Wer braucht noch den Telefonhörer?

Foto: © brat82 - Fotolia.com

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Wenn ich mich als Kind auf den Weg machte und absehbar war, dass ich eine Zeit lang auf mich selbst gestellt bin, kam immer die Frage: „Hast du zwei Groschen dabei!“ Zwei Groschen brauchte man um im Fall der Fälle eine Telefonzelle zu finden und zuhause anzurufen. Wollte man hingegen zuhause telefonieren ging das nur sitzender oder stehender Weise neben dem einzigen Apparat im Haus. Eine recht ungemütliche Angelegenheit, da das dazugehörende Kabel sehr kurz war. Insbesondere in Zeiten der Pubertät ein äußerst lästiges Unterfangen. Sobald jemand in der Nähe war konnte er mithören – ausweichen oder mit dem Apparat wandern war unmöglich. Bei zuviel telefonierenden Teenagern im Haus besaß das Telefon oft ein kleines Schloss mit dem man die Wählscheibe nicht mehr drehen, also auch keine Nummer wählen konnte. Musste man ein Ferngespräch führen, wurde streng auf die Uhrzeit geachtet, da es ab 20.00 Uhr abends günstiger wurde zu telefonieren. Bei besonderen Feiertagen, beispielsweise Silvester, war langes Stehvermögen angesagt und man hatte Glück, wenn der Telefonapparat über eine Wahlwiederholungstaste verfügte, denn eine freie Leitung zu bekommen, war an solchen Tagen nicht selbstverständlich. Telefone waren in der Zeit reine Gebrauchsgegenstände. Die vorgegebene Modellwahl, quitsch-orange, dunkelgrün oder einheitsgrau, war sehr eingeschränkt und als Dekoration ungeeignet. Schöne alte Zeit – weit entfernt vom Komfort, den wir heute genießen.

Der technische Fortschritt legte insbesondere in den 1980er und ’90er Jahren ein rasantes Tempo vor. Dies sowohl in der Entwicklung der Computertechnik als auch der Mobiltelefone. Sowohl die ersten Computer als auch die ersten Mobiltelefone waren ungeeignet sie in der Hosentasche mit sich herumzutragen, doch das ist längst vergessen. Wir sind im Zeitalter der Laptops, Tablets und Smartphone angelangt. Design spielt eine große Rolle, besonders aber der Anspruch möglichst viel Technik in immer kleineren Geräten zu vereinigen. Ziel ist, immer und überall erreichbar, flexibel, handlungsfähig und online zu sein. Schöne neue Zeit mit allem Komfort.

Nicht nur die Technik hat sich geändert, auch das Kommunikationsverhalten der Nutzer. Wenn man bedenkt, dass Alexander Graham Bell 1876 das Patent auf das Telefon bekam, hat es noch einhundert Jahre gedauert, bis das erste Mobiltelefon 1973 durch Motorola vorgestellt wurde. Kaum mehr 50 Jahre später sind wir soweit dem Festnetz den sicheren Tod anzusagen. Das Internet hat in wenigen Jahren alles bisher dagewesene verändert und manch einer verweigert sich dieser rasanten Entwicklung. Immerhin – sprechen tun wir noch miteinander.

Das Telefonieren hat seinen hohen Stellenwert eingebüßt, trotz dem mehr Menschen als jemals zuvor Zugang zu einem Mobiltelefon haben. Die Möglichkeit zu telefonieren ist nicht der Hauptgrund dafür. Der findet sich in den vielen Messenger und Apps über die diese Geräte verfügen. Bevor ich jemanden anrufe, nicht erreichen oder stören könnte, schreibe ich eine SMS – Short Message Service – und kann in der Regel sicher sein, dass der Andere mein Begehren kennt. Gibt’s dazu Fragen, kann der ja anrufen oder eben auch eine SMS schreiben, was wahrscheinlicher ist. Wurden 2011 in Deutschland pro Tag noch 148 Millionen SMS verschickt, hat sich das Wort SMS auch schon wieder überholt. 2015 waren es „nur“ noch knapp 40 Millionen. Heute heißt es „Schreib mir über WhatsApp“ – was sich in 667 Millionen Nachrichten pro Tag widerspiegelt. Selbst der Verdacht auf eklatante Sicherheitsmängel und die Übernahme durch Facebook konnte den Messenger nicht aufhalten. Nicht nur meine Textnachrichten, auch Bilder, Videos, Sprachnachrichten und Standortübermittlungen, geben mir die Möglichkeit mich der Welt mitzuteilen.

Die Möglichkeit sich mitzuteilen bietet sich zudem im Internet. Nicht nur die vielen Sozialen Netzwerke, bei denen vorrangig Facebook, Google+, twitter oder Instagram (und viele, viele andere) zu nennen sind, auch Dienste wie zum Beispiel Skype eröffnen Möglichkeiten der Kommunikation von hohem Stellenwert. Man kann über das Internet nicht nur telefonieren, sondern sein Gegenüber in Echtzeit sehen. Verbringen Großeltern den Winter in warmen Ländern, bekommen sie die Entwicklung der Enkel live mit. Leben Verwandte in fremden Erdteilen, kann man den persönlichen Kontakt halten. Arbeitsbesprechungen lassen sich zwischen Partnern verschiedener Städte und Ländern via Bildschirm organisieren. Die Möglichkeiten sind – wie das Internet – unendlich.

Dies alles nun schöne neue Zeit zu nennen wäre etwas zu oberflächlich gedacht. Letztendlich zählt das gesprochene und geschriebene Wort, das gereifte Sprachvermögen und der sichere Umgang damit. Der Mensch kann ohne andere Menschen nicht leben und der soziale – reale – Kontakt muss gegeben bleiben, sonst verkümmert er. Viele Erwachsene denken gerne wehmütig an die schöne alte Zeit zurück, als sie sich verabreden mussten, um ihre Freunde zu sehen. Beklagen die ständige Erreichbarkeit heutzutage und führen gerne Beispiele an, die von Verbrechen – durch das Internet entstanden – erzählen. Die schöne alte Zeit ist Vergangenheit – ganz einfach vorbei. Es ist eine Frage der Relation und der eigenen Verhältnismäßigkeit geworden. Können sich Erwachsene der Entwicklung noch verweigern, ist das für Kinder und Jugendliche nicht mehr möglich. Sie wachsen mit der Technik und deren Möglichkeiten auf. Eltern sind besser beraten Kindern so früh als möglich den sicheren Umgang damit begleitet beizubringen, als zu verbieten und sie dann aus Unwissenheit und Angst den Tücken auszusetzen. Der reale Kontakt und Umgang muss dennoch gegeben bleiben, der durch die Möglichkeiten der modernen Kommunikation aufgewertet werden kann.

Die Form der Kommunikation ist so individuell wie der Charakter jedes einzelnen. Nicht der ist der Held, der im sozialen Netzwerk 563 „Freunde“ vorweisen kann, sondern der, den im realen Leben „die“ zwei, drei Freunde lebenslang begleiten. Trotzdem können Freundschaften über das Internet entstanden, eine unglaubliche Bereicherung sein und Kommunikation und Austausch fördern. Sorgsamer Umgang damit ist zwingend notwendig und öffentliche Kommunikation darf nicht als persönliche Frustabladestation genutzt werden. Gleichgültig was ich von mir gebe, jedes Wort, jede Äußerung, jeder Kommentar – ob gesprochen oder geschrieben – ist ein Ausdruck meiner persönlichen Visitenkarte! Und an diesem Punkt könnten sich nostalgische Erwachsene und moderne Kinder wunderbar ergänzen. Erwachsene, die den sicheren, höflichen, kommunikativen Umgang beherrschen, lassen sich von Kindern den sicheren, technischen, medialen Umgang zeigen. Eine Ergänzung, die jedem gedient – in der schönen neuen realen Welt.

