Eine kleine Geschichte vom Mandelstrauch

Es ist 25 Jahre her, dass wir, mein Mann und ich, frisch verheiratet, in unser kleines Häuschen einzogen. Damals noch nicht alleine. Die Schwiegermutter und wir bildeten eine Art Wohngemeinschaft, weil zu der Zeit gute Wohnungen schwer zu bekommen waren. Die „Haushoheit“ lag natürlich bei der Schwiegermutter. Was ich vom ersten Tag an jedoch besonders zu schätzen wusste, war der Garten ums Haus. Insbesondere als unsere Kinder geboren wurde, war es immer schön, einfach die Tür aufzumachen und sofort im Freien zu sein. Das bedeutet nicht, dass mir der Garten gefiel. Er war doch sehr praktisch gestaltet: Rundum Nadelbäume auf brauner Erde und in der Mitte Rasen, weiter nix. Mit einer Ausnahme – ein Mandelstrauch.

An der Seite des Hauses stand der Mandelstrauch, der mir nicht sofort auffiel, da er übers Jahr eigentlich nur grüne Blätter trägt. Gleich im ersten Frühjahr sah ich aber die kleinen Knospen und später wunderschönen gefüllten Blüten in zartrosa. Die Blüte dauert nicht lange, ein/zwei Wochen, dann kommen die Blätter. Ich mochte ihn von Anfang an, war er für mich ein Sinnbild des beginnenden Sommers.

Irgendwann war es dann so weit, dass die Schwiegermutter nach Mecklenburg zog. Ich gebe gerne zu, dass wir den Platzgewinn und natürlich auch das wieder gewonnene Alleine-Sein sehr genossen. Nachdem wir im Haus alles neu aufgeteilt und eingerichtet hatten, begannen wir den Garten neu zu gestalten. Dazu muss man wissen, dass Gartenarbeit in jungen Jahren für mich ein Greul war, zumal es meist nur Laubharken und Rasen mähen bedeutete. Blumen pflanzen interessierte mich schlicht gar nicht. Nun hatten wir eine große Fläche und legten ohne Plan los. Das Erste, was fiel, waren die Nadelbäume und Friedhofssträucher. Das war schlicht durch den Wunsch geprägt, ohne Pickser im Garten barfuß laufen zu können. Wir pflanzten aus, wir pflanzten neu und pflanzten um. Zugegebener Maßen ohne Erfahrung und hoffnungsvoll, es richtig zu machen.

Schließlich kam ein Herbst und wir harkten Laub, beschnitten die Bäume und Abgeblühtes. Dabei geriet mir der Mandelstrauch in die Finger. Ich weiß es nicht mehr genau, aber denke, ich wollte ihn in Form bringen. Jedenfalls musste er sich einen starken Rückschnitt gefallen lassen. Das Resultat kam prompt im nächsten Frühjahr in Form von weniger Blüten. Ich hatte es trotzdem noch nicht begriffen und auch der nächste Rückschnitt kam. Das ging so weit, bis in einem Frühjahr nur noch die Feststellung übrig blieb, dass er eingegangen war. Schweren Herzens kam der letzte Rückschnitt auf Boden Niveau … wir hatten mal einen Mandelstrauch.

Mit den Jahren machten wir dann doch gute Erfahrungen und bekamen Routine in unseren Gartenarbeiten. Nicht alles glückte, aber im Großen und Ganzen immer mehr. Ich fand Spaß daran, Neues zu pflanzen und mich im nächsten Frühjahr zu freuen, wenn es den Winter überstanden hatte. Gartenarbeit assoziierten wir immer mehr mit Entspannung, als mit Arbeit. Der Garten wurde unser zusätzliches Wohnzimmer im Sommer.

Viele Jahre später beschäftigten wir uns mit dem Gedanken das Haus umzubauen. Dazu wollten wir drei weitere Bäume fällen, wozu man in Berlin eine Genehmigung braucht. Für eine sehr große, aber kranke, Birke neben dem Haus bekamen wir diese sofort. Wirklich sehr kurz bevor die Birke gefällt wurde, bemerkte ich genau an der Stelle an der früher der Mandelstrauch stand, einen kleinen Zweig. Ich konnte es kaum fassen, aber es war sofort klar, dass es tatsächlich ein Mandelzweig war. Ich pflanzte ihn sehr behutsam aus, bevor die schweren fallenden Baumabschnitte der Birke ihn wieder kaputtmachten. Er bekam eine sehr geschützte Stelle von mir und ich achtete sehr auf den kleinen Zweig. Dort musste er die Um- und Anbauarbeiten abwarten. Zwei Jahre stand er dort, entwickelte sich und zeigte im Frühjahr wieder seine wunderschönen gefüllten Blüten. Anfänglich ein paar, aber mit den Jahren wurden es wieder mehr. Es ging ihm gut und vor meiner Schere war er sicher!

Ich habe mich schon oft gefragt, warum mir die Geschichte des Mandelstrauches immer wieder in den Sinn kommt. Ich denke, es sind zwei Sachen. Zum Einen wissen wir verloren gegangen Dinge oft erst zu schätzen, wenn wir sie nicht mehr haben. Vieles ist für uns so selbstverständlich, dass wir es erst bemerken, wenn es weg ist. Das gilt für Gegenstände genauso wie für Menschen. Viel öfter sollten wir uns Selbstverständliches bewusst machen und den wirklichen Wert, die Bedeutung für uns klar machen. Ganz besonders denke ich dabei auch an die 74 Jahre Frieden, die wir hier in unserem Land erleben dürfen. Das ist nicht selbstverständlich. Wir haben einfach nur Glück, dass wir hier und jetzt geboren sind.

Der zweite Punkt, der mir bei dieser Geschichte in den Sinn kommt, ist die unglaubliche Kraft, die in der Natur, aber auch in vielen Menschen steckt. Es ist bekannt, dass sich die Natur alles zurückholt. Viele Bilder zeigen vergangene Bauwerke, die von Wurzeln und Blattwerk überzogen sind. Natur ist unglaublich Stark und mit dieser Stärke sollten wir rechnen. Greifen wir weiter wie bisher in die Natur ein, holt sie sich auf ihre Weise alles wieder zurück. Wie das letztlich aussieht, mag ich mir nicht vorstellen. Aus dem Grunde bin ich jedem jungen Menschen dankbar, der uns Ältere mahnt, endlich zukunftsweisende Klimapolitik umzusetzen und unsere Welt als Leihgabe der Jugend zu begreifen.

Auch Menschen können eine unglaubliche Kraft entwickeln. Mittlerweile bin ich so alt, dass ich schon öfter erleben durfte, wie sich der ein oder andere veränderte und sich seiner Kraft bewusst wurde. Menschen, die eine Situation nicht mehr ertrugen und von heute auf Morgen alles änderten. Menschen, die sich ein sehr hohes Ziel steckten und es tatsächlich erreichten. Menschen von anderen aufgegeben, die sich einen neuen Platz in der Gesellschaft erkämpften. Entscheidend sind der Wille und der Glaube in sich selbst.

Der Mandelstrauch hat seinen endgültigen Platz in unserem Vorgarten zwischen vielen Steinen gefunden. Heute weiß ich, dass man ihn nach der Blüte durchaus zurückschneiden darf, bzw. sogar soll. Heute kenne ich ja auch seine Kraft, die er nutzt, wenn ich ihn gut behandele. Und es ist für mich nicht selbstverständlich, wenn er jedes Jahr im Frühjahr wieder wunderschön blüht … es ist mir umso mehr eine besondere Freude!

 

Vorwärts geht’s … kein Rückblick!

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Ich habe das erste Mal grüne Butter gemacht und viel Zeit zum Nachdenken dabei gehabt. Eigentlich hat die grüne Butter immer meine Schwiegermutter gemacht, jedes Jahr zu Weihnachten oder Silvester. Das kann sie nun nicht mehr. Jetzt ist es an mir. Als ich über die alte Dame nachdachte, kam mir besonders in den Sinn, wie gut es ihr im Moment geht. Wir haben gelernt, mit ihrer Demenz umzugehen. Wissen, wie wir ihr kleine Freuden bereiten können und sind dankbar über ihren, zur Zeit, stabilen Gesundheitszustand. Das war in diesem Jahr nicht immer so. Es gab Tage, an denen wir glaubten, sie für immer zu verlieren. Die alte Dame ist das beste Beispiel für mich, dass Rückblicke nutzlos sind. Das Gehirn hebt sich das auf, was besonders prägend im Leben ist und war. Das sind meistens die positiven Momente, den Rest verdrängen wir – oft, nicht immer. Das Entscheidende bleibt.

