Bildung ist Recht, kein Privileg!

Ihre Nachricht kam über WhatsApp „Ich hab’ es geschafft! Bestanden!“ Meine Tochter saß in der Schule und die Abiturnoten wurden verkündet. Ein emotional sehr starker Moment für mich … irgendwas zwischen Stolz auf die Tochter und Erleichterung. Es war der Moment, in dem unsere Schulzeit zu Ende ging. Beide Töchter hatten einen guten Schulabschluss und wir somit die Basis für ein erfolgreiches Berufsleben gelegt. Alles Weitere war und ist, natürlich mit unserer Unterstützung, ihre eigene Sache und Entscheidung. Ich bin dankbar, dass wir ihnen diese schulische Basis, wenn auch nicht immer einfach, ermöglichen konnten. Nicht alle Eltern können das.

Trotzdem lässt mich das Thema „Schule“ nicht ganz los. Berlins Schulen sind baufällig und haben keine Lehrer. Über veraltete Lehrpläne denke ich lieber erst gar nicht nach. Von 1240 neu eingestellten Lehrkräften zum neuen Schuljahr 2018/2019 sind 880 Quereinsteiger und Lehrer ohne volle Lehrbefähigung. Es tut mir in der Seele weh, mir vorzustellen, dass Kinder von Menschen unterrichtet werden, die dafür nicht ausgebildet sind. Dennoch beeinflussen diese Menschen die Lebensläufe der Kinder, sowohl in der Notengebung als auch in der Motivation für weiteres Lernen. Das kann, muss aber nicht zwingend gut gehen. Ich denke, die Berliner Bildungsmisere geht auf jahrzehntelange Sparpolitik zurück. Es fehlt an allen Ecken und Ende. Glücklich können die Kinder sein, deren Eltern es möglich ist, sie zeitlich und hinsichtlich der Bildung zu unterstützen. Irgendwie kommen sie dann durch die prüfungsbesetzten Schuljahre hindurch. Irgendwann stellen ihre Eltern dann, ebenso wie wir, fest, dass es geklappt hat. Oder eben auch nicht und dann werden die Zukunftsprognosen der Kinder dürftig.

Ein paar Straßen weiter als wir wohnen liegt die Thermometersiedlung. Spätestens seit der Veröffentlichung des letzten Monitorings Soziale Stadtentwicklung ist klar, dass die Siedlung sozialer Brennpunkt ist. In den Stadtrandnachrichten finde ich folgende Passage in dem Bericht darüber: „… Laut der Studie hat sich die Zahl der Brennpunkte in Berlin in den letzten Jahren kaum verändert. Teilweise sind jetzt jedoch ganz andere Kieze betroffen, als noch vor zwei Jahren. Eines der „Neuankömmlinge“ ist die Thermometersiedlung in Lichterfelde. Die Lage in diesem Stadtteil habe sich merklich verschlechtert. Den Ergebnissen des Monitorings zufolge sieht es hier sogar ganz besonders düster aus: Die Siedlung weist nicht nur einen „sehr niedrigen sozialen Status“, sondern auch eine „negative Dynamik“ auf. Das heißt, das die Kinderarmut und die Zahl der Arbeitslosen, der Langzeitarbeitslosen und derer, die zwar nicht arbeitslos, dennoch auf die Unterstützung vom Staat angewiesen sind, hier jetzt schon sehr hoch ist und den Prognosen zufolge noch weiter ansteigen wird. Noch im Jahr 2015 war die Lage hier etwas weniger dramatisch. Damals wies der Kiez „lediglich“ einen „niedrigen Status“ und eine „stabile Dynamik“ auf. …“ Für mich bedeutet es, dass die Kinder, die in dieser Siedlung wohnen, noch schlechtere schulische Aussichten haben, als sowieso schon in Berlin vorgegeben. Sie sind oft auf sich gestellt, versuchen sich irgendwie durch die Schulzeit zu bugsieren und am Ende frustriert festzustellen, dass das Ergebnis oft nicht einmal für eine Ausbildung reicht. Der soziale Teufelskreis ist leicht zu erkennen und wird oft genug von Generation zu Generation weitergereicht.