Die zwei Groschen von früher wurden durch mein Handy abgelöst. Ein Handy dabei zu haben, bedeutet längst nicht mehr, dass ich nur telefonieren möchte. Es ist mit meinem E-Mail-Programm verbunden, meine Wettervorhersage, meine Kamera, das Fenster zum Internet mit allen verbundenen Netzwerken und ich komme an alle digitalen Arbeitsdateien – völlig gleichgültig wo ich mich aufhalte. Die App-Welt eröffnet vielfältige Möglichkeiten, die tägliche Erfordernisse zu unterstützt. Gehe ich spontan nach der Arbeit einkaufen, sichert mir eine vorherige Abfrage in der Familie, nichts zu vergessen. Via Messenger weiß ich fast lückenlos, wo sich meine Kinder aufhalten. Bin ich unterwegs, kann ich sofort auf dringende Anfragen reagieren und handeln. Und mich mitteilen, was immer mir auch gerade passiert. Ich persönlich, ein frühes ’60 Kind, würde die Zeit nicht zurück drehen wollen. Ich nutze diese modernen Möglichkeiten in vollen Zügen und lasse mich davon faszinieren. Das Festnetz-Telefon klingelt bei uns nur noch selten. Den Spruch „Da fällt mir doch fast der Telefonhörer aus der Hand!“, sprich: ich bin erstaunt über etwas, wird man Kindern bald erklären müssen. Und trotzdem schätze ich drei Dinge in meiner Kommunikation besonders: Den Stummschalter des Handys, den Ausschalter des Computers, eine reale Verabredung und Zeit mit meinem Gegenüber über Gott und die Welt zu reden. Kommunikation ist ja doch sehr viel mehr als jegliche Technik uns geben kann. Kommunikation ist Gestik, Mimik, Sprache, Gefühl, Ausdruck und vieles mehr – sehr menschliche Dinge, die man zum Glück in keine App quetschen kann.

Stadtteilzeitung Steglitz-Zehlendorf – Februar 2016

Die Februar-Ausgabe 2016 der Stadtteilzeitung beschäftigt sich mit dem Leitthema „Internet und Kommunikation“. Ab dem 1. Februar ist die Ausgabe hier online zu finden und an allen bekannten Auslagestellen. Alle Ausgaben der Stadtteilzeitung Steglitz-Zehlendorf von 2003 bis heute liegen im Archiv der Stadtteilzeitung.

Up-date 22. Januar 2016: Gerrit Jan Appel hat aufgrund dieses Beitrags einen ebenso lesenswerten auf seinem Blog  WORTGEPÜTTSCHER geschrieben. „Das Pferd frisst keinen Gurkensalat“ – Sehr lesenswert! 

Herzlichen Dank! 🙂

Helene Federbusch – Die Fahrkarte

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Kennt ihr Helene Federbusch? Wohl kaum. Müsst ihr auch nicht. Helene Federbusch gehört zu den unscheinbaren älteren Damen, die einfach da sind, aber niemandem auffallen. Helen oder besser Lene, wie sie immer genannt wurde, war im großen und ganzen mit ihrem Leben zufrieden. Aufregende Dinge um sie herum passierten selten und wenn, hatten sie nichts mit ihr persönlich zu tun. Das änderte sich im letzten Jahr kurz vor dem Jahreswechsel. Da gerieten ihre beschaulichen Tage etwas durcheinander und diese Geschichte möchte ich euch erzählen.

Lene fuhr mit dem Bus mit allerlei Taschen bepackt nach Hause. Sie hatte für das bevorstehenden lange Wochenende eingekauft. Silvester fiel auf einen Donnerstag, also war Freitag frei und Samstagvormittag wollte sie nicht noch einmal losgehen. So viel brauchte sie für sich alleine nicht, aber wenn schon Feiertage, wollte sie es sich gut gehen lassen. So saß sie im Bus und überlegte, was sie noch brauchte, ein paar Kleinigkeiten fehlten. Lene freute sich erstmal auf einen ruhigen Abend und morgen würde sie den Rest einkaufen. Sie wohnte in einer kleinen Siedlung, die sie liebevoll ihren „Platz für kleine Leute“ nannte. Sie hatte schon immer hier gewohnt, erst mit ihren Eltern, später mit ihrem Mann Ernst und nun alleine. Alle kannten Lene, alle grüßten sie, aber richtig kennen tat sie keiner. Sie wohnte links unten in einem Sechs-Parteien-Haus. Rechts unten wohnte ein Ehepaar, die Mayers. Links in der 1. Etage der junge Herr Vogel, dem sie immer die Hemden bügelte. Rechts daneben die Frau Seiters mit ihrer Tochter. Ganz oben links war Familie Eschhorst zuhause, Mutter, Vater und drei recht laute Kinder und daneben wohnte noch der alte Herr Geiger, fit wie ein Turnschuh. Alle im Haus grüßten sich und kamen gut miteinander aus, aber außer ein paar freundliche Worte hatten sie kaum Kontakt miteinander.

Ganz früher hatte Lene mit ihren Freunden auf dem Spielplatz zwischen den Häusern gespielt. Der Spielplatz war schon immer dort. Ihre Freunde von damals sind mit der Zeit fast alle weggezogen. Die letzten beiden, die blieben, waren Hermann und Renate. Hermann war vor ein paar Jahren auf den Friedhof umgezogen. Er wollte einfach nicht mehr, kein Wunder nach der langen Krankheit. Renate war immer ihre beste Freundin, schon vom Spielplatztagen an. Aber sie hatten sich vor zwei Jahren so gestritten, dass auch dieser Kontakt abgebrochen war. Renate hatte monatelang um ihren Mann Peter getrauert. Es war verständlich, aber kaum auszuhalten. Lene hatte immer gesagt, dass sie endlich anfangen sollte, wieder mal das Leben zu genießen. Renate wollte aber nicht. Und dann, von einem Tag auf den anderen, ging sie zur Kur und hatte danach tatsächlich einen Kur-Schatten. Von heute auf Morgen war sie verschwunden, nicht ohne Lene vorzuwerfen, wie langweilig doch ihr Leben sei. So eine Frechheit konnte Lene schwer verzeihen, soll sie doch glücklich werden und mit diesen Gedanken hätte sie fast ihre Haltestelle verpasst.

An der Haustür traf sie Herrn Vogel, der ihr freundlich die Tür aufhielt. Am Morgen würde er wieder den Korb mit den Hemden vor die Tür stellen, meinte er und verschwand. Lene ging mit ihren ganzen Tüten zur Wohnungstür, stellte sie dort ab und ging die drei Stufen zurück zum Briefkasten. Werbung, Werbung, Brief, Werbung, Brief, Werbung … Lene nahm den ganzen Stapel, schloss den Briefkasten und ging in ihre Wohnung. Dort verstaute sie den Einkauf, stellte die Heizung etwas höher ein und machte sich die Suppe vom Vortag warm. Im Schlafzimmer zog sie ihren Jogginganzug an, dazu die dicken Socken und ging wieder in die Küche. Die Suppe war warm und Lene setzte sich gemütlich an den Tisch und aß. Sie liebte diesen Moment, wenn sie nach einem langen Tag im Geschäft zuhause war, gemütlich essen konnte, über das ein oder andere nachdenken konnte und sich auf das Fernsehprogramm freute. Im Augenwinkel sah sie die Post auf dem Tisch liegen, schob die Werbung etwas zur Seite, zog den ersten Brief vor. Rentenversicherung … na, das hatte noch ein paar Tage Zeit. 1 ½ Jahre noch, dann hat sie es geschafft – der wohlverdiente Ruhestand, wie die Leute sagen. Sie zog den zweiten Brief vor, fand aber keinen Absender und auch keine Adresse. Bestimmt auch Werbung. Lene stand auf, räumte den Teller weg, nahm den Poststapel mit ins Wohnzimmer und setzte sich in ihren Sessel.