Würde ich nur zurückblicken, müsste ich über den Umstand klagen, dass die Schwiegermutter krank wurde, dass sie sterben wollte und kein selbstbestimmtes Leben mehr führen kann. Alles sind Dinge, die ich nicht beeinflussen kann oder konnte. Natürlich sind schlimme Tage dabei gewesen, aber zur Zeit können wir uns um sie kümmern, mit ihr lachen und noch ein bisschen festhalten. Wer weiß wie lange noch – der Moment zählt.

Würde ich zurückblicken, würde ich von der Last erschlagen werden, welche schrecklichen Ereignisse im letzten Jahr in der Welt passiert sind. So grausam, dass die Fassungslosigkeit bleibt. Und den Gedanken, dass es auch weiterhin solche Ereignisse geben wird, möchte man erst gar nicht denken. Sich diesen Ereignissen ergeben, hieße aufgeben und ich bin dankbar für jede Nachricht, jede Initiative, jedes Projekt, jeden beherzten Menschen, der zeigt, dass es in dieser Welt anders läuft. Ich bin dankbar für jeden, der zukunftsweisend, offen, multikulturell und beherzt denkt, der gute Entwicklungen vorantreibt und mich an das Gute im Menschen glauben lässt!

Mir würde so manches Wort, manche Situation und manches Missverständnis im Nachhinein leid tun. Auch dies tut es nicht, denn so unangenehm das ein oder andere war, hat es mich lernen lassen und zurücknehmen kann ich es nicht. Lernen lassen, noch genauer auf Gesagtes zu achten und insbesondere bei allem Gesagten, den anderen in seiner Situation und seinen Beweggründen feinfühlender zu betrachten. Ich darf lernen … das ist immer gut!

Würde ich nur rückwärts blicken, müsste ich mich ändern. Nicht alles was ich tat war gut, aber weit mehr positiv und richtig. Und ganz ehrlich – wer ändert sich grundlegend im meinem Altern noch? Ich bin die Summe der Dinge, die ich erlebt habe – Gutes wie Schlechtes, mache das Beste daraus, versuche an einigen Ecken etwas zu feilen. Gesunde Selbstkritik ist immer gefragt. Aber ich habe meine Macken und werde sie gut pflegen! 😉

Im Rückblick müsste ich über ein arbeitsreiches und Jahr der Veränderungen klagen – was für ein Blödsinn. Es hat Spaß gemacht, es hat Fortschritt gebracht und Dinge entstehen lassen – beruflich wie privat. Im nächsten Jahr wird’s noch mehr … nie, wirklich niemals wird mir langweilig.

Ein bisschen bedauern könnte ich mich auch noch – ich bin (fast) arbeitslose Mutter geworden. Die Kinder sind keine Kinder mehr, aber ganz erwachen sind sie (zum Glück) noch nicht. Ich kann ihre Selbstständigkeit genießen, kann sie begleiten in den Dingen, die sie nun zwingend alleine handhaben müssen und bekomme doch noch das Gefühl von beiden gebraucht zu werden. Was für ein schöner Prozess zu beobachten, wie sie in die Erwachsenenwelt hineinwachsen! Dazu kommt die bewusste Erkenntnis, dass der Vater und ich uns immer mehr mit dem Bewusstsein auseinander setzten, wie wir unsere Zweisamkeit künftig gestalten … wie spannend.

Vorwärts blickend werde ich das neue Jahr beginnen.

Bei allen Rückblicken oder Neujahrsgedanken, die ich gelesen habe, haben mir zwei besonders gefallen. Über „Toms Gedankenblog“ bin ich auf den Beitrag von Lydia Krüger gekommen: „Gute Vorsätze für 2016? Warum ein Jahresmotto besser funktioniert“. Lest es – für mich war es sofort einleuchtend und ich finde ein Jahresmotto prima. Vorsätze habe ich seit Jahren keine, denn – ich kenne mich. Sie sind so schnell vergessen, wie der Alltag mich wieder im Griff hat. Als ich es gelesen habe, hatte ich sofort mein Jahresmotto: „Neue Perspektiven!“ … seit längerem schon spüre ich die Lust auf Neues, Umdenken, innovative Ideen … ich denke, es wird ein gutes Jahr, dies an verschiedenen Ecken in Angriff zu nehmen!

Der zweite Beitrag ist ein Neujahrsgruß von Anna-Lena im Blog „Mein Lesestübchen“. In ihrem Beitrag „Zum Jahresende“ bettet sie in ihren Text viele lesenswerte Blogs mit Namen ein. Lest den Beitrag und klickt euch durch diese wunderbaren Blogs. Es ist eine Bereicherung – versprochen. Seit zwei Jahren gehört die Blogwelt nun zu mir. Viele virtuelle Freundschaften sind entstanden, die ich nicht mehr missen möchte. Ich genieße in hohen Maßen, dass dieses Medium wesentlich langlebiger und beständiger als alle anderen sozialen Medien ist. Ich genieße die Vielfalt der Blogs, die sich in der Meinungsvielfalt und unterschiedlichen Macharten spiegelt. Und es entwickelt sich immer weiter … meine natürliche Neugierde kommt auf volle Kosten. 😉

In der Zusammenfassung aus meinen Nicht-Rückblicken ergibt sich für mich folgendes: Ich zerbreche nicht an Dingen, die ich nicht beeinflussen kann und werde nicht aufgeben an das Gute im Menschen zu glauben. Da der Moment zählt, achte ich feinfühliger auf gute Entwicklungen, die ich vorantreiben kann. Ich werde in diesem Sinne weiter an mir feilen und weil ich gebraucht werde, gibt’s auch keine Langeweile. 🙂 Passt!

Auf ein neues, gutes, spannendes und interessantes Jahr!

Herzliche Grüße von
Anna

Adventskalender … lebenslänglich

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Kinderkriegen ist – im Idealfall – eine bewusste Entscheidung. Immer, wenn ich jüngeren Menschen begegnet bin, die diese bewusste Entscheidung gerade erleben, habe ich naseweis wie ich bin, meinen Senf dazugegeben und bin meinen Standardsatz losgeworden: „Wer Kinder bekommt weiß, dass er für die nächsten 20 Jahre in der zweiten Reihe steht!“ Sprich, alles dafür tut, dass dieser Nachwuchs nach 20 Jahren selbstbewusst auf eigenen Beinen steht und alleine seinen Weg durchs Leben bewältigen kann. Man selber dabei eigene Bedürfnisse hinten anstellen muss, die dann – nach 20 Jahren – wieder aus dem Dornröschenschlaf erwachen dürfen. Daran habe ich natürlich geglaubt und entsprechend frohlockt, als das zweite Kind den 18. Geburtstag feierte und unser Erziehungsauftrag erfüllt war. 

Frohlockt habe ich allerdings nicht lange – die Realität hat mich ganz schnell eingeholt. Ziemlich wenige Tage nach diesem 18. Geburtstag erklärten mir meine nun „erwachsenen“ Kinder in wie vielen Tagen Weihnachten ist, und dass sie selbstverständlich einen Adventskalender erwarten. Auf meine Einwände (siehe oben) kam nur Protest, denn die Jüngere meinte, dass die Ältere immer zwei Jahre mehr Vorteile hätte und die Ältere war sich sicher, dass Mütter solche Leistungen zu erbringen hätten – schon allein bei Kindern, die im gemeinsamen Haushalt leben. Ich habe die Diskussion erst einmal abgebrochen, nicht ohne immer wieder nette Hinweise zu bekommen, wann die Adventskalender fertig sein müssen. Nur zur Erklärung: Meine Töchter essen offiziell keine Schokolade, was die 24-Türchen-Standard-Kalender von vornherein ausschließt und ich selber diesen Standard über die Jahre durch viel Selbstgebasteltes recht hoch gesetzt habe.

