Sommer ist überbewertet!

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Nur Motzrüben um mich herum! Neben mir sitzt eine Dame, die permanent an ihrem Rucksack herumfingert. Beim ersten Mal – Rucksack auf den Schoß heben, Schnalle auf machen, Wasserflasche (2 Liter) raus holen, trinken, Wasserflasche wieder rein tun, Schnalle zu machen, Rucksack runter stellen – laut stöhnen! Das zweite Mal: Rucksack wieder hochheben, Schnalle auf machen, Fächer rausholen, Luft zu wedeln, Fächer wieder in den Rucksack legen, Schnalle zu machen, Rucksack runter stellen – laut stöhnen … und dann geht es wieder von vorne los. Ruhig neben ihr sitzen ist unmöglich. Etwas weiter steht eine junge Frau, die theatralisch die Augen verdreht und die Nase rümpft, als sich ein recht großer Mann neben sie stellt. Keine Ahnung warum. Noch etwas weiter ist eine Mutter überfordert, deren Kind permanent ein Eis verlangt und die Trinkflasche, etwa nette 200 ml, ablehnt. Der Rest an Leuten guckt genervt, ausgetrocknet und hohlwangig durch die Gegend. Wir sitzen bei geschätzten 35 Grad in einem Bus. Es ist Sommer in Berlin.

Diesen Sommer haben wir uns alle sehnlichst gewünscht. Aus unterschiedlichen Gründen. Bei näherer Betrachtung und aus verschiedenen Erfahrungen beispielsweise mit oben geschilderten Szenen, stellt sich aber doch die Frage: Warum eigentlich? Die Nachteile gegenüber gemäßigter Jahreszeiten überwiegen bei weitem und trotzdem – jedes Jahr wieder das Gleiche: Ab einer gefühlten Temperatur über 10 Grad fiebert der Durchschnittsmensch dem Sommer entgegen. Geht man ins Detail wird diese Sommerverliebtheit recht unerklärlich. In diesen Breitengraden sind wir eher die Grau-in-Grau-Gewohnheitsmenschen, die – allerdings – nie wirklich mit der entsprechenden Jahreszeit zufrieden sind. Gehen wir ins Detail:

Sonne – ist überbewertet. Glaubt man allen Studien und der Wissenschaft braucht der Mensch Sonne. Vitamin D3 durch die UV-B-Strahlung ist für den Knochenaufbau wichtig. Der Hormonhaushalt, die Ankurbelung des Immunsystems und vieles mehr wird durch den großen Ball am Himmel angekurbelt. Das Wohlbefinden und die Stimmung soll ebenfalls davon abhängig sein. Andernfalls – bei Lichtmangel – wird die Produktion des Schlafhormons Melatonin angekurbelt. Dessen ungeachtet wird immer wieder und besonders immer öfter vor den gefährlichen Strahlen der großen UV-Schleuder gewarnt. Durch sie wird der Hautkrebs gefördert und die Haut wird schneller alt. Für Kinder ist sie besonders gefährlich und die Industrie kann gar nicht schnell genug immer höhere Lichtschutzfaktoren in Sonnencremes erfinden. Wollt ihr einmal Kinder – spart schon mal für Ganzkörperanzüge und Sonnencremes. Für das gute Vitamin D3 gibt es die einfache Lösung – die Pharmazie stellt es uns für einen geringen Kostenaufwand natürlich gerne zur Verfügung. Und das Ding mit der Haut lässt sich ebenso einfach lösen: Wir müssten nur unser Schönheitsideal wieder dezent in frühere Zeit versetzen, in der derjenige als vornehm galt, der eben nicht auf dem Feld (braune Haut) arbeiten musste, sondern sich den Müßiggang in Räumen (beispielsweise Büro) leisten konnte. Weiße Haut ist hipp und betont unseren selbstbewussten und verantwortungsvollen Umgang mit der Gesundheit.

Frischluft – ist überbewertet. Jeder Sommer fördert den Drang des Menschen ins Freie zu gehen. Im Zeitalter der Klimaanlagen unerklärlich und wohl kaum vernünftig. Warum das traute Heim verlassen und sich den Gefahren der Wildbahn stellen nur um Frischluft zu tanken. Fenster aufmachen reicht völlig. Dazu kommt der enorme Aufwand, den sowohl Privatpersonen als auch die Kommunen haben, um Gärten, Parks und Freizeitanlagen sauber und gepflegt zu halten. Steckt man die Stunden, die in Pflanzenpflege und -bewässerung gesteckt werden, einmal in produktive Wirtschaftsprozesse, würde unser Bruttosozialprodukt schon ganz anders aussehen. Wasser, ein knapper Rohstoff auf der Erde, könnte in enormen Mengen gespart werden, ganz zu schweigen von der Ersparnis, die die Überlastung der Wasserwerke kostet. Bedenkenswert sind zudem die enormen Streitigkeiten, die auf unsere Gerichte zukommen, die an Gartenzäunen durch sommerliche Kleingärtnerei entstehen. Lässt der eine den Apfelbaum zu sehr in Nachbars Garten hineinwachsen, der andere erntet aber ab, landet das sehr oft vor dem Gericht. Äpfel im Supermarkt kaufen, Zuhause gemütlich verspeisen und Ruhe bewahren ist Nerven schonender. Also lieber in der Wohnung bleiben. Das schont auch das Leben der hunderttausenden Schnecken, die freudig des Gärtners Pflänzchen vertilgen und unseren Pflaumenkuchen können wir alleine essen, statt ihn mit einem Geschwader Wespen zu teilen. Und wer schläft bei solchen Temperaturen bei geschlossenem Fenster? Keiner – Straßenlärm und Nachbars Gartenparty inbegriffen. Solche Sachen gibt’s in der kühleren Jahreszeit nicht.