Im Fernsehen schaltete sie sich durch die Programme, bis sie an einer Sendung hängen blieb und schaute. Nach einer Weile, denn so spannend war das Programm nicht, zog sie die Post zu sich ran, öffnete den Rentenbrief, schaute sich die Werbung an und hielt zuletzt den Brief ohne Adresse und Absender in der Hand. Eigentlich soll man die ja gleich wegschmeißen. Zumindest hatte sie das oft gehört. Lene überlegte, war dann aber doch neugierig und öffnete ihn. Im Brief lag lediglich eine Fahrkarte, nichts Geschriebenes lag dabei. Kein sonstiger Hinweis, nur eine Fahrkarte ausgestellt auf den 31. Dezember, Regionalbahn mit dem Zielbahnhof Kratzeburg. Lene schaute lange auf die Fahrkarte. Sehr lange. In einer Ecke der Fahrkarte sah sie es dann – ein kleines krakelige geschriebenes „Trau dich!“

Das Fernsehprogramm nahm sie nun nicht mehr wahr, schaute sich weiter die Fahrkarte an und überlegt. „Wer macht denn sowas? Legt einfach eine Fahrkarte in meinen Briefkasten. Und was heißt hier „Trau dich?“ Die Fahrkarte sah richtig echt aus. Nur Hinfahrt, Umtausch ausgeschlossen, Barzahlung, Normalpreis, 1 Erwachsener, 26,90 Euro. 8:45 Uhr Berlin – 10:14 Uhr Kratzeburg, 0 Umsteigen, 1:29 h. Auf der Rückseite allerlei Kleingedrucktes, dass so wie immer aussah. Nichts Ungewöhnliches, nichts Besonderes, einfach eine normale Fahrkarte. „Ich wollte doch gar nicht verreisen“, überlegte sie weiter. „Unterschrieben hab’ ich auch nichts. Verabredet habe ich mich nicht.“ In ihrem Kopf ging alles durcheinander und zu einem richtigen Schluss kam sie nicht. Sie legte die Fahrkarte schließlich wieder auf den Poststapel und versuchte sich auf das Fernsehprogramm zu konzentrieren. Ging aber nicht so richtig, denn der Blick wanderte immer mal wieder zu der Fahrkarte. Lene schlief in dieser Nacht nicht richtig. Immer wieder wurde sie wach, hatte von früheren Reisen geträumt, musste etwas trinken oder drehte sich hin und her. Als es morgens Zeit zum Aufstehen war, war sie gerädert, aber der letzte Arbeitstag im Jahr stand nun mal an, also half kein Klagen. Beim Frühstück lag die Fahrkarte vor ihr. Natürlich hatte sie sich nicht verändert und besonders das „Trau dich!“ fiel Lene immer wieder ins Auge.

Auch im Bus auf dem Weg zur Arbeit dachte Lene viel über die Fahrkarte nach. Früher hatte sie viele Reisen gemacht, manche mit den Eltern und später viele Reisen mit ihrem Ernst. Ihr Ernst war immer der, der weg wollte und sich traute. Sie sind oft in den Zug gestiegen und hatten sich schöne Ziele in ganz Deutschland ausgesucht. Nie über eine Grenze, denn der Ernst bestand auf sein deutsches Essen. In Wirklichkeit hatte er Angst, dass ihn keiner versteht. Mit der Renate war sie auch ein paar Mal unterwegs, aber nur bis ihr Peter krank geworden ist. Danach war sie nicht mehr weg und auch ganz zufrieden so. Es konnte eigentlich nur eine Verwechslung sein. Bestimmt hatte der Briefbote die Briefkästen vertauscht. Sie überlegte auch immer wieder mal, ob sie sich trauen sollte. Nun, wenn es eine Verwechslung war, brauchte sie nicht weiter darüber zu grübeln. Am Abend würde sie einfach bei allen Leuten im Haus klingeln und durch die Blume fragen, ob sie eine Fahrkarte vermissen würden. … „Und wenn es keine Verwechslung ist?“, aber der Gedanke kam Lene erst als sie am Abend schon wieder im Bus nach Hause saß. Lene schob den Gedanken beiseite, kam nach Hause stellte die Heizung etwas höher, machte sich in der Küche etwas zu essen, aber zog ihren Jogginganzug nicht an. Im Jogginganzug bei fremden Leuten klingeln gehört sich nicht.

Als ihr Finger kurz vor dem Klingelknopf von Meyers war, wäre Lene am liebsten wieder umgedreht und in ihre Wohnung gegangen. Aber es musste ja sein. Sie klingelte und wartete, wartete, klingelte und wartete, klingelte ein drittes Mal, keiner machte auf. Die Meyers waren nicht da. Kurz war Lene verlockt wieder zurückzugehen, setzte dann aber doch den Fuß auf die erste Stufe. Herr Vogel machte nach dem Klingeln sofort auf, aber bevor Lene irgendetwas sagen konnte, fing der schon an zu reden: „Ja, ja, Frau Federbusch, ich hab den Wäschekorb vergessen. Aber ich fahre Morgen gleich früh mit dem Auto nach Hause zu den Eltern. Deshalb muss ich noch so viel packen und an alles denken. Morgen früh steht der Korb vor der Tür, ok?“ Und mit einem entwaffnenden Lächeln wünschte er einen schönen Abend und schloss die Tür. Mit einem stummen Nicken drehte Lene sich zu der Tür von Frau Seifert um. So richtig wollte ihr Finger wieder nicht den Klingelknopf drücken, aber da musste sie ja nun durch. Noch drei Versuche bis zur Bestätigung, dass die Fahrkarte eine Verwechslung war. Frau Seifert fing, wie sollte es anders sein, gleich mit ihrer Litanei an, dass früher alles viel besser war und Palaver, Palaver, Palaver … Lene wusste schon, warum sie hier so selten klingelte. Nach einer halben Stunde hatte sie es überstanden, wusste, dass sie Meyers schon seit drei Tagen verreist waren und Frau Seifert und ihre Tochter eine ganze Party mit 20 Leuten bei sich organisierten. „Das wird ja ein schöner Krach!“ dachte Lene auf dem Weg in die 2. Etage. Bei Familie Eschhorst bekam sie einen Vortrag, dass Familien mit drei Kindern nicht einfach mal so verreisen können. Herr Geiger entließ sie nach drei Gläsern Kirschwasser, guten Neujahrswünschen und dem vollständigen Bericht seiner neusten Liebelei aus der Nachbarschaft. Er würde garantiert nicht so schnell verreisen.