Dann habe ich einen Fehler gemacht: Als ich wieder einmal einen Denk-an-die-Kalender-Appell hinter mich gebracht hatte, habe ich in Facebook mutig in mein Facebook-Profil geschrieben „Volljährige Kinder sind zu alt für Adventskalender, oder? Das dürfen alle kommentieren außer Esther Oesinghaus“ Eigentlich hatte ich erwartet, das ein oder andere: „Ja, da hast du recht!“ zu bekommen (das meine Töchter lesen werden), aber weit gefehlt!

Erstmal zu Esther: Sie ist meine Kollegin und leitet bei uns die Verwaltung. Aber nicht nur das – darüber hinaus engagiert sie sich ehrenamtlich bei allen sich bietenden Gelegenheiten, in letzter Zeit speziell einer kleinen sozialen Boutique und der Flüchtlingsarbeit. Und weil das ja nicht reicht, engagiert sie sich besonders für alle Belange, ihre Familie betreffend. Das sollte ja normal sein, sind Frauen, sprich Mütter nun mal die wahren Organisationstalente. Das reicht meiner Kollegin Esther aber immer noch nicht: Jedes Jahr zu Weihnachten bekommt ihre Familie Adventskalender – selbstgemachte – alle – jeder einzelne – Mann, zwei Söhne, zwei Schwiegertöchter, zwei Enkelsöhne! Das sind sieben … und das erzählt sie mir jedes Jahr aufs neue natürlich mit einem strahlenden Lächeln, wahrer Begeisterung und ohne jegliche Ermüdungserscheinungen. So ist Esther! Ich wusste also, dass ich bei ihr mit meiner Facebook-Frage keinen Blumentopf gewinne und hab zumindest versucht sie bei den Kommentaren auszugrenzen. Hat natürlich nicht geklappt.

Was mich als „alten“ Facebook-Hasen wirklich erstaunt hat, war die Vehemenz und die Vielzahl der Kommentare, die dann meiner Frage folgten: „Definitiv – sie sind nicht zu alt!“ begann es und auf meine Frage, wann man zu alt ist, kam die Antwort, dafür nie zu alt zu sein. Dann meldete sich die frisch-volljährige Tochter mit einem #Adventskalenderfürvolljährige. Als wenn ich’s gewusst hätte meldete sich auf meinen Einwand, dass sie sich mit Esther abgesprochen hätten, auch tatsächlich Esther persönlich, die natürlich keinen Kommentar zurückhalten konnte: Niemals sind Kinder zu alt dafür, und dass ich aus der Nummer nicht mehr raus komme! Mein Protest, dass dieser Kommentar kontraproduktiv wäre und man Kinder entwöhnen müsse, brachte mir einen gewaschenen Kommentar ihrer (Esther’s) Schwiegertochter ein, die die Gelegenheit nutzte sich bei der Schwiegermama zu bedanken und die riesige Freude beschrieb, dass diese nicht nur die eigenen Kinder sondern auch die Schwiegertöchter bedenkt. An der Stelle habe ich schon angefangen meine Eingangsfrage zu bereuen, spätestens nach Esther’s nächstem Kommentar, war mir klar, dass ich auf verlorenem Posten saß – Zitat: „Siehe es mal so … deine sind doch noch so jung und bedürftig … meine sind fast 30 und ein bissl drüber … und immer noch bedürftig … wollen wir Ihnen denn wirklich dieses wundervolle Gefühl nehmen … morgens aufzustehen … die Kalendertür aufzumachen und ein Lächeln auf dem Gesicht zu haben, weil Ihre Mama an sie gedacht hat … und ihnen den Tag damit versüßt – Hä!“ Das abschließende „Hä!“ war ganz schön frech! 😉

Es wurde aber noch besser: Von der Feststellung, dass ich wohl nie wieder diese Frage stellen würde, bis zu einer Meldung, dass eine Schwester immer die Kalender verschenkt. … Ich habe versucht meine Schwestern zu Tausch anzubieten … hat aber auch nicht geklappt. Eine Freundin erzählte von dem Opa, der die Kalender immer macht, selbst meine Schwester kommentierte mit einem „NEVER!“ und ein Freund erzählte, dass die Gattin immer einen Kalender bereit hält. Selbst mit 50 sein man nie zu alt, eine Freundin der Töchter bekräftigte ebenfalls den Anspruch, auch der Hund würde einen bekommen und viele weitere Kommentare mehr … nur ein einziger Kommentar kam von einer mit mir fühlenden Mutter, die auch zugab, dass sie gleiches Vorhaben wie meins – Adventskalender abzusetzen – wohl schon bei der Ankündigung wieder aufgegeben habe. … Man beachte bitte, dass die Kommentare alle von erwachsenen Menschen kamen, die offensichtlich nie aufgehört haben, das Privileg einen Adventskalender zu öffnen, aufzugeben.

Das nennt man wohl einen Schuss, der nach hinten los ging. Gut – versucht habe ich es und eigentlich war von vornherein klar, dass ich damit nicht durchkomme! Natürlich habe ich mich rechtzeitig um die einzelnen Komponenten gekümmert, die notwendig sind, meinen Kindern den Wunsch zu erfüllen und so werden sie ab dem 1. Dezember jeden Tag eine Tüte öffnen. Ganz so leicht machen wir es ihnen aber dennoch nicht – die Kalender sind mit einem Rätsel gefüllt, das erst am 24.12. zum Tragen kommt – das kann ich hier natürlich noch nicht verraten. Dabei hat mir der Vater der Kinder wunderbar geholfen. Ich werde auf Esther’s Spuren wandeln, Spaß beim Basteln und der Vorstellung haben und – natürlich – zeitlich megaknapp zwei Adventskalender aufhängen. An den Vater werde ich auch denken – beim Hund aber streike ich … 24 Leckerlies aufzuhängen ist Blödsinn – die hat er in einer Sekunde gefressen! 😃

Etwas stimmt mich bei der ganzen Geschichte aber doch recht nachdenklich: Ich lese durch die Medien immer wieder, dass Valentinstag, Ostern, Halloween, der Weihnachtsmann gemachte Feiertage und Feste sind, die nur dem Kommerz und Emotions-Menschen nutzen – warum stehen die Adventskalender offensichtlich auf ganz anderem Posten? Vielleicht finde ich die Antwort, wenn ich – wie Esther – Schwiegersöhne und Enkelkinder habe … ein bisschen Zeit ist noch – die nächsten 20 Jahre – mit in der ersten Reihe! 😃

 

Ein Update zu diesem Beitrag am 9.12.2016:
Ich ändere nie einen Beitrag nachträglich – es sei den ich entdecke ein Fehlerchen. Aber dies möchte ich doch noch dazu erzählen. Ich bekam in Facebook und auch hier im Blog sehr viele Kommentare – offensichtlich hat jeder seine persönliche Adventskalender-Geschichte und Beziehung. Einzig Sabine Waldmann-Brun fragte, ob die Kinder wohl auch an die Mutter denken, wenn es um die Kalender geht. Als ich das verneinte, wurde sie selber aktiv und hat einen Kalender für mich persönlich gemalt, gebastelt und geschickt. Er ist so wunderschön, dass ich ihn hier zeigen möchte. Er wird künftig das ganze Jahr bei mir hängen und mich immer wieder daran erinnern, wie schön es ist, einfach mal so, etwas für einen anderen zu tun. Einen sehr herzlichen Dank an Sabine für diese große Freude – schaut euch ihre Bilder an – so wunderschön! 🙂

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Immer wieder Zweifel und Entscheidungen

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Es ist früh morgens um 6.00 Uhr. Auf dem Mühlstein, der zum Tisch umgebaut ist, steht meine erste Tasse Kaffee. Von hier aus habe ich einen wunderbaren Blick über den See. Es ist herrlich an diesem Platz so früh morgens, wenn die Natur aufwacht und sich die Sonne langsam über die Bäume schiebt. Wende ich den Blick etwas, sehe ich das Haus. Ihr Haus, in dem sie so lange gelebt hat. Nach dem Frühstück beginnt die Arbeit. Wir lösen ihren Haushalt auf, machen die Räume leer, sortieren, ordnen, entsorgen … sie kommt nie wieder zurück.