Genau mittendrin in dieser Siedlung liegt das KiJuNa – das Kinder-, Jugend- und Nachbarschaftszentrum. Mein junger Kollege Kristoffer ist dort Projektleiter und arbeitet seit fast 10 Jahren mit den Kindern und den Familien in der Umgebung. Er erlebt tagtäglich, was Kinderarmut für Auswirkungen hat. Er erlebt Familien, die sich keinen Urlaub leisten können und froh sind, wenn ihre Kinder in der Jugendeinrichtung ein Mittagessen bekommen. Wenn es Kristoffer an etwas nicht fehlt, sind das neue Ideen und nach dem Monitoring hat er sich ein neues Projekt ausgedacht und setzt es gerade in die Tat um.

Es heißt: ExperiDay! und er selber schreibt dazu: „Ich bin der festen Überzeugung, dass gute Bildung einen gewichtigen Teil dazu beitragen kann, die Chancen der Kinder auf ein Leben ohne Armut zu steigern. Alle Projekte, die wir im Kijuna Lichterfelde Süd anbieten, sind einzig und allein darauf angelegt, Kinder und Jugendliche in ihrer Entwicklung aktiv und mit einem positiven Blick auf ihre Talente zu begleiten.“ Sehr viele Projekte haben im KiJuNa mit Musik zu tun … diesmal geht es um Bildung und dafür braucht er Hilfe.

Was ist ExperiDay? Mit dem Projekt soll ein Bildungsangebot für die Kids aus dem sozialen Brennpunkt geschaffen werden. Es soll Kindern und Jugendlichen die Möglichkeit bieten, Abstraktes und Theoretisches im Rahmen von Experimenten und Planspielen sicht- und greifbar zu machen. Gemeinsam setzen sich Kinder und Jugendliche in altersgemischten Gruppen mit praktischen Bildungselementen auseinander. Angelehnt an schulische Lerninhalte finden wöchentliche Workshops statt, in denen die Teilnehmenden naturwissenschaftliche Experimente durchführen. Die Workshops werden von angehenden und ausgebildeten Wissenschaftlern begleitet. … Der Erhalt und die Förderung der Freude von Kindern und Jugendlichen am Lernen ist das Leitmotiv des Projekts. … Noch mehr dazu zu lesen gibt es unter diesem Link  „ExperiDay! – Bildungsprojekt in einem Berliner Brennpunkt.“

Was mich persönlich immer fasziniert ist die Begeisterung, mit der Kristoffer sich für die Kinder der Siedlung einsetzt und ich finde die Idee fantastisch, Bildung dorthin zu tragen, wo man sie am wenigsten vermutet und dringend braucht. Der Wunsch, diesen Kindern Spaß am Lernen in der Freizeit näher zu bringen und ihnen zu zeigen, wo Naturwissenschaften im Alltag zu finden sind, ist in meinen Augen jede Unterstützung wert.

Nun hat er in seiner Freizeit darüber ein Lied geschrieben und mit den Kindern verfilmt. Spätestens mit diesem Lied hatte er mich überzeugt – ich habe der Spendenbutton gedrückt. Ich hoffe, dass ExperiDay! ein erfolgreiches Projekt wird und nicht nur die Kinder in diesem Song, ihren Eltern irgendwann schreiben können: „Ich hab es geschafft! Bestanden!“

Schaut euch das Lied an, lasst euch begeistern und vielleicht macht der ein oder andere dann auch den Klick auf den Spendenbutton … denn – wie immer – auch ganz kleine Beträge helfen.

„Wir brauchen dich, wir brauchen euch, wir brauchen Hilfe und dann schaffen wir’s vielleicht.“

Jetzt Spenden! Das Spendenformular wird von betterplace.org bereit gestellt.