Lene stand in ihrem Wohnzimmer und goss sich das vierte Glas Kirschwasser ein. Nun war klar, dass sich der Briefbote nicht vertan hatte. „Was tun, Helene Federbusch?“ dachte sie sich und sank in ihren Sessel. Dort saß sie ziemlich lange. Fahrkarten einfach verfallen lassen, fand sie so gar nicht gut. Aber ohne zu wissen, wer oder ob jemand in Kratzeburg wartete, einfach losfahren, ohne den geringsten Schimmer, was das alles bedeutete? Alle Gedanken kamen und gingen, viele Erinnerungen zogen vorbei und einen richtigen Entschluss mochte sie nicht so richtig treffen. Irgendwann stand Lene einfach auf, holte einen kleinen alten Koffer aus der Abseite und packte Sachen für drei Tage. So konnte sie die Entscheidung noch bis Morgen verschieben. Koffer sind ja schnell auch wieder ausgepackt. Verderbliches im Kühlschrank packte sie ins Gefrierfach, prüfte alle Blumen nach der Feuchtigkeit, stellte den Wecker nur sicherheitshalber und schlief die ganze Nacht tief und fest.

Als Lene die Augen wieder auf machte, wusste sie sofort, dass sie sich jetzt entscheiden musste. Wie gerne hätte sie jetzt jemanden gehabt mit dem sie sich besprechen konnte. Eigentlich war sie richtig wütend, dass irgendwer sie überhaupt vor so eine Entscheidung stellte. Würde sie fahren, wüsste sie nicht, was sie erwartet. Würde sie bleiben, würde sie sich immer vorwerfen, dass sie es nicht zumindest versucht hätte. Sie würde weiter ihr ruhiges Leben führen, aber immer das Gefühl haben, dass dort etwas war, was sie hätte machen sollen. Lene schaute die Blumen auf der Tapete an, ihre Kommode, ihren Schrank, den kleinen Hocker. Die würden immer so bleiben, nichts würde sich ändern. Nur das Gefühl zu feige gewesen zu sein, das würde dazu kommen. Und so stand Lene auf, machte sich fertig, nahm den kleinen Koffer und war ohne weiteres Nachdenken auf dem Weg zum Bahnhof. Der Zug kam, sie stieg ein und fand einen ruhigen Fensterplatz. 1 ½ Stunden – dann wüsste sie, was diese Fahrkarte bedeuten würde. Der Schaffner kam und Lene gab ihm zögerlich die Fahrkarte. Könnte ja auch ein Fälschung sein, aber mit einem „Gute Fahrt!“ gab der Schaffner sie ihr zurück. In der nächsten Stunde musste Lene über all die Fahrten nachdenken, die sie in ihrem Leben gemacht hatte. Sie hatte vorher nie alleine in einem Zug gesessen. Sie überlegte, wie es gekommen war, dass sie nun alles alleine machte und ihr wurde bewusst, dass sie zwar zufrieden mit allem war, aber doch gerne jemanden an ihrer Seite wüsste. Nun, war halt nicht.

Nach 1 Stunde und 29 Minuten war die Fahrt für Lene zu Ende. Der Zug hielt, Lene stieg aus und gleich vor ihr stand ein Schild „Kratzeburg, Landkreis Mecklenburgische Seenplatte“. „Das ist ja ein ganz schön kleiner Ort hier“; dachte Lene und sah sich mit klammen Gefühl im Bauch um. Weitere Leute stiegen aus, andere ein, manche begrüßten sich und recht schnell wurden es immer weniger. Lene stand wie festgemeißelt auf ihrem Platz, schaute vorsichtig in fremde Gesichter, aber fand nichts, was ihr vertraut gewesen wäre. „Das war wohl nichts, Helene Federbusch!“ dachte sie gerade bei sich, als ihr jemand auf die Schulter tippte. Lene drehte sich um und schaute in ein Gesicht, dass sie kannte und doch nicht dort sein konnte. „Jetzt schau mich nicht an, als wäre ich ein Geist, Helene!“ Lene rührte sich nicht. „Ich habe dich so vermisst, aber ich wusste nicht, wie ich Entschuldigung sagen sollte.“ Lene rührte sich immer noch nicht. „Bist du denn immer noch böse auf mich?“ Lene hob ihre Arme und nahm die Frau, die vor ihr stand in den Arm. „Meine Renate, meine gute, alte Renate, oh, wie habe ich dich vermisst!“

Ein bisschen später sah man zwei ältere Damen am See sitzen, die quatschten und lachten als ob sie junge Mädchen wären. Sie kannten sich offensichtlich sehr lange und hatten viel zu erzählen. Lene dachte später sehr oft daran zurück. Jedes Mal, wenn sie Renate abholte, die wieder in ihrer alten Wohnung wohnte, und sie etwas Gemeinsames unternehmen wollten. Lene hatte verstanden, dass Renate ihre Zeit brauchte nachdem der Peter weg war. Lene hatte aber auch verstanden, dass man alte Freunde nicht so schnell aufgeben sollte. Und Lene hatte erfahren, dass so ein kleines bisschen Mut – nicht nur zum Jahreswechsel – doch sehr viel Schwung ins Leben bringt … ganz egal wie alt man ist!

Adventskalender … lebenslänglich

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Kinderkriegen ist – im Idealfall – eine bewusste Entscheidung. Immer, wenn ich jüngeren Menschen begegnet bin, die diese bewusste Entscheidung gerade erleben, habe ich naseweis wie ich bin, meinen Senf dazugegeben und bin meinen Standardsatz losgeworden: „Wer Kinder bekommt weiß, dass er für die nächsten 20 Jahre in der zweiten Reihe steht!“ Sprich, alles dafür tut, dass dieser Nachwuchs nach 20 Jahren selbstbewusst auf eigenen Beinen steht und alleine seinen Weg durchs Leben bewältigen kann. Man selber dabei eigene Bedürfnisse hinten anstellen muss, die dann – nach 20 Jahren – wieder aus dem Dornröschenschlaf erwachen dürfen. Daran habe ich natürlich geglaubt und entsprechend frohlockt, als das zweite Kind den 18. Geburtstag feierte und unser Erziehungsauftrag erfüllt war. 

Frohlockt habe ich allerdings nicht lange – die Realität hat mich ganz schnell eingeholt. Ziemlich wenige Tage nach diesem 18. Geburtstag erklärten mir meine nun „erwachsenen“ Kinder in wie vielen Tagen Weihnachten ist, und dass sie selbstverständlich einen Adventskalender erwarten. Auf meine Einwände (siehe oben) kam nur Protest, denn die Jüngere meinte, dass die Ältere immer zwei Jahre mehr Vorteile hätte und die Ältere war sich sicher, dass Mütter solche Leistungen zu erbringen hätten – schon allein bei Kindern, die im gemeinsamen Haushalt leben. Ich habe die Diskussion erst einmal abgebrochen, nicht ohne immer wieder nette Hinweise zu bekommen, wann die Adventskalender fertig sein müssen. Nur zur Erklärung: Meine Töchter essen offiziell keine Schokolade, was die 24-Türchen-Standard-Kalender von vornherein ausschließt und ich selber diesen Standard über die Jahre durch viel Selbstgebasteltes recht hoch gesetzt habe.

Dann habe ich einen Fehler gemacht: Als ich wieder einmal einen Denk-an-die-Kalender-Appell hinter mich gebracht hatte, habe ich in Facebook mutig in mein Facebook-Profil geschrieben „Volljährige Kinder sind zu alt für Adventskalender, oder? Das dürfen alle kommentieren außer Esther Oesinghaus“ Eigentlich hatte ich erwartet, das ein oder andere: „Ja, da hast du recht!“ zu bekommen (das meine Töchter lesen werden), aber weit gefehlt!