Das Haus gehört der Schwiegermutter. Vor einem Jahr hatte sie einen Infarkt, wurde infolge dessen dement und nach kurzer Zeit stand fest, dass sie an diesem schönen Ort nicht mehr alleine leben konnte. Sie zog in ein Seniorenheim, ganz bei uns in der Nähe, wo wir uns um sie kümmern können. Sie hat sich daran gewöhnt und es geht ihr den Umständen entsprechend gut. An diesen Ort erinnert sie sich nicht mehr. Das ganze Jahr blieb das Haus fast unberührt. Zu groß war die Überwindung etwas zu verändern und Tatsachen zu schaffen. Wir kamen her, um nach dem Rechten zu sehen, den Rasen zu mähen und Dinge zu erledigen, die eben gemacht werden müssen. Es war nicht mehr so wie früher. Die Oma war nicht da, richtig wohlfühlen konnten wir uns nicht mehr und die Zeit nicht zurück drehen. Mit den Kindern trafen wir die Entscheidung, dass wir hier nie leben würden. Über das ganze Jahr hatten wir immer ein ungutes Gefühl, das Haus mit allem Inventar alleine stehen zu lassen. Es liegt wunderschön – am Ortsausgang, Waldanfang, genau an der Grenze des Naturschutzes, ruhig, alleine, unbeobachtet.

Also los: Kein wehmütiges Bedauern … ich habe Urlaub – beste Gelegenheit am Stück zu arbeiten. Ein Container wurde gebracht und neben das Haus gestellt. Beim Frühstück unterhalten wir uns wer wo anfängt. Einen richtigen Plan haben wir nur grob und wir ahnen nur, was vor uns liegt. Ein gesammeltes Leben auf 200 qm Wohnfläche untergebracht. Dazu muss man wissen, dass diese Frau alles aufgehoben hat. Nicht nur von sich selber, auch was sie von den Eltern erben konnte und sich über ein ganzes Leben lang angesammelt hat. Regale und Schränke waren voll, jeder mögliche Platz genutzt, jeder Winkel voll gestellt, Keller und Dachboden ausgelastet. Die Räume durchgehend geschmückt mit allerlei Figuren, Bildern, Schalen, Krügen, Erinnerungen, Mitbringsel.

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Die wichtigsten Unterlagen hatten wir schon vorher durchgesehen und gesichert, was für sie persönlich wichtig war. Nun kamen Ordner auf uns zu, in denen Vorgänge ab den 70er Jahren zum Vorschein kamen, ein Stapel Urkunden aus den 1870er Jahren, Fahrscheine und Visa aus DDR-Zeiten, Briefe über Jahrzehnte verteilt. Aber nicht nur Briefe, den entsprechenden Briefumschlag sicherheitshalber dazu. Kalender, gesammelt seit den 80er Jahren oder unbeschriebene Postkarten, die für Jahrzehnte reichen würden. Bücherregale mit allerlei Schätzen, die im Antiquariat nichts mehr zählen. Schon stoße ich an meine Grenze. Gut, Meyers Konversationslexikon, komplett mit Sonderbänden … in „Google-ist-mein-Freund“-Zeiten nicht mehr ganz zeitgemäß. Größere Probleme machen mir die vielen kleinen Büchlein mit Goldschnitt und schön gestalteten Titeln. Kinderbücher oder zum Beispiel „Der Kriegs-Struwelpeter!“ aus der vorletzten Jahrhundertwende … ich kann es nicht weg tun und schon sind die Stapel „Aufheben!“ und „Wegschmeißen!“ geboren. Vier Kartons bleiben übrig und werden sich in die ohnehin schon vollen heimischen Bücherregale einordnen.

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Die Stapel „Aufheben!“ und „Wegschmeißen!“ bleiben durchgehendes Thema und stellen uns permanent vor Entscheidungen und Zweifel. Manchmal fällt es schwer, manchmal leicht, trotzdem müssen wir immer wieder abwägen, ob ein Gegenstand zu den eigenen Sachen passt oder solange aufgehoben wird, bis ein passender neuer Besitzer gefunden ist. Schließlich ist es ja auch ein Platzproblem, denn unser Haus ist kleiner, als das welches wir leer räumen. Mit Geschirr können wir die Polterabende von gut drei Hochzeiten bestens bespaßen. Mit Bettwäsche ein Hotel bestücken, Handtücher brauchen wir für Jahre keine neuen. Fünf Kartons mit ordentlich eingepackten Gläsern holen wir vom Dachboden. Gleich beim Ersten wird klar, dass wir sie alle durchsehen müssen. Eingewickelt finden wir eine vollständige Zuckerdose, den Jahrgang des Zuckers kann ich nicht beziffern, aber der hübsche kleine Silberlöffel mit Familienwappen zwingt mich doch, alle Gläser zu sichten. Acht besondere Trinkgefäße bleiben übrig. Ich bringe es nicht fertig schön geschliffenes Glas dem Container zu übergeben.

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Auf dem Dachboden finden wir das komplette Spielzeug unserer Kinder, welches wir schon längst in anderen Haushalten glaubten. Immer wieder gibt es spannende Überraschungen. Ein Koffer birgt die komplette Hebammen-Ausstattung, die die gelernte Hebamme in den 60er Jahren für die Arbeit brauchte. Ein Stethoskop aus Holz, Spritzen aus Metall, ein alter Pulsmesser … nix für den Container. Der alte Nähkorb ist immer etwas Feines für den Liebhaber und auch hier finden sich erwartungsgemäß ein paar hübsche Kleinigkeiten. Ich kann alte schöne Dinge nicht einfach wegschmeißen – immer wieder müssen wir abwägen, was bleibt und was kommt weg. Fragt mein Mann mich, ob das wirklich sein muss, bin ich kurze Zeit später diejenige, die ihn fragt, ob das sein muss. Jeder hat an Gegenstände andere Erinnerungen und Verbindungen. Schwer manchmal.

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Leichter ist es bei den Möbeln, die in den eigenen Haushalt wechseln. Leichter? Ein alter Schrank soll mit. So groß, dass er nicht durch das Treppenhaus passt. Zwei Freunde helfen mit. Die Männer beschließen, ihn durch das Fenster über eine Leiter nach draußen rutschen zu lassen. Ich stehe auf der anderen Straßenseite und zwinge den Verkehr langsam zu fahren. Das erste Stück geht relativ gut. Beim Zweiten sieht man beim Zuschauen, dass es schief gehen muss. Es rutscht, ist kaum zu halten für den einen (meinen) Mann auf der Leiter. Vor meinem Auge spielt sich ein Unglück ab, als plötzlich zwei Autos halten, Männer aussteigen, spontan anpacken und nun sechs Männer den Giganten auf die Straße heben. Sie tragen es um die Ecke, steigen ein und sind wieder weg … alles gut. Unkonventionelle Hilfe made in Mecklenburg.annaschmidt-berlin.com_haushaltsaufloesung_10 Zum Glück können wir nun darüber lachen. Zum Lachen bringt uns auch eine andere Situation. Zwei liebe Kollegen kommen an dem Tag mit einem gemieteten Transporter, der alles nach Berlin bringt. Wir stellen die Möbel in die Einfahrt um später schneller einladen zu können. Auch einen Löwensessel. Innerhalb kurzer Zeit führen wir mehrere nette Gespräche, ob wir die Möbel nicht hergeben möchten. Ich platziere den Gatten auf dem Stuhl für eine kleine Pause und bitte ihn den Sessel doch außer Straßensichtweite zu stellen. Der Transporter war schnell gepackt und nach einer leckeren Kartoffelsuppe alle Männer wieder auf dem Weg nach Berlin. Der zweite Container war schnell gefüllt. Das Haus wurde leer, die Räume klar und nach einer Woche war geschafft ein Ferienhaus einzurichten. Kein ungutes Gefühl mehr die persönlichen Dinge alleine zu lassen. Nun können wir gelassen hier entspannen oder abwarten, welche Bestimmung das Haus bekommt. Zum Schluss wagten wir noch den Blick in den kleinen Gewölbekeller. Auch hier durften wir staunen, was Aufhebenswert ist. Marmeladengläser bräuchten wir jedenfalls für Jahre nicht mehr und der ein oder andere Steinguttopf wird nun unseren Garten schmücken.

