Jeder wie er will – analog vs. digital

annaschmidt-berlin.com_analog-vs-digital_pixabayEin kleines Mädchen sitzt unter einem Tisch und schneidet gedankenverloren in einem alten Werbekatalog Figuren aus, die es immer wieder neu arrangiert und damit spielt. Ein anderes Kind sitzt gemütlich in der Sofaecke und versucht auf seinem Tablet vier gleichfarbige Spielsteine in eine Reihe zu bekommen, um den nächsten Level zu erreichen. Beide Kinder tun unterm Strich das gleiche – sie spielen. Die eine Frau schreibt eine Geburtstagskarte per Hand, eine andere schreibt zum Geburtstag eine E-Mail, der sie ein schönes Bild anhängt. Auch sie vollziehen die gleiche Handlung – das Schreiben. Der eine Mann hat einen dicken Schmöker vor sich liegen und ist glücklich, dass er bald mit Seite 426 die Mitte des Buches erreicht hat, der andere hat die Schrift auf seinem eBook-Reader groß gestellt, weil er eigentlich zu müde zum Lesen ist, der Inhalt ihn aber nicht loslässt. Im Mittelpunkt steht das Lesen. Drei gleichwertige Handlungen werden ausgeführt, die sich allein in der Art unterscheiden, ob sie analog, also direkt, oder digital, mittels Elektronik, bewerkstelligt werden. Soweit ist alles in Ordnung, bis man zu der Frage kommt, was besser ist.

Besser oder schlechter ist in diesem Zusammenhang eher die falsche Frage, weil es keine klare Antwort geben kann. Es ist eher eine Frage des Weges, eine Handlung zu erlernen und dafür elektronische Hilfsmittel einzusetzen. Hinzu kommt die Verhältnismäßigkeit zu den Möglichkeiten, die sich daraus ergeben. Kinder haben es beispielsweise leichter, die Uhrzeit mittels digitaler Zahlen zu lernen. Ganz verstehen tuen sie die 12-Stunden-Taktung unserer Uhrzeit jedoch erst sehr viel später. Kinder, die einen geduldigen Erwachsenen neben sich haben, der sich die Mühe macht, mit ihnen als erstes die analoge Uhr zu lernen, haben schneller die Möglichkeit das System der 12 Stunden, Vormittag, Nachmittag, Tag und Nacht zu begreifen. Ein beliebtes Beispiel ist immer wieder die Mathematik: Wenn ich das
Prinzip der Kaufmannsrechnung begriffen habe, kann ich auch verstehen, was mein Taschenrechner eigentlich macht. Natürlich ist der Taschenrechner vordergründig der weitaus bequemere Weg, zur Lösung zu kommen, nimmt dem Kopf den Denkprozess jedoch ab und ist somit letztlich kontraproduktiv.

Es ist wichtig, jegliche Handlung, die für uns eine Rolle spielt, auf konventionelle Weise zu erlernen, um verstehen zu können, was elektronische Hilfsmittel uns abnehmen und erleichtern können. Ist dieses Verstehen die Basis sie einzusetzen und bin ich in der Lage auch ohne sie auszukommen, kann ich die Vorzüge, die sich daraus ergeben in vollem Maße einsetzen und ausschöpfen. Gerade dies gilt ganz speziell für das kindliche Lernen. Erst muss das „Was und Wie“ gelernt werden, bevor das „Wie geht‘s leichter“ genutzt werden kann. Und genau an diesem Punkt machen viele Erwachsene heute einen entscheidenden Fehler: Was von der elektroniklosen Kindergeneration in vielen Jahren bis heute erlernt werden konnte, lernen Kinder heute in einem Tempo, dem Erwachsene kaum mehr standhalten können. Kinder müssen heutzutage wissen, wie ein Computer, ein Tablet, ein Smartphone funktioniert. Vor dem steht jedoch das Begreifen, was diese Geräte können und uns ermöglichen. So können sie, sinnvoll eingesetzt, eine große Ergänzung des konventionellen Lernens sein. Kinder spielen und lernen heute anders und eine Welt ohne elektronische Geräte wird es nie wieder geben.