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Die Schule ist aus …

Im Büro ordne ich ein paar Unterlagen, dabei fällt mein Blick auf die Pinnwand hinter mir, an der der letzte Stundenplan der jüngeren Tochter hängt. Ich nehme ihn in die Hand, betrachte ihn lange und weiß, dass er keine Bedeutung mehr für uns hat. Trotzdem schaffe ich es noch nicht ihn wegzuwerfen und nehme ihn mit nach Hause. Auf dem Heimweg denke ich über den Verkehr in Berlin nach. Wenn doch immer Sommerferien sein könnten. Das Autofahren ist in Ferienzeiten in der Stadt entspannter und man findet überall einen Parkplatz. Aber auch die Sommerferien gehören nicht mehr zu uns. Wir haben keine Ferien mehr. 2014 hatte ich schon einmal über die Schulzeit der jüngeren Tochter geschrieben: „Wenn das Kind nicht zur Schule passt!“. Der letzte Absatz begann damals so: „Wir werden wieder feiern – ihren Schulabschluss. Egal, welcher das sein wird …“ Nun haben wir ihren Schulabschluss gefeiert. Mein großartiges Kind hat es geschafft, entgegen allen früheren Prognosen, das Abitur zu machen. Ihre und unsere Schulzeit ist vorbei.

In Verbindung von Schule und Eltern muss ich oft an meine Mutter denken, die immer gesagte: „Sie macht drei Kreuze, wenn alle Kinder durch die Schule sind!“. Das hat bei ihr etwa 38 Jahre gedauert, da der jüngste Bruder erheblich jünger als wir älteren Geschwister ist. Mein Mann, die Kinder und ich mussten uns nur 16 Jahre von der Einschulung der älteren bis zum Abschluss der jüngeren Tochter mit Schule auseinander setzen. 16 Jahre, die sowohl unser Familienleben beeinflussten als auch meine Kinder prägten. Die Schule ist irgendwann zu Ende, die Erinnerungen daran bleiben uns im Positiven wie im Negativen das ganze Leben lang erhalten.

Beide Kinder haben ihr Abitur, aber machten es auf vollkommen unterschiedliche Art. So verschieden die Töchter sind, ist auch ihre Art zu lernen. Hätte ich meine ältere Tochter nicht als erste gehabt, hätte ich bei der jüngeren geglaubt etwas falsch zu machen. Die Ältere hat mir gleich in der ersten Klasse erklärt, dass die Hausaufgaben ihre Sache sei. Und ich kann mich kaum erinnern ihr je dabei geholfen zu haben. Sie ist vollkommen problemlos von einer Klasse zur nächsten gewandert. Schwierig waren die 11. und 12. Klasse, die eine reine Lern- und Klausurphase waren. Wir wollten, dass sie in der Zeit weiterhin ihren Sport als Ausgleich macht, sich um die Schule kümmert und hielten ihr sonst den Rücken frei. Mit viel Disziplin und Lernwillen hat sie sich durch das verkürzte Abitur auf einem regulären Gymnasium durchgeschlagen. An dem gleichen Gymnasium, an dem auch schon ihr Großvater 56 Jahre zuvor das Abitur machte. Als sie damit fertig war, war sie so jung, dass sie erst einmal nicht wusste, in welche Richtung sie gehen sollte.