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Zwischen der Arbeit wandern die Gedanken immer wieder zu der alten Frau, die sich an all dies hier nicht mehr erinnert. An den Dingen, die sie aufgehoben hat, wie sie sich eingerichtet hat, erkennen wir viel aus ihrer Gedankenwelt. Durch manches gibt sie uns einen Blick in die Vergangenheit, wie dem alten Familienstammbaum, den wir unscheinbar in einer Rolle fanden. Auf vielen Fotos erkennen wir Verwandte, aber manche Menschen erkennen wir nicht. Briefe und Karten zeigen, was die Mutter für den Sohn tat. Eine umfangreiche Sammlung an Kühen und Kuscheltieren in jeglicher Form zeigt, was sie liebte. Alles erzählt von ihr und ihrem Leben, dass nun nur noch in ihrer Erinnerung existiert – oder eben auch nicht.

Wir denken über den Sinn und Unsinn nach, Dinge aufzuheben und an alte Zeiten festzuhalten. Denken darüber nach, was wir selber alles aufheben und uns nicht trennen können. Wir überlegen, wann wir anfangen auszumisten, um unseren Kindern kein volles Haus zu hinterlassen. Grübeln, wann der richtige Zeitpunkt kommt sich von den Gegenständen, die unser Leben belegen, zu trennen. Wer sagt uns, was wert und wertlos ist, um es der Nachwelt zu erhalten? Welches Foto schmeiße ich weg, welches behalte ich? Hat ein persönlicher Gegenstand, der mich an einen verstorbenen lieben Menschen erinnert, für meine Kinder den gleichen Stellenwert? Wohl kaum.

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Auch am Abend sitze ich gerne am alten Mühlstein mit dem Blick auf den See. Hier fällt es leicht meinen Gedanken nachzugehen. Die Zweifel, das Richtige zu tun, sind nicht weniger geworden. Entscheidungen, die nicht mehr zu ändern sind, fallen nicht leichter. Zuhause wartet viel Arbeit auf uns. Nun müssen wir das Gedenken an die Großmutter für unsere Kinder und uns im eigenen Haus integrieren. Wo es passt, wo es schön aussieht, dort wo es uns ein Lächeln entlockt – in Erinnerung an eine bemerkenswerte alte Frau.

Zum Leben zu müde, zum Sterben zu schwach …

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Sie hebt ihre Hände hoch, schaut auf den kleinen Schlauch an ihrem Handgelenk und fragt, für was der ist. Ich erkläre ihr, dass darüber Flüssigkeit in ihren Körper kommt, weil sie krank ist und sie wieder gesund werden muss. Dafür bekommen ich einen verständnislosen Blick. Um die Situation zu überspielen, erkläre ich ihr weiter, dass es jetzt Frühling wird. Erzähle ihr, dass alle Vögel zurück kommen und sie im Frühling doch so gerne draußen ist. Dann wird ihr Blick wieder milde und wandert weiter … Das machten wir seit fast 5 Stunden und alle paar Minuten fragte sie mich wieder, für was der Schlauch an ihrem Handgelenk ist.

Wir freuten uns auf ein ruhiges Wochenende. Ohne Verpflichtungen und ohne Kinder, die zu einem Hockeyturnier gefahren waren. Es kam anders. Gegen Mittag kommt ein Anruf aus dem Seniorenheim, dass es der Schwiegermutter nicht gut ginge und man sie in ein Krankenhaus bringen wollte. Nach fünf Minuten, wir wohnen 200 Meter entfernt, waren wir dort. Sie schlief, aber selbst der schlafenden Frau war anzusehen, dass es nicht gut stand. Beim Transport wurde sie teilweise wach, ob sie uns wirklich erkannte ist unsicher. Auch später als wir warten mussten dauerte es recht lange, bis sie wirklich realisierte, dass wir anwesend und bei ihr waren. Nach relativ kurzer Zeit holte uns ein Arzt zur Untersuchung, ließ sich die Umstände erzählen, fragte nach Verfügungen und Vollmachten und begann mit der ersten Untersuchung. Wieder einmal waren wir froh, dass wir spontan die Papiere mitgenommen hatten. Schließlich erklärte er uns die weiteren Untersuchungen, die notwendig waren. Dann stellte er das erste Mal die belastende Frage, welche lebenserhaltende Maßnahmen gemacht werden sollten. Mein Mann und ich schauten uns kurz an, bis er antwortete „Keine!“ Der Arzt ließ aber nicht locker, fragte, ob ein Infekt behandelt werden dürfe, was mit Herzbehandlungen wäre und einiges andere, bis er zufrieden war. Schließlich mussten wir auf weitere Untersuchungen warten.

Wir waren beide in Gedanken, immer mit dem Blick auf die ruhende Patientin. Waren in Gedanken bei der gesunden Frau, die sie noch vor einem Jahr war, wanderten zu dem Tag ihres Infarkts, zu der Reha, zu der Erkenntnis, dass sie nicht mehr alleine lebensfähig war. Zum letzten gemeinsamen Tag in ihrem Haus, zu der Zeit in der sie sich im Seniorenheim zurechtfinden und wir uns mit Demenz auseinander setzen mussten. Die ersten Wochen waren schwer, aber auch an Demenz, an gemeinsame kleine Spaziergänge und an Unterhaltungen in einer Endlosschleife, kann man sich gewöhnen. An immer wieder gleiche Fragen, kleine Rituale und Begebenheiten, die einem doch ein liebevolles Lächeln entlocken. Und trotzdem schaut man zu, wie ein geliebter Mensch immer weniger, zarter, kleiner, transparenter wird. Und weil man nicht weiß, wie lange dieser Zustand dauern wird, schwankt man ständig zwischen der Dankbarkeit, gemeinsame Zeit verbringen zu können und dem Wunsch, es möge doch wieder wie früher sein. Es wird nie mehr wie früher.

Es wird schwieriger und nun kommen andere Krankheitssymptome hinzu. Wir haben gesehen, dass sie zerbrechlicher wurde. Haben bemerkt, dass der Kopf immer weniger leisten konnte, dass ihre Erinnerungen schwächer und entfernter waren. Und wenn sie für wenige Momente einmal im Jetzt war, haben wir ihre Befürchtung, was sie für eine Belastung für uns wäre, entkräftet. Immer öfter hat sie geäußert, dass es doch besser wäre, wenn sie sterben würde. Das haben wir versucht zu ignorieren, aber das sagt sie nun auch im Krankenbett, wenn sie für einen kurzen Moment bei uns ist. Sie will einfach nicht mehr, ist des Lebens müde, möchte Ruhe und ihren Frieden haben. Und wir – wir sind nun soweit, dass wir ihr wünschen, ihr Wunsch möge erfüllt werden.

Belastend ist die Frage der Ärzte, was für Maßnahmen noch getroffen werden sollen, damit sie wieder gesund werden kann. Ein Harnwegsinfekt, eine Lungenentzündung und ein Schlaganfall stehen zur Auswahl. Es ist die eine Sache, alle Vorsorgepapiere auszufüllen, die Kreuze an die richtige Stelle zu machen und zu verfügen, dass ein anderer Mensch entscheiden soll, welche lebensverlängernde Maßnahmen getroffen werden sollen oder eben auch nicht. Diese Papiere haben uns immer sehr geholfen, entscheiden zu können. Eine ganz andere Sache ist es vor einem Arzt zu stehen und diese Entscheidung zu treffen. Zum Glück ist es in unserem Fall eindeutig und oft kommuniziert. Sie selber hat es verfügt, festgeschrieben und uns oft gesagt, das sie alles ablehnt, was sie künstlich am Leben hält.

Aber sie ist nun mal die Mutter, die Schwester, die Schwiegermutter, die Oma. Wir möchten festhalten – wissen aber, dass dies nicht mehr richtig ist. Der Wunsch, dass sich ihr Wille erfüllt und sie Frieden findet, wird immer stärker. Wir reden viel miteinander, müssen diese Situation gemeinsam bewältigen, kämpfen mit der inneren Zerrissenheit und wissen doch, dass es so kommen wird. Und wann? In Stunden, Tagen oder Monaten? Er kommt – der Frieden, den sie sich wünscht – bis dahin werden wir weiter machen … Leben, Arbeiten, Reden, Nachdenken – aber auch Lachen, Freude empfinden, das Miteinander genießen und erinnern uns an die vielen gemeinsamen Jahre – mit einer einst starken Frau.