Hier kommt die Verhältnismäßigkeit ins Spiel: Ein Kind, das im Dialog mit den Eltern den Umgang mit Smartphone und Co. erlernt, ist sicher. Es weiß, was es tut, kennt Internet-Fallen, kann offen mit Eltern kommunizieren, was es beschäftigt. Ein Kind, das alleine gelassen die Geräte erforscht, drückt schnell einen falschen Button oder kennt keine zeitlichen Grenzen bzw. den Aus-Schalter der Geräte. Aufmerksame Eltern erlauben und begleiten den Umgang mit den Geräten, sorgen aber gleichzeitig für genügend Ausgleich in der Natur, beim Sport oder bei Freunden. Ein gut geschultes Kind weiß, dass die Milch von der Kuh und nicht aus der Destillationsanlage kommt, es aber im Internet alles über das Thema „Milch“ für das nächste Schulreferat findet.

Erwachsene haben es da schon einfacher. Sie hatten keine andere Wahl, als alles Wissen von der Pike auf zu erlernen. Ein Taschenrechner war für die 60er Jahrgänge schon ein Luxus, doch durfte wenn überhaupt nur der Rechenschieber im Unterricht benutzt werden. Computer und Co. nahmen erst Mitte der 80er Jahre ihren Feldzug durch die Gesellschaft auf. Was heute selbstverständlich ist, war früher kaum denkbar und noch immer gibt es Anhänger der „Irgendwann-ist-das-Internet-kaputt!“-Fraktion. Ist es nicht und kaum ein Lebensbereich ist nicht von Apps, Internetseiten und elektronischen Hilfsmittel frei. Aber – wir haben die Wahl. Ist der Eierkocher bequemer als das punktgenaue Kochen des Frühstücksei‘s im Kochtopf, trockne ich die Haar mit dem Föhn oder warte ein paar Minuten bis sich die Sache von selbst erledigt hat. Verlasse ich mich auf die Pünktlichkeit meines Kindes zum Abendessen oder kontrolliere ich rund um die Uhr, wo es sich aufhält via Smartphone-App. Tätige ich eine Überweisung online oder werfe ich den Überweisungsträger in den Briefkasten der Bank. Viele administrative Bereich kommen ohne Elektronik überhaupt nicht mehr aus. Einen Flug buchen, einen Termin beim Amt bekommen, die Lichtanlage des PKWs reparieren … dumm, wenn die konventionelle Art der Erledigung unmöglich bzw. schwer gemacht wird.

Sicherlich, wir haben durch den Einzug der Elektronik in unser Leben viel Nostalgisches verloren. Wir haben aber auch sehr viel gewonnen – was man schlicht Fortschritt nennt. Die Weltgeschichte hat sich nie rückwärts entwickelt, weshalb wir keine Wahl haben, als uns diesen Dingen zu stellen. Allein das Maß dessen, was wir mitmachen, bestimmen wir, tragen es mit oder schließen uns bewusst in manchen Prozessen aus. Die Welt ist in unser Wohnzimmer gekommen und so sind es neue Erfordernisse, die wir – gleichgültig ob Kind oder Erwachsener lernen müssen. Wir müssen Nachrichten in einer nie da gewesenen Fülle aushalten, sortieren und selektieren. Den Umgang mit Information ganz neu erlernen, sehen aber auch Teile der Welt, die uns bisher verschlossen waren. Wichtig geworden ist der Umgang mit persönlichen Daten, der Wahl der Informationsquellen, der Art und Weise wie wir kommunizieren und vieles mehr. Ausnahmslos jeder hinterlässt digitale Spuren, allein als Steuernummer oder Bankkunde … jede einzelne Spur ist eine Art Visitenkarte. Wie die aussieht – analog oder digital – haben nur wir selber in der Hand – löschen lässt sie sich nur schwer!

Ein Beitrag aus dem Magazin „Im Mittelpunkt“
des Stadtteilzentrum Steglitz e.V.
Erhältlich im iTunes-Store oder hier als interaktives Pdf

Ich hab’s verstanden, Frau Giese!

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„Wenn man ein Kind bekommt, steht man in den nächsten 20 Jahren in der zweiten Reihe!“ Das war immer mein Lieblingssatz bei Diskussionen, in denen es darum ging, was Mütter alles für ihren Nachwuchs tun und aufgeben. Wir sind im Schnitt 20 Jahre die Hauptversorgungsquelle für unsere Kinder. Jahre in denen wir mehr oder weniger eigene Bedürfnisse hinten anstellen (müssen). Eine Zeit in der wir alles tun, um unsere Kinder (nach unserer Vorstellung) gut zu erziehen und auf ihr eigenständiges Leben vorbereiten. Das diese 20 Jahre auch ein Ende haben, habe ich bisher nicht wirklich bedacht. Das hat mir jetzt Frau Giese klar gemacht.