Erstmal zu Esther: Sie ist meine Kollegin und leitet bei uns die Verwaltung. Aber nicht nur das – darüber hinaus engagiert sie sich ehrenamtlich bei allen sich bietenden Gelegenheiten, in letzter Zeit speziell einer kleinen sozialen Boutique und der Flüchtlingsarbeit. Und weil das ja nicht reicht, engagiert sie sich besonders für alle Belange, ihre Familie betreffend. Das sollte ja normal sein, sind Frauen, sprich Mütter nun mal die wahren Organisationstalente. Das reicht meiner Kollegin Esther aber immer noch nicht: Jedes Jahr zu Weihnachten bekommt ihre Familie Adventskalender – selbstgemachte – alle – jeder einzelne – Mann, zwei Söhne, zwei Schwiegertöchter, zwei Enkelsöhne! Das sind sieben … und das erzählt sie mir jedes Jahr aufs neue natürlich mit einem strahlenden Lächeln, wahrer Begeisterung und ohne jegliche Ermüdungserscheinungen. So ist Esther! Ich wusste also, dass ich bei ihr mit meiner Facebook-Frage keinen Blumentopf gewinne und hab zumindest versucht sie bei den Kommentaren auszugrenzen. Hat natürlich nicht geklappt.

Was mich als „alten“ Facebook-Hasen wirklich erstaunt hat, war die Vehemenz und die Vielzahl der Kommentare, die dann meiner Frage folgten: „Definitiv – sie sind nicht zu alt!“ begann es und auf meine Frage, wann man zu alt ist, kam die Antwort, dafür nie zu alt zu sein. Dann meldete sich die frisch-volljährige Tochter mit einem #Adventskalenderfürvolljährige. Als wenn ich’s gewusst hätte meldete sich auf meinen Einwand, dass sie sich mit Esther abgesprochen hätten, auch tatsächlich Esther persönlich, die natürlich keinen Kommentar zurückhalten konnte: Niemals sind Kinder zu alt dafür, und dass ich aus der Nummer nicht mehr raus komme! Mein Protest, dass dieser Kommentar kontraproduktiv wäre und man Kinder entwöhnen müsse, brachte mir einen gewaschenen Kommentar ihrer (Esther’s) Schwiegertochter ein, die die Gelegenheit nutzte sich bei der Schwiegermama zu bedanken und die riesige Freude beschrieb, dass diese nicht nur die eigenen Kinder sondern auch die Schwiegertöchter bedenkt. An der Stelle habe ich schon angefangen meine Eingangsfrage zu bereuen, spätestens nach Esther’s nächstem Kommentar, war mir klar, dass ich auf verlorenem Posten saß – Zitat: „Siehe es mal so … deine sind doch noch so jung und bedürftig … meine sind fast 30 und ein bissl drüber … und immer noch bedürftig … wollen wir Ihnen denn wirklich dieses wundervolle Gefühl nehmen … morgens aufzustehen … die Kalendertür aufzumachen und ein Lächeln auf dem Gesicht zu haben, weil Ihre Mama an sie gedacht hat … und ihnen den Tag damit versüßt – Hä!“ Das abschließende „Hä!“ war ganz schön frech! 😉

Es wurde aber noch besser: Von der Feststellung, dass ich wohl nie wieder diese Frage stellen würde, bis zu einer Meldung, dass eine Schwester immer die Kalender verschenkt. … Ich habe versucht meine Schwestern zu Tausch anzubieten … hat aber auch nicht geklappt. Eine Freundin erzählte von dem Opa, der die Kalender immer macht, selbst meine Schwester kommentierte mit einem „NEVER!“ und ein Freund erzählte, dass die Gattin immer einen Kalender bereit hält. Selbst mit 50 sein man nie zu alt, eine Freundin der Töchter bekräftigte ebenfalls den Anspruch, auch der Hund würde einen bekommen und viele weitere Kommentare mehr … nur ein einziger Kommentar kam von einer mit mir fühlenden Mutter, die auch zugab, dass sie gleiches Vorhaben wie meins – Adventskalender abzusetzen – wohl schon bei der Ankündigung wieder aufgegeben habe. … Man beachte bitte, dass die Kommentare alle von erwachsenen Menschen kamen, die offensichtlich nie aufgehört haben, das Privileg einen Adventskalender zu öffnen, aufzugeben.

Das nennt man wohl einen Schuss, der nach hinten los ging. Gut – versucht habe ich es und eigentlich war von vornherein klar, dass ich damit nicht durchkomme! Natürlich habe ich mich rechtzeitig um die einzelnen Komponenten gekümmert, die notwendig sind, meinen Kindern den Wunsch zu erfüllen und so werden sie ab dem 1. Dezember jeden Tag eine Tüte öffnen. Ganz so leicht machen wir es ihnen aber dennoch nicht – die Kalender sind mit einem Rätsel gefüllt, das erst am 24.12. zum Tragen kommt – das kann ich hier natürlich noch nicht verraten. Dabei hat mir der Vater der Kinder wunderbar geholfen. Ich werde auf Esther’s Spuren wandeln, Spaß beim Basteln und der Vorstellung haben und – natürlich – zeitlich megaknapp zwei Adventskalender aufhängen. An den Vater werde ich auch denken – beim Hund aber streike ich … 24 Leckerlies aufzuhängen ist Blödsinn – die hat er in einer Sekunde gefressen! 😃

Etwas stimmt mich bei der ganzen Geschichte aber doch recht nachdenklich: Ich lese durch die Medien immer wieder, dass Valentinstag, Ostern, Halloween, der Weihnachtsmann gemachte Feiertage und Feste sind, die nur dem Kommerz und Emotions-Menschen nutzen – warum stehen die Adventskalender offensichtlich auf ganz anderem Posten? Vielleicht finde ich die Antwort, wenn ich – wie Esther – Schwiegersöhne und Enkelkinder habe … ein bisschen Zeit ist noch – die nächsten 20 Jahre – mit in der ersten Reihe! 😃

 

Ein Update zu diesem Beitrag am 9.12.2016:
Ich ändere nie einen Beitrag nachträglich – es sei den ich entdecke ein Fehlerchen. Aber dies möchte ich doch noch dazu erzählen. Ich bekam in Facebook und auch hier im Blog sehr viele Kommentare – offensichtlich hat jeder seine persönliche Adventskalender-Geschichte und Beziehung. Einzig Sabine Waldmann-Brun fragte, ob die Kinder wohl auch an die Mutter denken, wenn es um die Kalender geht. Als ich das verneinte, wurde sie selber aktiv und hat einen Kalender für mich persönlich gemalt, gebastelt und geschickt. Er ist so wunderschön, dass ich ihn hier zeigen möchte. Er wird künftig das ganze Jahr bei mir hängen und mich immer wieder daran erinnern, wie schön es ist, einfach mal so, etwas für einen anderen zu tun. Einen sehr herzlichen Dank an Sabine für diese große Freude – schaut euch ihre Bilder an – so wunderschön! 🙂

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Sie haben einfach nichts …

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Wer kleinen Kindern ein Kuscheltier oder Spielzeug in die Hand gibt, kann beobachten, dass sie sich mit ziemlicher Sicherheit schnell ablenken lassen und die Situation um sich herum vergessen. So auch der kleine Junge, vier Monate alt, den das Geschehen um ihn herum nicht mehr interessierte. Er saß fröhlich, beschäftigt und zufrieden in seinem neuen Kinderwagen. Von den Sorgen seiner Eltern weiß er nichts. Die waren vor weniger als einer Stunde in der Turnhalle angekommen. Mit dem Sohn auf dem Arm, den Sachen, an ihren Körpern und was sie in den Händen tragen konnten. Mehr nicht. Mehr haben sie nicht. Sie kommen aus einem fremden Land und sind Flüchtlinge.