Am nächsten Tag ein weiterer Anruf. Sie ist aus dem Krankenhaus entlassen worden und wieder im Seniorenheim. Innerhalb kürzester Zeit sind wir bei ihr – fassungslos, dass so eine schnelle Wende möglich sein soll. Gestern noch zum Sterben bereit und heute wieder entlassen. Sie liegt wieder in ihrem Bett, erkennt uns sofort, setzt sich mit Hilfe auf und redet mit uns … immer die gleichen Fragen. Sie sieht immer noch nicht gut aus, ihr Atem rasselt, aber es ist möglich ihr ein Lächeln zu entlocken. Im Schwesternzimmer lasse ich mir den Entlassungsbericht geben. Unter vielem anderen steht dort: „Auf Wunsch der Patientin erfolgt eine rasche Rückverlegung in die gewohnte Umgebung der Pflegeeinrichtung!“ … wir sind sprachlos. Wie kann man einen dementen Patienten auf eigenen Wunsch entlassen, der zwei Minuten später davon nichts mehr weiß? Will sie nun leben oder sterben? Wir sind durcheinander.

Gut, alles geht wieder seinen gewohnten Lauf … wir werden sie beobachten, besuchen, unterstützen, betreuen … alle Auf und Ab’s mit ihr durchleben, ihre Fragen beantworten und mit ihr lachen, wenn es geht. Wir sind dankbar für unseren Alltag, die Arbeit, die Kinder, die uns ablenken. An ihrem Handgelenk trägt sie immer noch das Plastik-Armband aus der Klinik mit ihrem Namen drauf … es sieht aus wie das bei der Geburt eines Kindes … das ist der Lebenskreislauf. Und das Leben fragt nicht, wie es uns geht, es geht immer weiter – dafür bin ich besonders dankbar!

Die letzte Mohnstolle …

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Ich sah aus dem Augenwinkel, dass eine E-Mail von der Mutter ankam, worüber ich mich immer freue. Als ich sie las, war ich gar nicht mehr so freudig. Ich wusste nicht, wie ich sie einschätzen sollte. Es war die Ankündigung an meine Geschwister und mich, dass unsere Weihnachtspäckchen unterwegs seien. Das bedeutet in der Regel, bald gibt’s Mohnstollen, den sie jedes Jahr für uns backt – so lecker! Also eigentlich etwas, was Freude bei mir auslösen sollte. Aber in der Mail stand auch der Satz: „Genießt den Kuchen, denn ab jetzt könnt Ihr nur noch das Rezept von mir bekommen.“ Schon schlugen die Gefühle Purzelbaum – richtig auf’s Päckchen freuen wollte ich mich nicht mehr. Natürlich antwortet ich fröhlich, dass sie mir sicherheitshalber das Rezept schicken solle, falls ich sie im nächsten Jahr nicht mehr überreden könne, wieder eine Stolle zu backen.

Was mich so „unfreudig“ gestimmt hatte war die Tatsache, dass sich meine Mutter bester Gesundheit erfreut. Sie ist aber auch ein sehr klar denkender Mensch, der Tatsachen anspricht und ehrlich damit umgeht. Also auch, dass sie älter wird und manche Dinge ihr nicht mehr von der Hand gehen wie früher. So auch das Backen der Stollen für fünf „Kinder“ zu Weihnachten. Unterschwellig war aber auch eine andere Botschaft damit verbunden, die sich für mich durch dieses ganze Jahr zieht. Ich muss bereit sein mich von Menschen zu verabschieden. Akzeptieren, dass Menschen sich auf die letzte Lebensphase vorbereiten. Damit verbunden auch annehmen, dass dieses Thema für mich persönlich näher kommt. Ein sehr unbequemes Thema, wenn man eigentlich Mitten im Leben steht.

Im Juni haben wir die Schwiegermutter auf andere Weise verloren. Sie ist in die Demenz gefallen, das hatte ich in diesem Beitrag schon einmal beschrieben. Die ersten Wochen und Monate waren sehr schwer und wir mussten lernen damit umzugehen. Demenz muss man erleben, sonst kann man sich schwer vorstellen, wie sich die betroffenen Menschen verändern. Dabei haben wir es noch relativ gut getroffen, da sie zweihundert Meter weiter im Seniorenheim sehr gut untergebracht ist. Es fällt uns dennoch immer schwer sie zu besuchen. Ein Teil in uns möchte, dass es wieder so wie früher wird und der andere Teil beobachtet sehr realistisch, dass sich diese einst starke Frau immer weiter von uns entfernt. Sie wird kleiner, transparenter, leiser, zärtlicher, dankbarer … weniger!

Ich habe ihr eine kleine Nikolaustüte gepackt. Ein Schokoladen-Nikolaus, ein Schoko-Glückskäfer (den sie uns immer schenkte) und dann noch jeweils eine Klappdose mit Bonbons und eine mit kandiertem Ingwer. Ich war gespannt und diesmal fiel es mir nicht so schwer sie zu besuchen, hoffte ich doch, dass sie diese Dinge erkennt und sich freut. Normale Tüten zu öffnen und schließen geht mit ihren Fingern nicht mehr. Ich zeigte ihr, wie sie die erste Dose auf bekommt. Auf die Frage, ob sie weiß, was es ist, meinte sie: „Na diese Bonbons, diese Ca… , diese mit Lakritz.“ und ich sagte „Ja, Cachou-Bonbons!“ Sie nahm ganz schnell die zweite Dose in die Hand, die sie selber öffnete. „Ach, Ingwer!“ und schon war der erste in ihrem Mund. Ihr Lächeln war mehr als 1000 Goldstücke wert. Nach einem schönen Spaziergang mit ihr, ging ich einigermaßen zufrieden nach Hause. Nur einigermaßen zufrieden, weil sie mir im Gespräch wieder gesagt hatte, dass sie manchmal nicht mehr aufwachen möchte. Das tut weh. Zufrieden, weil ich gesehen habe, dass sie sich über Kleinigkeiten freut und ich aktiv etwas tun kann. Cachou-Bonbons und Ingwer, die sie immer liebte, sind offensichtlich noch in ihrer Erinnerung wach. Wer weiß, wie lange noch.

Abschied hat immer etwas Schweres in sich, ob plötzlich oder langsam, spielt keine große Rolle dabei. Man kann etwas nicht wieder zurückholen, es ist endgültig und die Angst, was diese Veränderung mit sich bringt und die verbundene Ungewissheit doch groß. Ein Kollege hat kürzlich seine Mutter verloren. Sie war friedlich eingeschlafen, was sicherlich tröstlich war, aber damit ist für ihn die ganze Elterngeneration weggebrochen. Er hat am Tag der Beerdigung einen sehr schönen, ergreifenden Nachruf an seine Eltern veröffentlicht. Ich habe ihn sehr bewundert dafür, weil er offen über seine Trauer sprach, dennoch seine Dankbarkeit zu Ausdruck brachte und seine Verbundenheit und Liebe zeigen konnte. So hat er seinen Söhnen vermittelt, was er selber an Erziehung erfahren hat, was er an Erziehung den Söhnen weitergeben wollte und die Söhne dies in ihre Kinder weitergeben können. Trotz aller Trauer hat er einen Weg aufgezeigt, wie seine Eltern weiterleben in der Erinnerung und der Erziehung der Kinder in dieser Familie.