Die jüngere Tochter lernte viel und ständig – aus dem Leben – nur nicht aus Büchern oder im Frontalunterricht. Entsprechend schwierig war die Grundschulzeit. Neben anderen Problemen galt es Geduld zu haben und ihre Art zu lernen zu verstehen. Ich kann mich gut an die Verzweiflung des tapferen Vaters erinnern, der einfach nicht begreifen konnte, warum dieses Kind die Linienführung eines karierten Papiers schlicht aushebelte. Sie konnte Blöcke von Matheaufgaben hintereinander lösen, bis sie beim dritten Block dann versuchte, ob eigene Regeln nicht besser funktionierten. Sie war auf allen Ebenen kreativ, was viele LehrerInnen leider als chaotisch verstanden. Ihr Glück war, dass sie auf die Anna-Essinger-Gemeinschaftsschule, eine mit ihrem Jahrgang neu gegründete Montessori Oberschule, gehen konnte. Auch hier galt es hin und wieder Schwierigkeiten zu meistern, aber das Ergebnis steht fest. Entgegen allen Bedenken von LehrerInnen und Eltern hat sie mit eisernem Willen den höchst möglichen Schulabschluss bekommen. Auch sie hat noch keinen wirklichen Plan für die Zukunft und gönnt sich erst einmal ein Jahr im Ausland … um weiter aus dem Leben zu lernen.

Was uns gemeinsam in Erinnerung bleiben wird sind die Lehrkräfte, denen die Kinder begegnet sind. Ich bin weit davon entfernt, ein pauschales Urteil über den Beruf der LehrerInnen zu fällen. Nach meiner Ansicht stecken LehrerInnen heute in einem starren Korsett von Rahmenlehrplänen und einem Schulsystem fest, dass völlig überholt ist und scheinbar permanent reformiert wird. Mit Ausnahme der JüL-Klassen (Jahrgang übergreifendes Lernen) hat meine jüngere Tochter alle Reformen mitgemacht, die Berliner Schulen in den letzten 13 Jahren zu bieten hatten. Um das G8 ist sie durch die Gemeinschaftsschule herumgekommen. Das musste die ältere Tochter durchstehen. Keine dieser Schulreformen hat sich als tatsächlich wirkungsvoll erwiesen. Die wunderbaren Vorklassen wurden abgeschafft. 5 ½ Jährige werden zu früh eingeschult, damit sie als kaum 16 – 17 Jährige mit der Schulzeit fertig sind und planlos auf’s Leben losgelassen werden. Und das nach einer Schulzeit, die permanent aus Stress besteht: Nach drei Jahren JüL gibt’s eine relativ entspannte 4. Klasse. In der 5. + 6. Klasse geht es um die Qualifizierung für die weitergehende Schule. In der 7. Klasse müssen sie ein Probejahr bestehen um auf dem Gymnasium bleiben zu dürfen. Der Punkt ist auf der Sekundarschule entspannter. In der 8. Klasse kommt Vera 8. Ich habe bis heute nicht wirklich verstanden, was diese Prüfung bringt, die selbstverständlich entgegen allen Beteuerungen die Kinder unter Stress stellt. In der 9. Klasse gibt es dann den BBR (Berufsbildungsreife) um in der 10. Klasse den MSA (Mittlere Schulabschluss) zu machen. Wer es bis hierhin geschafft hat, darf ein Abitur in 4. Semestern machen. Wohl dem der auf der Sekundar- oder Gemeinschaftsschule ein Jahr mehr zur Vorbereitung auf das Zentralabitur hat. Die SchülerInnen lernen von Prüfung zu Prüfung, bewegen sich zwischen eigenem Ehrgeiz oder eben auch nicht, und Erwartungshaltungen von Eltern und Lehrern. Es wird nicht für die Allgemeinbildung oder aus Interesse gelernt, sondern um Hürden zu meistern und irgendwie zum ersehnten Ziel zu gelangen.