Vorgeschichte: Zwei Tage vor Weihnachten wird die Nachricht bekannt, dass eine Turnhalle in unserer Nähe beschlagnahmt ist und zwischen Weihnachten und Neujahr bis zu 200 Flüchtlinge untergebracht werden. Es muss Hilfe organisiert werden und dies trotz der Feiertage ziemlich schnell. Klar ist, dass die Menschen, die ankommen werden, nichts weiter besitzen, als das was sie anhaben oder tragen können. Es ist eine doppelstöckige Halle, also zwei übereinander. Im oberen Teil werden mit einer Trennwand Betten aufgestellt. Einzelbetten oder Stockbetten. Die untere Halle wird vorerst nur mit Bierbänken und -tischen im hinteren Teil bestückt. Über alle verfügbaren Netzwerke wird von Thomas Mampel, Geschäftsführer des Stadtteilzentrums Steglitz e.V., ein Spendenaufruf veröffentlicht und mit viel Unterstützung auch geteilt und verbreitet. Die Spendenannahme wird von Veronika Mampel organisiert. Die Spenden werden im KiJuNa – Kinder-, Jugend- und Nachbarschaftszentrum abgegeben und gesammelt. Die Spendenbereitschaft am ersten Weihnachtsfeiertag ist überwältigend.

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Als die Annahmestelle das zweite Mal öffnet, kommen Einzelpersonen und mehrere Autos vollgepackt mit allem, was die Familien entbehren können. Es wird schnell klar, dass alles nicht mehr gelagert werden kann und kurzentschlossen stehen mehrere Frauen zur Verfügung. Die Wagen werden wieder vollgepackt und fahren zur Halle. Einige Frauen fahren zweimal. In der Halle ist es noch relativ ruhig. Da die Heizung über Weihnachten ausgefallen war, mussten die ersten 40 Flüchtlinge anderweitig untergebracht werden, wurden nun aber wieder zurückerwartet. Drei Spendenräume wurden vorbereitet, unterteilt in Frauenkleidung, Kinderkleidung und Herrenkleidung. Parallel dazu kamen die ersten Flüchtlinge wieder in die Halle.

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Die Spenden wurden nun angeboten und die Menschen kamen anfangs zögerlich. Trotz der großen Sprachbarriere gelang es mit „Händen und Füßen“, teilweise in Englisch, zu kommunizieren. Die Männer und Frauen schauten nach Kleidungsstücken, die passen könnten, gefielen, nützlich und warm waren. Ein Vater trug die ganze Zeit sein Baby auf dem Arm. Wir deuteten auf einen Kinderwagen, den er dankend annahm. Wir setzten das Kind in den Wagen und der Vater realisierte schnell, dass sich jemand gefunden hatten, der ihm das Kind abnahm. Er konnte suchen gehen. Nach einer Weile fand er einen besseren Wagen. Der erste, ein Buggy, war für ein vier Monate altes Kind eher ungeeignet. Wir betteten den Kleinen um, den das aber nicht weiter interessierte. Wieder nach einer Weile kam der Vater mit einem kleinen Schneeanzug und strahlte als er ihn über den Wagen hängte. Die Eltern suchten nach Kleidung, dennoch immer den Sohn im Blickwinkel.

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Es kamen Menschen, denen anzusehen war, dass sie aus unterschiedlichsten ethnischen Gruppen stammten. Männer, die zusammen sitzen mussten um einen Schlafplatz zugewiesen zu bekommen, bei denen man spürte, dass sie untereinander genauso skeptisch waren, wie der ganzen neuen Situation gegenüber. Ein Ehepaar, das ankam, mit nur einer Tüte in der Hand und sich nur an der Wand entlang schob, sich dabei kaum traute jemanden in die Augen zu schauen. Ein Mädchen, das nur Badelatschen an den Füßen hatte. Ein Junge, der in den Sachen zwei schöne, passende Turnschuhpaare fand und sich bei allem Glück darüber nicht entscheiden konnte, welches er nehmen sollte. Ein Mann, der eine passende Winterjacke fand und sich über ein zustimmendes Lob und Lächeln freute. In diesen zwei Stunden waren alle menschlichen Gefühle vertreten, die man sich überhaupt vorstellen kann. Als alle Helfer zusammen räumten, waren auch Flüchtlinge dabei, die sofort mit anfassten, Kisten trugen und Taschen aufhielten und füllten. Am Ende kamen die jungen Eltern und nahmen ihr Kind mit einem herzlichen Handschlag wieder in ihre Obhut.

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Beim der nächsten Spendenausgabe hatte sich die Situation in der Halle geändert. Es waren nicht mehr 40 Flüchtlinge, es waren 250 Menschen. Kurzfristig hatte man beschlossen die untere Halle zu teilen und weitere 50 Schlafplätze einzurichten. Auch die Stimmung hatte sich geändert – die Anspannung war überall zu spüren. Das machte sich selbstverständlich auch bei der Spendenausgabe bemerkbar. Nun war die Anforderung eine ganz andere, nun musste gelenkt, gerecht verteilt, vermittelt und geholfen werden. Mal war ein Handtuch gefordert, mal ein Schuhpaar für eine Frau, Unterwäsche oder Haarwaschmittel. Oft mussten wir sagen, dass wir das ein oder andere nicht mehr haben. Mit allen Möglichkeiten vermitteln, dass wir versuchen uns zu kümmern. Nachdenken war in den zwei Stunden der Spendenausgabe nicht möglich und die Zeit nicht wahrnehmbar, so schnell war es wieder vorbei.

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Die Menschen, die in dieser Notunterkunft untergebracht sind, kommen aus Bosnien, Albanien, Tschetschenien, Irak, Syrien, Afghanistan und anderen Ländern. Diese Menschen haben nichts. Nicht einmal eine Perspektive. Sie wissen nur, dass sie die nächsten drei Monate in dieser Halle bleiben werden, so lange bis ihr Aufenthaltsstatus fest steht. Sie schlafen in einer Halle ohne die geringste Möglichkeit einen Hauch von Privatsphäre zu erleben. Ohne zu wissen, wo sie in drei Monaten sein werden, ob sie überhaupt bleiben dürfen oder wie es überhaupt weiter geht. Sie müssen sich sanitäre Anlagen teilen, die selbst für Schul- und Vereinssport dürftig sind. Sie wissen nicht, wann, wie und wo sie wieder ein Teil einer Gemeinschaft sein werden, in der sie sich wohlfühlen und sich ihre Kinder frei entwickeln können.

Sie haben einfach nichts – was man nicht oft genug betonen kann. Und vor allen Dingen: Sie wissen nichts von der Skepsis, die ihnen hier entgegen kommt. Nichts von Anwohner-Problemen; nichts von Schulen und Vereinen, die plötzlich keine Halle mehr haben; nichts von Kommunikationsschwierigkeiten zwischen den Instanzen; nichts von Pegida, AfD oder Konsorten. Diese Menschen wollen ganz einfach überleben und bestmöglich die nächsten Tage überstehen.

Das beste Mittel diese Menschen und diese Situation zu verstehen: Helfen Sie einmal bei der Spendenausgabe mit. Gelegenheit dazu wird es immer dienstags und donnerstags geben. Auf der Homepage und dem Blog des Stadtteilzentrum Steglitz e.V. finden Sie die nötigen Informationen, auch wie Sie sonst noch helfen können. Oder Sie schreiben eine E-Mail an helfen@sz-s.de. Eine weitere Möglichkeit sich vielfältig in der Flüchtlingshilfe zu engagieren ist das Willkommensbündnis Steglitz-Zehlendorf. Es bietet Möglichkeiten sich ehrenamtlich zum Beispiel bei Freizeitaktivitäten, Deutschunterricht, Unterstützung bei Behördengängen, der Übernahme von Patenschaften und anderem mit Tatkraft, Erfahrung und eigenen Kompetenzen einzubringen. In dieser Halle geht es um Menschlichkeit und unsere Pflicht zu helfen, unabhängig und unbedeutend von unserer persönlichen Einstellung, politischen Haltung oder Skepsis vor dem Unbekannten.