Es geht immer weiter – anders halt, aber es geht! Manchmal schwer, manchmal leichter … mir ist bewusst, dass ich die Veränderungen nicht aufhalten kann. Will ich auch nicht, genauso wenig wie ständig daran denken. Oder durch so eine Mail mit einer Mohnstolle daran erinnert werden. Lieber konzentriere ich mich auf das Jetzt. Überlege, wie ich die Zeit, die ich z.B. mit der Schwiegermutter noch habe, nutzen kann. Wie ich mich auf Veränderungen vorbereiten und wappnen kann. Genauso wie ich bereit sein muss, mich von Menschen zu verabschieden, muss ich bereit sein, Menschen in meinem Leben zu begrüßen. Was steht mir noch mit meinen Kindern bevor? Ich bin so dankbar, dass ich sie um mich habe, sind sie doch ein entscheidender Motor für mein Leben. Ich freue mich auf neues Leben, denn sicherlich werde ich in vielen Jahren auch einmal Oma sein. Erst einmal werde ich Tante – im nächsten Mai bekomme ich eine Nichte oder einen Neffen. Mein jüngster Bruder wird das erste Mal Vater und die Familie wächst weiter. Ein absoluter Grund für Optimismus – so eine große Freude für uns alle.

In diesem Jahr genieße ich die letzte, von der Mutter gebackene, Mohnstolle, denn das Päckchen ist angekommen. Im nächsten Jahr … backe ich sicherheitshalber schon mal selber … oder schaffe es doch noch, sie wieder zu überreden! 🙂 Denn es gibt einfach Gerichte und Gebackenes, die bei aller Mühe nicht so schmecken wollen, wie es zuhause einmal war!

 

 

 

Weihnachten wird abgeschafft!

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„Das neue Gesetz zur Regelung christlicher Feiertage wurde heute in dritter Lesung vom Bundestag verabschiedet und wird nun dem Bundesrat zur Zustimmung zugeleitet. Gegenstand der neuen Gesetzgebung ist die bundesweite Abschaffung der christlichen Feiertage. Nach Zustimmung im Bundesrat wird es nur noch einen bundeseinheitlichen Feiertag, den Tag der Deutschen Einheit, geben.“ Eine Nachricht, die der Gleichstellung aller Religionsgemeinschaften in Deutschland entgegen kommt und schon lange überfällig ist. Religiöse Feste werden nur noch innerhalb der Gemeinden und an Wochenenden gefeiert. Religionsunterricht muss dem Lebenskunde-Unterricht aus den Schulen weichen. Soziale Aufgaben christlicher Arbeitsgemeinschaften und Verbände werden an freie Träger übergeben.

Der erste Advent steht bevor und Deutschland stöhnt unter der Last der bevorstehenden Feiertage. Es wird gemault und geklagt, was das Zeug hält. Wem kein Grund zum Schimpfen einfällt, klagt mindestens darüber, dass es wieder keine weiße Weihnacht geben wird. Seit Wochen schimpfen die Menschen, dass neben den Halloween-Sachen schon die Weihnachtssüßigkeiten standen. Es wird über zu volle Einkaufspassagen geklagt und über Billigwaren, die eigens zum Fest produziert, in die Läden kommen. Briefkästen sind voll mit Spendenaufrufen, die zur Mildtätigkeit auffordern, bei denen man oft nicht weiß, wohin das Geld geht. Es ist nicht möglich mit Kindern zwei Sendungen zu schauen und dazwischen unbeschadet die Werbung mit glorifiziertem Spielzeug zu umgehen. Die Vorstellungen des Nachwuchses gehen natürlich weit mit den realistischen Möglichkeiten der Eltern auseinander. Ehefrauen bekommen Schweißausbrüche, wenn sie überlegen, was sie in diesem Jahr wieder für ein liebloses Geschenk vom Gatten bekommen und Ehemänner überlegen mit welcher Schnapssorte sie den diesjährigen Besuch der Schwiegermutter überstehen sollen. Heerscharen von Jugendlichen entwickeln Strategiepläne, wie sie das Heile-Welt-Theater – drei Tage eingesperrt – überstehen sollen.

Restaurantbesitzer freuen sich zur Abwechslung. Die bekommen ihre Räume mit allen möglichen Weihnachtsessen voll und können bestens auskosten, dass die Betriebe doch allzu dringend noch einen Platz für ihre Feier brauchen. Unzählige Geschenke-Listen werden geschrieben, überarbeitet, verworfen, um dann doch am 24. in letzter Minute ein recht unpassendes Präsent zu bekommen. Was um Himmels willen schenkt man dem Kollegen, den man beim Wichteln gezogen, eigentlich gar nicht mag. Und spätestens bei der 15 Weihnachtskarte schreibt man den Text nur noch monoton ab und hofft, dass der Adressat die Lieblosigkeit nicht spüren kann, aber – die Form ist gewahrt. Schließlich hat man spätestens beim dritten Weihnachtsbasar der Kita, des Hortes, der Schule, keine Lust mehr einen Kuchen abzugeben, selbstverständlich als Spende, und dafür so komisch Selbstgebasteltes der eigenen Kinder für zu viel Geld zu kaufen.

So schlimm?

Warum machen wir’s dann?

Weil wir es immer schon so gewöhnt sind. Weil wir uns aus dieser Gesellschaft nicht lösen können. Weil wir den Gepflogenheiten Genüge tun wollen. Weil wir ja eigentlich doch daran hängen oder andere nicht enttäuschen wollen. Ganz tapfere erklären, dass sie sich in diesem Jahr vollkommen aus dem Trubel zurückziehen, hoffen auf bewundernde Anerkennung und ernten doch ein müdes Lächeln. Die Starken erklären „Wir schenken uns nichts!“, kriegen aber spitze Ohren, wenn andere von ihren neuen Schätzen berichten oder erzählen, was sie sich für liebevolle Besonderheiten haben einfallen lassen. Die Mutigen erzählen, dass sie die Weihnachtsgans schon im Hochsommer gebraten haben, die bei 28 Grad auf der Terrasse dann aber doch nicht so richtig schmeckte. Es passt einfach nicht.

Immer noch kein Protest? Bei mir schon. Bei so vielen Gründen gegen Weihnachten, habe ich schon allein aus Widerwillen, Lust darauf Weihnachten zu feiern. Denn ganz unzeitgemäß – bei allen Argumenten – ich liebe diese Zeit! Und gerne mache ich einen Bogen um alle Leute, die es mir schlecht reden möchten. Und ganz ehrlich, ich hoffe inständig, dass ich die Nachricht am Anfang niemals werde lesen müssen.

Ich bekenne mich zur Weihnacht!

Aus meiner Erinnerung: Ich liebte es, wenn es im Advent heimlich wurde. Meine Mutter verschwand stundenlang in ihrem Nähzimmer und wir wussten, dass sie etwas für uns machte. Mein Vater, der nie kochte, machte uns in der Weihnachtszeit die Bratäpfel im Ofen. Die hilflosen Versuche meiner Mutter alle Weihnachtsplätzchen bis Weihnachten zu retten – bei fünf Kindern unmöglich. Wir mussten noch tatsächlich zur Bescherung Gedichte aufsagen, was natürlich immer in letzter Minute von uns geübt wurde. Das Vorlesen der Weihnachtsgeschichte und die ruhigen Stunden am Morgen des 25. Dezember, wenn wir Zeit hatten noch einmal in Ruhe unsere Geschenke zu bewundern. Ich liebte alle Weihnachtsfeste, bei denen ich selber Mutter und diejenige war, die die Feste gestalten durfte. Ich liebe die heutigen Weihnachtsfeste, die von den fast erwachsenen Kindern beeinflusst werden.

Und auch die Erinnerung, an ein sehr freches Weihnachtsgedicht, dass ich aufsagte und den Missfallen meines Vaters auf mich zog, gehört dazu. Ebenso die Erinnerung an den Versuch einen vorbereiteten Plätzchenteig aus der Schüssel zu bekommen. Der war so fest geworden, dass er bei einer Flughöhe aus einem Meter auf Steinboden keine Schramme hatte. Jeder Keramiker wäre mir dankbar für das Rezept. Mein letzter Versuch Pfeffernüsse zu backen.

Was ist verkehrt an Weihnachten, oder überhaupt an Feiertagen, wenn Menschen, egal ob gläubig oder nicht, zur Ruhe kommen. Wenn die Zeit ein wenig angehalten wird und wir besinnlich werden. Wenn Menschen bereit sind, intensiver an andere zu denken und oft auch karikativ aktiv zu werden. Wenn Familien zusammenrücken und die Gelegenheit nutzen sich zu sehen, zu sprechen – sich aneinander zu erinnern. Sicherlich, das gute Argument, das wir das auch das ganze Jahr tun können, wird immer wieder aufgegriffen. Tun wir aber nicht, weil jeder doch zu sehr mit sich selber und seinen Lebensumständen beschäftigt ist.

