und sich nicht einen Deut um den individuellen Menschen und sein Schicksal scheren. Und mit den Rechten meine ich nicht nur die, die sich jetzt wieder stark in der Gruppe fühlen, sondern auch diejenigen, die schnell auf den Wagen springen, plötzlich härtere Strafen fordern und ein Thema für sich missbrauchen, dass sie vor Jahren noch als unwichtig empfanden. Denen möchte ich nur sagen: Lest doch bitte das Grundgesetz. Da steht alles drin und wenn es euch nicht passt, sucht euch ein Land in dem es besser ist.

Mehr den je bin ich von meinem Weltbild überzeugt: Davon, dass sich Menschen ergänzen, völlig gleichgültig aus welchem Hintergrund sie kommen. Um die Unterschiedlichkeiten zu erkennen und daraus fruchtbare Gemeinsamkeiten zu erarbeiten, braucht man jedoch eine faire und sachliche Debatte über die Ereignisse, die passiert sind. Braucht man Aufklärung über tatsächliche Sachverhalte und Schlussfolgerungen im Rahmen unserer Gesetze. Mein Weltbild habe ich in diesem/unseren Kulturkreis entwickelt und lebe es aus. Es muss nicht das richtige sein und hat auf der anderen Seite der Welt sicherlich keine Gültigkeit. Aber ich lebe hier, trete hier für Vielfalt ein und liebe sie. Ich sehe die Chancen, die sich aus Vielfalt, Unterschiedlichkeit und Gemeinsamkeit für uns in der Zukunft entwickeln können. Sehe, dass sich Gesellschaft verändert und nicht stehen bleibt. Bleibe optimistisch, trotz dessen ich viele Dinge mit Sorge betrachte. Und glaube an die viele guten Menschen, die die Regeln unserer Gemeinschaft achten und mit den Erfordernissen und Entwicklungen, die auf uns zukommen im Rahmen unserer Gesetze fortbilden.