Wenn Sie nach Hause gehen, werden Sie sich unweigerlich die Frage stellen, wie es Ihnen in dieser Situation gehen würde. Sie werden unendlich dankbar nach Hause gehen. Dankbar für ein Lächeln, dass Sie geschenkt bekamen. Dankbar, dass Sie helfen konnten und dankbar für das Zuhause, in das Sie zurückkehren können. Der kleine vier Monate alte Junge wird vielleicht auch dankbar sein, wenn ihm seine Eltern einmal erzählen können, wie sie in diesem Land aufgenommen wurden.

Weihnachten wird abgeschafft!

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„Das neue Gesetz zur Regelung christlicher Feiertage wurde heute in dritter Lesung vom Bundestag verabschiedet und wird nun dem Bundesrat zur Zustimmung zugeleitet. Gegenstand der neuen Gesetzgebung ist die bundesweite Abschaffung der christlichen Feiertage. Nach Zustimmung im Bundesrat wird es nur noch einen bundeseinheitlichen Feiertag, den Tag der Deutschen Einheit, geben.“ Eine Nachricht, die der Gleichstellung aller Religionsgemeinschaften in Deutschland entgegen kommt und schon lange überfällig ist. Religiöse Feste werden nur noch innerhalb der Gemeinden und an Wochenenden gefeiert. Religionsunterricht muss dem Lebenskunde-Unterricht aus den Schulen weichen. Soziale Aufgaben christlicher Arbeitsgemeinschaften und Verbände werden an freie Träger übergeben.

Der erste Advent steht bevor und Deutschland stöhnt unter der Last der bevorstehenden Feiertage. Es wird gemault und geklagt, was das Zeug hält. Wem kein Grund zum Schimpfen einfällt, klagt mindestens darüber, dass es wieder keine weiße Weihnacht geben wird. Seit Wochen schimpfen die Menschen, dass neben den Halloween-Sachen schon die Weihnachtssüßigkeiten standen. Es wird über zu volle Einkaufspassagen geklagt und über Billigwaren, die eigens zum Fest produziert, in die Läden kommen. Briefkästen sind voll mit Spendenaufrufen, die zur Mildtätigkeit auffordern, bei denen man oft nicht weiß, wohin das Geld geht. Es ist nicht möglich mit Kindern zwei Sendungen zu schauen und dazwischen unbeschadet die Werbung mit glorifiziertem Spielzeug zu umgehen. Die Vorstellungen des Nachwuchses gehen natürlich weit mit den realistischen Möglichkeiten der Eltern auseinander. Ehefrauen bekommen Schweißausbrüche, wenn sie überlegen, was sie in diesem Jahr wieder für ein liebloses Geschenk vom Gatten bekommen und Ehemänner überlegen mit welcher Schnapssorte sie den diesjährigen Besuch der Schwiegermutter überstehen sollen. Heerscharen von Jugendlichen entwickeln Strategiepläne, wie sie das Heile-Welt-Theater – drei Tage eingesperrt – überstehen sollen.

Restaurantbesitzer freuen sich zur Abwechslung. Die bekommen ihre Räume mit allen möglichen Weihnachtsessen voll und können bestens auskosten, dass die Betriebe doch allzu dringend noch einen Platz für ihre Feier brauchen. Unzählige Geschenke-Listen werden geschrieben, überarbeitet, verworfen, um dann doch am 24. in letzter Minute ein recht unpassendes Präsent zu bekommen. Was um Himmels willen schenkt man dem Kollegen, den man beim Wichteln gezogen, eigentlich gar nicht mag. Und spätestens bei der 15 Weihnachtskarte schreibt man den Text nur noch monoton ab und hofft, dass der Adressat die Lieblosigkeit nicht spüren kann, aber – die Form ist gewahrt. Schließlich hat man spätestens beim dritten Weihnachtsbasar der Kita, des Hortes, der Schule, keine Lust mehr einen Kuchen abzugeben, selbstverständlich als Spende, und dafür so komisch Selbstgebasteltes der eigenen Kinder für zu viel Geld zu kaufen.

So schlimm?

Warum machen wir’s dann?

Weil wir es immer schon so gewöhnt sind. Weil wir uns aus dieser Gesellschaft nicht lösen können. Weil wir den Gepflogenheiten Genüge tun wollen. Weil wir ja eigentlich doch daran hängen oder andere nicht enttäuschen wollen. Ganz tapfere erklären, dass sie sich in diesem Jahr vollkommen aus dem Trubel zurückziehen, hoffen auf bewundernde Anerkennung und ernten doch ein müdes Lächeln. Die Starken erklären „Wir schenken uns nichts!“, kriegen aber spitze Ohren, wenn andere von ihren neuen Schätzen berichten oder erzählen, was sie sich für liebevolle Besonderheiten haben einfallen lassen. Die Mutigen erzählen, dass sie die Weihnachtsgans schon im Hochsommer gebraten haben, die bei 28 Grad auf der Terrasse dann aber doch nicht so richtig schmeckte. Es passt einfach nicht.

Immer noch kein Protest? Bei mir schon. Bei so vielen Gründen gegen Weihnachten, habe ich schon allein aus Widerwillen, Lust darauf Weihnachten zu feiern. Denn ganz unzeitgemäß – bei allen Argumenten – ich liebe diese Zeit! Und gerne mache ich einen Bogen um alle Leute, die es mir schlecht reden möchten. Und ganz ehrlich, ich hoffe inständig, dass ich die Nachricht am Anfang niemals werde lesen müssen.

Ich bekenne mich zur Weihnacht!

Aus meiner Erinnerung: Ich liebte es, wenn es im Advent heimlich wurde. Meine Mutter verschwand stundenlang in ihrem Nähzimmer und wir wussten, dass sie etwas für uns machte. Mein Vater, der nie kochte, machte uns in der Weihnachtszeit die Bratäpfel im Ofen. Die hilflosen Versuche meiner Mutter alle Weihnachtsplätzchen bis Weihnachten zu retten – bei fünf Kindern unmöglich. Wir mussten noch tatsächlich zur Bescherung Gedichte aufsagen, was natürlich immer in letzter Minute von uns geübt wurde. Das Vorlesen der Weihnachtsgeschichte und die ruhigen Stunden am Morgen des 25. Dezember, wenn wir Zeit hatten noch einmal in Ruhe unsere Geschenke zu bewundern. Ich liebte alle Weihnachtsfeste, bei denen ich selber Mutter und diejenige war, die die Feste gestalten durfte. Ich liebe die heutigen Weihnachtsfeste, die von den fast erwachsenen Kindern beeinflusst werden.

Und auch die Erinnerung, an ein sehr freches Weihnachtsgedicht, dass ich aufsagte und den Missfallen meines Vaters auf mich zog, gehört dazu. Ebenso die Erinnerung an den Versuch einen vorbereiteten Plätzchenteig aus der Schüssel zu bekommen. Der war so fest geworden, dass er bei einer Flughöhe aus einem Meter auf Steinboden keine Schramme hatte. Jeder Keramiker wäre mir dankbar für das Rezept. Mein letzter Versuch Pfeffernüsse zu backen.