Von welchen LehrerInnen die Kinder begleitet werden ist ganz einfach Glückssache. Hier gilt – wie im normalen Leben – entweder die Chemie passt oder auch nicht. Hatte die ältere Tochter in der Grundschulzeit großes Glück mit engagierten LehrerInnen, war die Grundschulzeit der jüngeren schlicht weg eine LehrerInnen bedingte Katastrophe, die in 5 ½ Jahre Gesprächstherapie mündete. Auf der Oberschule begegnete die Ältere dagegen vornehmlich LehrerInnen, die ihren Job machten, SchülerInnen aber mehr oder weniger als Namen auf einer Liste sahen. Dafür begegnete die Jüngere LehrerInnen, die verstanden, wie das Kind lernt und sie mit allen Möglichkeiten förderten. Bei beiden Kindern bekamen wir den Rat, sie zu einem Oberstufenzentrum zu schicken, statt den regulären Weg zum Abitur gehen zu lassen. Bei beiden Kindern bewirkte dieser Rat lediglich, dass sie sich dann erst recht anstrengten. Uns sind LehrerInnen begegnet, die uns vermittelten, dass allein sie wüssten, was unser Kind fühlt, denkt und vermag. Uns sind LehrerInnen begegnet, die auf den Punkt das ergänzten, was auch wir empfanden und beobachteten. Manchen LehrerInnen (auch aus meiner Schulzeit) habe ich die Pest an den Hals gewünscht. Viele habe ich als Persönlichkeit erfunden und manche schlicht weg bewundert. Ich würde diesen Beruf nicht machen wollen und bin froh und glücklich, dass meine Kinder dieses Kapitel beendet haben.

Sie haben es beide auf ihre Weise großartig gemacht. Das waren Jahre, in denen wir ihnen sehr den Rücken gestärkt haben und uns oft, auch wenn es hin und wieder schwer fiel, gegen den Rat der Schule entschieden. In unzähligen Elterngesprächen haben wir zu den Kindern gehalten, wohl wissend, dass eine Geschichte immer zwei Seiten hat. Wir waren da, wenn sie uns brauchten bis sie es immer mehr in die eigene Hand nahmen. Schulbrote, Schulweg, Hausaufgaben, Elternabende, GEV, Ferien, Stundenpläne, Elterngespräche, Klassenfahrten, Entschuldigungen, Schulbücher, Schreibfüller, Schulranzen … auf all das können wir in Zukunft verzichten und das fällt uns sicherlich nicht schwer. Dafür kommen neue Dinge auf uns zu, die uns Eltern in anderer Hinsicht fordern. Die weiteren Wege müssen die Töchter selber in die Hand nehmen. Im September treffe ich mich mit meinen SchulfreundInnen zum 35. Mal. An was werden sich meine Kinder später einmal erinnern? Die Schule ist aus … für immer.

Es ist still im Land

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Endlich Sommer … lang genug haben wir gewartet um das Grau in Grau zu verlassen, ohne dicke Jacke herumzulaufen, bis nachts auf der Terrasse zu sitzen oder die Blumentöpfe wieder mit bunter Vielfalt zu füllen. Parks und Straßen sind lebendig geworden. Die Menschen gehen raus und genießen die schöne Jahreszeit. Mit dem Sommer – so scheint es – ist auch endlich Ruhe in die Nachrichten eingekehrt. Keine täglichen Berichte von wartenden Flüchtlingen vor dem LaGeSo. Kaum einer spricht noch von Engpässen in den Turnhallen, die als Notunterkunft dienen. Keine Prognosen mehr, wer wohl das Richtige oder Falsche wählt. Es ist still im Land – keine größeren Probleme erhitzen die Gemüter. Aber: Die Flüchtlinge sind noch alle da, die Turnhallen belegt und Wahlen kommen wieder. Und doch hat es den Anschein, dass kaum einer noch darüber reden mag – im Moment jedenfalls nicht – ist doch jeder mit sich und der schönen Jahreszeit beschäftigt. Vor dem LaGeSo friert ja keiner, Sport machen wir im Freien und Wahlen … die sind erst in ein paar Monaten wieder aktuell. Verdiente Pause, trügerische Ruhe, Gleichgültigkeit oder Leichtsinn?
Mir ist es zu still im Land!