Sommerkleidung – ist überbewertet. Jetzt wird’s heikel, denn – seien wir ehrlich – kaum einer verfügt über die Traumfigur, die wir immerzu im Fernsehen und in der Werbung bewundern dürfen. Das indoktrinierte Bild des Idealmenschen gibt es nicht. Und trotzdem – seien wir immer noch ehrlich – stellt sich jeder im Laufe des Vorsommers die Frage, ob auch er eine gute Figur abgibt. Ohne Sommer würde der Diätenwahn auf ein Minimum reduziert werden. Der Mensch würde sich wohler fühlen, denn wir müssten sie ja nicht mehr verstecken: die kleinen Fettpölsterchen, Unebenheiten, Leberflecken, Cellulite oder das Tattoo, welches als jugendliche Torheit entstanden ist. Aber: Es ist nun mal Sommer und unser Auge darf sich über sockentragende Sandalenträger oder schlauchkleidtragende selbstbewusste Damen freuen. Zum Scheitern verurteilt ist die Frage nach der richtigen Kleidung bei 35 Grad, wenn wir ins Büro dürfen, zum Arzt müssen oder sonst irgendwelche wichtigen Termine haben. Kaum zu schaffen, anständig angezogen, ohne durchzuschwitzen, pünktlich zum Termin zu erscheinen. Die bohrende Unsicherheit, ob das Deo (ohne Aluminium bitte) hält und die Gesichtshaut nicht wie eine Speckschwarte glänzt, ist wahrlich fürchterlich. Was die Hitze zudem für Brillen- oder Hörgeräte-Träger bedeutet macht sich auch kaum einer klar. Die Dinger kleben wie verrückt und reizen geradezu lieber blind und taub die hitzestöhnende Umwelt zu erleben.

Urlaub – ist überbewertet. Allein im Vorfeld ist zu überlegen wie viele schlaflose Nächte die Menschen die Sommerurlaubsfrage kostet: Den Arbeitnehmer nach dem „Wann!“ und er sich gegen die KollegInnen durchsetzen muss. Hat er das geschafft, nach dem „Wohin!“ und das schmerzhafte „Wie viel!“ Den Arbeitgeber, weil er gar nicht weiß, wie er die Lücke füllen soll, Motivationseinbußen bei Zurückgebliebenen auffangen und Produktions-Verluste hinnehmen muss. Ehen stehen vor einer enormen Belastungsprobe bei dem „Wohin!“ und an die nölenden Kinder, die nicht zum vierten Mal an den gleichen Ort wollen oder so gar keine Lust auf Kultur- oder Wanderurlaub haben, machen die Sache auch nicht gerade leichter. Und ist es dann endlich so weit, nehmen wir unter dem Deckmantel der „Erholung“ stundenlange Staus, unbefriedigende Hotels, Magenverrenkungen wegen ungewohntem Essen und die völlige Entgleisung unseren gewohnten Lebensrhythmus in kauft. Schweißtreibend auch die Frage, wohin mit den Kindern, denn ist der normale Sommerurlaub drei Wochen lang, hat die Bagage gleich sechs Wochen frei und viel Zeit die Eltern mit „Langweilig!“ und anderem zu nerven. Bleiben wir doch lieber in unseren gewohnten Gleisen. Ein schönes Wochenende dient völlig der Erholung und Entspannung – reicht doch!

Eine Kleinigkeit ist im Sommer jedoch besser – die Leute lachen mehr und es ist vielfältiger … nicht nur in Berlin – überall. Man sieht mehr Menschen, nimmt sie wahr und hört sie. Aber – ist Lachen und Vielfalt nicht auch überbewertet? Die Frage stelle ich mir dann, wenn ich im Winter nach einer langen Busfahrt vollkommen durchgefroren nach Hause komme und an meinen schönen Platz in der Sonne auf der Terrasse denke – dort, wo ich gerade sitze. 🙂