Was ist verkehrt an Weihnachten, oder überhaupt an Feiertagen, wenn Menschen, egal ob gläubig oder nicht, zur Ruhe kommen. Wenn die Zeit ein wenig angehalten wird und wir besinnlich werden. Wenn Menschen bereit sind, intensiver an andere zu denken und oft auch karikativ aktiv zu werden. Wenn Familien zusammenrücken und die Gelegenheit nutzen sich zu sehen, zu sprechen – sich aneinander zu erinnern. Sicherlich, das gute Argument, das wir das auch das ganze Jahr tun können, wird immer wieder aufgegriffen. Tun wir aber nicht, weil jeder doch zu sehr mit sich selber und seinen Lebensumständen beschäftigt ist.

Ich freue mich auf die Adventszeit mit vielen schönen kleinen Momenten, die mir ins Gedächtnis bringen, mal wieder dem ein oder anderen zu schreiben. Freue mich auf die Zeit mit meiner Familie. Freue mich auf meinen jährlichen Ohrwurm „Oh, du fröhliche …!“ und darauf meine selbstgemachte Krippe aus Ton wieder aufzustellen. Auch auf die hoffentlich erfolgreichen Versuche die Weihnachtssüßigkeiten vor dem Hund zu retten und der Katze klar zu machen, dass sie nichts im Weihnachtsbaum zu suchen hat. Den KollegInnen lege ich gerne einen Weihnachtsgruß hin. Die Schwiegermutter werde ich selber nach Hause holen. Meinen Jugendlichen alle nötigen Freiheiten über die Feiertage lassen. Weihnachtsbasare besuche ich gerne, genieße die Stimmung und freue mich auf Kerzenlicht.

Weihnachten darf nicht abgeschafft werden und auch die größten Kritiker müssen zugeben, dass in dieser Zeit viel Gutes entsteht, für das unter dem Jahr sonst wenig Raum ist. Jeder … der Atheist, der Religiöse, der Humanist hat etwas davon … und wenn es nur eine kleine Pause ist. Also, nicht nörgeln oder klagen, sondern für sich selber und andere schauen, was man Positives bewirken kann – daraus sollte ein Gesetz werden.

Feiertage … und der Osterhase kommt ja doch!

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Es ist immer wieder das Gleiche. Gefühlt ist der Weihnachtsbraten gerade erst verdaut, die letzte Silvesterrakete abgeschossen und schon entdecken wir im Supermarktregal den ersten Osterhasen. Dankbar registrieren wir die freundliche Erinnerung, dass die nächsten Festtagsbraten in ein paar Wochen wieder auf dem Tisch stehen. Vorerst dürfen wir es noch gewissenlos verdrängen, denn an Valentinstag und Fasching erinnert uns der Handel ja auch noch rechtzeitig. Aber es kommt – das Osterfest.

Die Auferstehung Jesu Christi von den Toten wird mit diesem wichtigstem und ältesten Fest der Christen gefeiert. Das Datum des beweglichen Feiertages variiert zwischen dem 21. März und dem 25. April nach dem ersten Sonntag des ersten Frühlingsvollmondes. Dies muss man nicht ausrechnen oder wissen. Spätestens wenn im Vorjahr die Urlaubspläne eingereicht werden müssen oder Ferienziele geplant werden, ist das Datum in jedermanns Gedächtnis. Und sowieso – wer vergisst schon, wenn ein paar entspannte Feiertage genossen werden können. Der Karfreitag und Ostermontag rahmen den Ostersonntag so wunderbar ein, dass gleich vier freie Tage zur Verfügung stehen.

Für alle christlichen Konfessionen ist das Osterfest das wichtigste im ganzen Kirchenjahr. Beginnend mit Gründonnerstag über Karfreitag, dem Karsamstag, Ostersonntag und Ostermontag wird es von den Christen wie ein einziger Gottesdienst gefeiert. Dies über den ganzen Globus verteilt. Aber auch die anderen, die Atheisten, Humanisten, Anders- oder Nicht-Gläubige dürfen indirekt in den Genuss dieses Festes kommen und sei es nur durch die freien Tage. Der Handel steht still, Büros und Ämter sind geschlossen – wir dürfen innehalten.

Es stellt sich vehement die Frage nach der Sinnhaftigkeit dieser Feiertage. Anders als im Mittelalter ist die Zugehörigkeit wie auch die Hörigkeit zur Kirche nicht mehr der allein glücklich machende Weg für die Menschen. Der Mensch bekam das Buch zur Hand, die Übersetzung, konnte verstehen, wurde aufgeklärt, durfte selber denken und, ganz fatal, selber entscheiden, ob er mit oder ohne Kirche und Glauben leben will. Wir haben die Wahl – zu glauben oder auch nicht. Keine Wahl jedoch beim Feiertag, den dürfen wir, gewollt oder nicht, alle genießen. Hinzu kommt die Durchmischung der Nation mit Menschen aus aller Herren Länder und damit auch Religionen. Die werden schon gar nicht gefragt, ob sie diesen Feiertag brauchen oder gar feiern möchten. Und sicherlich hat der ein oder andere Statistiker großer Wirtschaftskonzerne ausgerechnet, welcher Gewinn zu erzielen wäre, würde man die lästigen Feiertage abschaffen.

Aber halten wir an – so einfach geht’s nicht. Der Mensch ist ein soziales Wesen und kann nur bestehen, wenn die Mischung zwischen Aktiv- und Ruhephasen ausgeglichen ist. Das erkannte man schon gegen Ende des 19. Jahrhunderts, als die Industrialisierung die Menschen auszubeuten begann. Die Sozialgesetze stellten den Beginn in eine Arbeitswelt dar, die den Menschen entgegen kommt und gesundheitlich förderlich ist. Denn wir sind, zum Glück, keine Maschinen, die unentwegt produzieren und Leistung erbringen können. Den Gedanken sollten wir gerade heute wieder aufleben lassen. Zu sehr und an zu vielen Ecken wird gespart und reduziert.

Unabhängig davon, ob wir glauben oder nicht, brauchen wir Zeit für uns, unsere Familien und Freunde. Zeit um Luft zu holen. Zeit für Ruhe und schöne Dinge. Zeit zum Auftanken. Der Takt in den Familien geht immer schneller. Oft müssen Mutter wie Vater arbeiten um den Unterhalt für die Familie aufrecht zu erhalten. Die Kinder stecken zwischen Schule und Freizeitveranstaltungen fest. Es fehlt die Gemeinsamkeit.

Und letztendlich … wer will dem kleinen Knirps erklären, dass es den Osterhasen nicht gibt? Gehen wir einmal in einen Kindergarten, einen Hort oder ein Jugendhaus. Schauen wir uns an, mit welcher Hingabe selbst größere Kinder kleine bemalte Kunstwerke schaffen, Dekorationen basteln, Ostergrüße gestalten. Schauen wir in das Gesicht einer Großmutter, die ein kleines Ostergeschenk vom Enkelkind bekommt und sich freut. Überlegen wir einmal, wie gut es riecht, wenn wir  kurz davor sind den Osterbraten zu essen. Und auch, wie beruhigen sich die Kirchenglocken anhören, die zum Gottesdienst rufen. Es macht Sinn, wenn die Welt sich ab und zu besinnt. Denn letztendlich ist der stichhaltige Beweis, dass es den Osterhasen nicht gibt, nicht erbracht.

Leitartikel der Homepage des Stadtteilzentrum Steglitz e.V.
vom 21. April 2014

Frohe Ostern!