Die Geschichte hat mit ganz vielen E-Mails angefangen. Das Töchterchen brauchte ein Praktikum für die Schule und die Mutter ist davon ausgegangen, dass das weiter kein Problem ist. Undenkbar, dass dieses gute Kind keinen Platz bekommen würde. Hat ja bisher immer geklappt. Bis das Kind eines Tages von der Schule nach Hause kam und verkündete, dass der Praktikumsvertrag in 1 ½ Wochen abgegeben werden müsse. Dazu sei erwähnt, dass das Kind schon viele Anfragen alleine losgeschickt hatte, leider ohne Erfolg. Nun kam die Mutter in die Spur, verfasste siegessicher einen schönen Text und bewarb das Kind bei mehreren interessanten Stellen. Das hat auch nicht geklappt – es war zu spät und die Plätze besetzt. Die E-Mails mit Absagen kamen zurück – eine nach der anderen. Doch eine dieser E-Mail-Absagen war mit einem P.S. versehen und das gab der Mutter schwer zu denken.

Frau Giese von einem sehr namhaften Berliner Kindertheater schickte eine freundliche Absage. Gut, damit hatte ich gerechnet, nicht jedoch mit dem P.S. Frau Giese schrieb: „PS: Ich verstehe, dass Schüler sehr beschäftigt sind. Trotzdem ist es wirklich sehr ungewöhnlich, dass die Eltern die Bewerbung schreiben … Mit 17 sollte Ihre Tochter in der Lage sein, sich selber zu bewerben, das tun die 13- und 14 Jährigen, die wir üblicherweise als Schülerpraktikanten haben auch immer. Seien Sie sich aber sicher, dass dies nicht der Grund der Absage ist …“ Das saß! Im ersten Moment stutzte ich, aber so ziemlich gleich danach, machte sich ein ziemlich breites Grinsen bei mir bereit. Oh ja, Frau Giese, Sie haben so recht und ich hab’s verstanden – nur habe ich mir bis zu diesem Punkt nicht wirklich bewusst gemacht, dass meine Kinder alleine laufen können!

Realistisch gesehen ist die Beziehung zwischen Mutter und Kind von Anfang an von zwei Dingen bestimmt: Das eine ist der natürliche Instinkt der Mutter von Geburt an, alles dafür zu tun, dass es dem Kind gut geht, es sich optimal entwickeln und auf sein erwachsenes Leben vorbereiten kann. Das zweite ist der Ablösungsprozess, der im Grunde genommen mit der Geburt einsetzt. Beide Vorgänge arbeiten gegengleich. Das Kind entwickelt sich in die Selbstständigkeit von der Mutter weg. Die Mutter sollte sich ebenso in Richtung Loslösung entwickeln, was in Anbetracht der jahrelangen Versorgungsrolle, die sie hat, sehr in den Hintergrund tritt. Ist der Zeitpunkt dann da, wird er oft verkannt, dies insbesondere, wenn Mütter sich nicht rechtzeitig wieder eigener Bedürfnissen und Interessen erinnern. Der Tag, der Moment in dem einem das klar wird, kommt – und wenn es in Form einer E-Mail ist.

Ein Erlebnis, das so einen Ablösungsprozess deutlich macht, ist mir sehr in Erinnerung geblieben: Meine Kinder, zweieinhalb und fünf Jahre, hatten gemeinsam einen Brief für ihre Oma geschrieben. Der fertige Brief musste zum Briefkasten und „zu schnell“ gab ich meine Erlaubnis, dass beide alleine dorthin gehen dürfen. Es war das erste Mal, dass meine Kinder alleine und zusammen aus dem Haus gingen. Der Briefkasten ist etwa 500 Metern entfernt. Dazu mussten sie eine kleine Straße und eine riesengroße, zweispurige Kreuzung überqueren. Sie gingen fröhlich und gut gelaunt los und es wurde die schlimmste Viertelstunde in meinem bisherigen Mütterdasein. Wie krank tigerte ich zwischen Garten und Wohnzimmerfenster hin und her und fragte mich, warum sie nicht längst zurück waren. Die schlimmsten Vorstellungen und Gedanken kamen mir in den Sinn. Mein Gatte, dem mein Gejammer gehörig auf die Nerven ging, meinte nur lapidar „Dann geh doch hinterher!“ und genau das, wusste ich, durfte ich nicht tun. Sie kamen nach Hause, stolz und wunderbar gelaunt. Ich lobte und hoffte, dass sie meine Skepsis und Angst nicht gemerkt hatten.