Ich freue mich auf die Adventszeit mit vielen schönen kleinen Momenten, die mir ins Gedächtnis bringen, mal wieder dem ein oder anderen zu schreiben. Freue mich auf die Zeit mit meiner Familie. Freue mich auf meinen jährlichen Ohrwurm „Oh, du fröhliche …!“ und darauf meine selbstgemachte Krippe aus Ton wieder aufzustellen. Auch auf die hoffentlich erfolgreichen Versuche die Weihnachtssüßigkeiten vor dem Hund zu retten und der Katze klar zu machen, dass sie nichts im Weihnachtsbaum zu suchen hat. Den KollegInnen lege ich gerne einen Weihnachtsgruß hin. Die Schwiegermutter werde ich selber nach Hause holen. Meinen Jugendlichen alle nötigen Freiheiten über die Feiertage lassen. Weihnachtsbasare besuche ich gerne, genieße die Stimmung und freue mich auf Kerzenlicht.

Weihnachten darf nicht abgeschafft werden und auch die größten Kritiker müssen zugeben, dass in dieser Zeit viel Gutes entsteht, für das unter dem Jahr sonst wenig Raum ist. Jeder … der Atheist, der Religiöse, der Humanist hat etwas davon … und wenn es nur eine kleine Pause ist. Also, nicht nörgeln oder klagen, sondern für sich selber und andere schauen, was man Positives bewirken kann – daraus sollte ein Gesetz werden.

Generationswechsel …

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Ich gebe zu, dass ich diesbezüglich gedankenlos war oder blauäugig könnte man es auch nennen. Denke jedoch eher, ich wollte mich nicht damit auseinandersetzen. Wollte, dass es immer so bleibt, wie es ist. Ich wollte die Vorzüge genießen, erwachsen zu sein und dennoch hin und wieder in die Rolle des Kindes zurück schlüpfen zu dürfen. Wollte eigenständiges und freies Handeln und Entscheiden bewusst ausüben und mich trotzdem von den Älteren, den Menschen mit mehr Lebenserfahrung, beraten und mich von ihnen unterstützen lassen. So wie es immer war. Eine, wie ich finde, sehr angenehme Lebensphase, deren Endlichkeit nun absehbar ist. Ich muss endgültig erwachsen sein. Ein Generationswechsel steht uns bevor.

Abschiede kündigen sich an. Keine vorübergehenden, sondern endgültige Abschiede. Abschiede von Menschen, die mich mein Leben lang begleitet haben. Natürlich habe ich hin und wieder darüber nachgedacht, dass ich älter werde. Aber ich lege keinen besonderen Wert darauf, jung sein zu müssen, weshalb mir dieses Thema zwar bewusst, aber nicht wichtig ist. Ich genieße es sogar ein „gewisses“ Alter zu haben. Was ich dabei völlig außer acht gelassen habe ist, dass die Menschen um mich herum ebenso älter werden. Menschen, die immer für mich da waren. Menschen, die immer dazu gehörten und mit meinem Lebensweg eng verbunden sind. Wichtige Menschen für mich.

Vor 15 Jahren musste ich mich schon einmal damit auseinander setzen. Mein Vater starb innerhalb eines halben Jahres an Krebs. Das traf uns unvorbereitet und viel zu früh. Ich selber habe zwei Jahre gebraucht, bis ich wieder richtig auf den Füßen stand und das verkraftet hatte. Bereit war, mein Leben weithin ohne ihn anzunehmen und meine Wut, dass mein Großvater viel älter werden durfte als er, beizulegen. Mit der Zeit habe ich ein sehr tröstliches Verhältnis zu diesem Verlust aufbauen können und lasse mich weiterhin in Gedanken von ihm begleiten.

Nun kündigen sich weitere Abschiede an. Meine Schwiegermutter haben wir in den letzten Wochen wegen eines Infarkts und dessen Folgen in einem Seniorenheim bringen müssen. Wir sind froh, dass sie uns erkennt, nur Zeit und Raum gehören nicht mehr in ihre Welt. Wir können sie besuchen, mit ihr sprechen, sie sehen und in den Arm nehmen. In den Arm nehmen … etwas, was die gesunde Frau nur zögerlich zuließ. Ein langsamer Abschied von einer starken Frau. Und immer noch mit dieser neuen Familiensituation beschäftigt, erreichen uns die nächsten Nachrichten von Verwandten, die zur älteren Generation gehörend ihr Leben nicht mehr alleine führen können. Ein Onkel, der auch eine Pflegestufe benötigt und eine Tante, die einen längeren Krankenhausaufenthalt überstanden hat. Wir haben eine wirklich sehr große Familie … aber das reicht für’s erste an Nachrichten.

Erstaunlicherweise hat mich die Nachricht von der Tante so verstört und nachdenklich gemacht. Bei ihr und meinem Onkel habe ich meine erste Ausbildung gemacht. Sie hatte einen Verlag und er eine Werbeagentur. Ich lernte bei ihm und habe dort eine wirklich solide Grundlage für meinen Beruf bekommen. Das ist richtig viele Jahre her und ich war ihm immer dankbar und verbunden dafür. Das besondere daran ist heute, dass diese Tante und dieser Onkel 94 und 93 Jahre alt sind. Ein verheiratetes Paar, dass sich im Restaurant immer noch streitet, wer die Rechnung bezahlen darf. Als ich hörte, dass sie im Krankenhaus liegt und es anfänglich schlecht aussah, war ich erst erstaunt und dann fast empört. Meine Welt ohne sie  – für mich unvorstellbar. Im zweiten Moment erst merkte ich, dass meine Empörung völlig absurd ist. Sie sind 94 und 93 Jahre alt – wer darf das gemeinsam bei relativer Gesundheit erleben?

Ich muss mich bereit machen, mich trennen zu können. Muss akzeptieren, dass die Zeit ihren Tribut fordert und meinen eigenen Wunsch hinten anstellen, dass alles so bleibt, wie es ist. Muss für die anderen, die gehen müssen, bedenken, was das Beste für sie ist. Ich möchte meine Erinnerungen bewahren und einpacken, möglichst an einem Platz, wo sie sich mit der Zeit nicht verklären und ändern können. Und schließlich muss ich mich vorbereiten in ihre Reihen zu treten. In die Reihen der Ältesten der Gesellschaft, in denen wir diejenigen sein werden, die Halt, Zuversicht und Unterstützung geben. Letztlich muss ich mich der Verantwortung den Jüngeren gegenüber stellen und ihnen das bieten, was ich an den Älteren so liebe, die mich und meine Geschichte kennen. Ich muss mich bei ihnen nicht verstellen und verbiegen und sie geben mir den Halt, den speziell ich benötige. Den Halt, den ich künftig aus eigener Kraft aufbringen muss.

Das Schöne daran ist, dass ich das alles nicht alleine erleben muss. Ich habe einen Mann an der Seite, viele gleichaltrige Verwandte, Geschwister, Cousinen, Cousins und viele Freunde. Ich werde mich an die neue Rolle gewöhnen. Werde in Gedanken damit spielen, was der ein oder andere, der gehen muss oder musste, wohl für einen Rat gegeben hätte und mich an sie erinnern. Wir werden nun die Generation, die sich kümmert, die pflegt, regelt, entscheidet, trauert, erinnert und die letzten Reste des Kind-Seins aufgeben wird.

Generationen wechseln – natürlich – zur Zeit erlebe ich das sehr bewusst. Einerseits mag ich nicht so richtig daran denken, andererseits möchte ich es als Natürlichkeit annehmen. Ich kann es nicht aufhalten und weiß, dass es noch sehr oft weh tun wird. Und trotzdem, je mehr es mich beschäftigt, desto stärker wird mein Hunger auf’s Leben. Auf das Hier und Jetzt, meine Kinder und Familie, die Freunde, die Arbeit, das Lachen und die Neugierde, die mich jeden Morgen neu antreibt. Die Vorstellung, was diejenigen, die gehen werden, von mir erwarten würden, wird mein Antrieb sein. Lebensbejahend, positiv und optimistisch … bereit ihre Kinder und Kindeskinder zu stützen.