Um mich herum arbeiten die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter meines Arbeitgebers tagtäglich an den Erfordernissen der Flüchtlingsarbeit. Die Menschen in der Notunterkunft in der Halle werden in ihren behördlichen und alltäglichen Gängen betreut. Die jeweiligen Stadien ihrer Asylanträge stellen neue Anforderungen, die bewältigt werden müssen. Nebenher laufen alle möglichen Integrationsangebote für deren Kinder und natürlich auch für die Erwachsenen, die vornehmlich unsere Sprache lernen müssen. Zusätzlich müssen alteingesessene Nachbarn umfassend informiert werden und insbesondere Gelegenheit bekommen „die Neuen“ kennenzulernen, denn nur so können Ängste abgebaut werden. Integration der neuen und Teilhabe der alten Nachbarn – ein sehr wichtiger und zeitaufwendiger Aspekt der Flüchtlingsarbeit und erklärter Auftrag sozialer Träger.

In einer Einrichtung haben zwei junge Männer das Asylverfahren erfolgreich durchlaufen. Die Kollegin erzählt immer wieder von ihren Bemühungen, die jungen Männer zu begleiten, eine Wohnung und Arbeit zu finden. Erzählt von den Hindernissen und Teilerfolgen. Eine interne AG tagt regelmäßig, in der Vertreter verschiedenster Institutionen im Kiez zusammensitzen, Erfolge und Hindernisse der Arbeit zusammentragen und machbare Lösungswege beraten. Eine AG in der Nachbarschafts- und Jugendeinrichtung, Schulsozialarbeit und Politik ineinandergreifen. Was der eine nicht weiß oder kann, schafft der andere auf kürzerem Weg und umgekehrt.

Ein anderer Kollege ist kaum noch im Büro, sondern vor Ort, wo im Januar eine Einrichtung für unbegleitete Jugendliche eröffnet wurde. Vor ein paar Wochen kam ein zweiter Standort für unbegleitete Kinder hinzu. Neue Kolleginnen und Kollegen müssen eingestellt werden – sofern sie denn gefunden werden – und ein Team muss sich bilden. Die Einrichtungen müssen Auflagen erfüllen, die nicht immer sehr leicht zu erreichen sind. Vor allem aber müssen sich die jungen Bewohner wohl fühlen können. Sie brauchen Angebote, die ihre Tage nicht leer erscheinen lassen und sie müssen in Schulen untergebracht werden. Der Kollege führt mich durch beide Einrichtungen, zeigt mir wo geschlafen, gegessen, gemeinschaftlich Freizeit verbracht wird. Immer wieder begegnen uns Jugendliche, die respektvoll und wertschätzend gegrüßt werden. Die gute Atmosphäre ist deutlich in beiden Häusern spürbar.

All diese Flüchtlingsarbeit wird still gemacht und trotzdem merke ich wie an allen Ecken und Enden im sozialen Verein intensiv gearbeitet wird um den anvertrauten Menschen gerecht zu werden. Sie machen diese Arbeit, weil sie selbstverständlich für sie ist, aber eine Schlagzeile in den Nachrichten bekommen sie dafür nicht. Dies genauso wenig, wie die vielen Menschen, die zur Zeit das gute Wetter nutzen und versuchen über das Meer zu kommen – und es nicht schaffen. Es sind Hunderte, aber Europa hat das Problem vor die Grenzen geschoben. Es betrifft uns nicht mehr direkt, betrifft nicht unser Land, unsere Nachbarschaft und unsere Nachrichten. Nur hin und wieder kommt eine Nachricht durch. Wo vor Monaten noch das Bild eines ertrunkenen Kleinkindes Symbol für das Versagen Europas in der Flüchtlingspolitik wurde, kann nun das Bild eines ertrunkenen Säuglings in den Armen eines Retters keine Redaktion mehr dazu bewegen eine Schlagzeile daraus zu machen. Kein Sturm der Bestürzung geht durch die Netzwerke, kein Politiker reagiert darauf.

Die Nachrichten beherrschen andere. Leute, die den Deckmantel der Demokratie nutzen um sie permanent anzugreifen. Leute, die sich Politiker nennen, sich dabei aber einen Deut um unsere Grundwerte scheren. Parolen und Unverschämtheiten in die Welt posaunen um bewusst zu provozieren um in den Medien zu landen. Das Spiel geht auf! Es hat den Anschein, dass es wichtiger ist eine Talk-Sendung zu zeigen in der es um die Glaubwürdigkeit eines fragwürdigen „Politikers“ geht, als über fliehende und sterbende Menschen zu berichten. Es ist wichtiger, sich darüber zu empören, dass da jemand unseren dunkelhäutigen Nationalspieler diskreditiert, als darüber nachzudenken, wie man doch eine europäische Lösung in der Flüchtlingsfrage bewerkstelligen kann. Wir empören uns nicht über jetzt sterbende Menschen, sondern darüber, dass jemand das Land seiner Väter von 1941 zurückhaben will. Ein Land,  das alles in Schutt und Asche legte und 6 Millionen Menschen ermordete. Das Argument, dass es gewählte Vertreter sind mit denen man sich auseinandersetzen muss, kann ich nicht mehr hören, denn wer sich so verhält und so einen Müll erzählt – damit auch noch auf offene Ohren stößt – den kann ich nicht wirklich ernst nehmen … und sollte es doch, denn die Gefahr ist offensichtlich.

Kürzlich warf ein Bekannter eine interessante Frage auf: Er sprach davon, dass der Begriff Rassismus von manchen Menschen sehr weit gefasst wird. Für ihn ist Rassismus, wenn jemand stigmatisiert wird, weil er ein Merkmal (Hautfarbe, Nationalität, Religion …) hat für das er von Geburt nichts kann. Für andere beginnt Rassismus schon dort, wo sich jemand dumm äußert und verhält, obwohl er die Möglichkeit und Zugang zu Bildung hat. Im zweiten Fall überlege ich erstmalig, ob ich rassistisch bin, weil ich jedem verachtend gegenüberstehe, der sich überheblich, dumm und menschenverachtend verhält. Diese Leute bringen mich an meine Toleranzgrenze … ich werde weiter darüber nachdenken.

In diesem Zusammenhang möchte ich einmal einen Werbefilm empfehlen: momondo – The DNA Journey. Es ist ein Werbefilm der mehrere Personen zeigt, die aus verschiedenen Ländern kommen. Alle haben irgendein Ressentiment gegen ein anderes Land. Schließlich machen alle einen DNA Test und die Ergebnisse machen ihnen klar, dass keiner aus einer reinen Abstammung hervorgeht. Jeder verbindet in sich mehrere Länder. Wann begreifen auch hier die Letzten, dass wir ein multikulturelles Volk sind, das schon seit Jahrhunderten … und genau das unsere Stärke ist.

 

Ich möchte nicht still sein und mag die Stille im Land nicht. Ich möchte Schlagzeilen lesen von Politikern, die nach Lösungen suchen. Möchte Stimmen hören, die unbequem sind und die Mächtigen zum Handeln zwingen. Wünsche mir dass die Redaktionen die stillen, konstanten Menschen und Projekte entdecken und von ihnen erzählen – von denen, die immer und unermüdlich ihre Arbeit im Sinne der heimatlosen Menschen tun. Ich möchte etwas tun … nicht still sein … Stellung beziehen.

Wir können etwas tun:

Hand in Hand gegen Rassismus für Menschenrechte und Vielfalt
Bundesweite Menschenketten am 18. und 19. Juni 2016

Einen Tag vor dem internationalen Gedenktag für Flüchtlinge
soll ein gemeinsames ein Zeichen gesetzt werden – gegen Fremdenhass
und für Menschlichkeit, Vielfalt und Weltoffenheit.

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