So ging das weiter, mit Kitareisen, Reisen zu der Oma, Klassenfahrten und vielem mehr. Nicht nur die Kinder lernten, sich alleine zu bewegen und in der Welt zu behaupten. Die Mutter lernte loslassen – langsam … Dabei stellten sich die Kinder zweifelsohne besser als die Mutter an. Als ich die „Kleine“ von einem Arztbesuch abholen musste, stellte ich auf der Autobahn fest, dass eine Ausfahrt gesperrt war. Das bedeutete einen Umweg, der Pünktlichkeit unmöglich machte. Ich wusste, dass das Kind kein Handy dabei hatte. Panik machte sich wieder bei mir breit, was sie tun würde, wenn ich nicht rechtzeitig da bin und sie rette. Bis meine „Große“, die mit im Auto saß meinte, dass die „Kleine“ fragt, wo wir bleiben. Mittels IPod hatte sich die „Kleine“ in ein WLan Netz eingewählt und über ihr Musikgerät Kontakt zu uns aufgenommen. Soviel zu den hilflosen „Kleinen“, die sich mittlerweile besser im WLan-, Berliner Bus- und Bahnnetz bewegten, als ihre Mutter es jemals könnte.

Besonders schwer waren Situationen, in denen die Kinder Streit mit anderen hatten und mir verboten, einzugreifen. Sie haben so vieles gemeistert und immer wieder musste ich zugeben, dass sich Stolz bei mir einschlich, wie eigenständig und selbstbewusst sie sich in ihrer Welt bewegen. Das hat auch eine ganze Menge mit „Zutrauen“ zu tun und ich habe oft gestaunt, was sie entsprechend ihrem jeweiligen Alter schon alles konnten. Mittlerweile sind sie so weit, dass sie nach Partys nicht einmal mehr vom Vater abgeholt werden möchten, da sie das alleine sehr gut schaffen. Also nicht nur die Mutter, auch der Vater guckt in die Röhre. Sie wollen alleine und selbstständig ihre Angelegenheiten regeln. Und viele Dinge, die Organisatorisches betrifft, erledigen sich sowieso von alleine, denn mit dem 18. Lebensjahr finden Eltern kaum noch Gehör oder Verständnis bei öffentlichen Stellen. Oder Frau Giese!

Aber es ist auch gut so, denn gerade in dieser Phase zeigt sich ja, ob Mutter „ganze Arbeit“ geleistet hat. Ist der Nachwuchs selbstbewusst und selbstständig, können wir uns getrost zurücklehnen und sie ihr Ding machen lassen. Das heißt ja noch lange nicht, dass wir abgeschrieben und nicht mehr um Rat gefragt sind. Die große Tochter hat sich nun alleine einen dualen Studienplatz gesucht und wird die nächsten dreieinhalb Jahre in einer Institution lernen, die die Eltern noch nie gesehen haben. Es war ihre Wahl und ist ihr Weg. Die jüngere Tochter hat ein Praktikum bekommen – pünktlich, alleine und ganz ohne mein Zutun. Wir sind raus, was ja ebenso nicht heißt, dass wir arbeitslos sind. Wer zwei (fast) erwachsene Kinder im Haus hat weiß sehr genau, dass „Kinder“ prima zwischen Eigenständigkeit und Bequemlichkeit hin und her wechseln können.

Frau Giese hat mir mehr gesagt, als das ich mit der Praktikumssuche meiner Tochter nichts mehr zu tun habe. Sie hat mich daran erinnert, dass ich meinen Kindern zutrauen darf, ihr Leben selber in die Hand zu nehmen. Sie hat gesagt, dass Mütter früh damit beginnen sollten, die Kinder selber ihre Dinge regeln zu lassen. Und sie hat auch vermittelt, dass wir Mütter uns aus manchen Dingen gelassen zurückziehen dürfen. Uns darauf vorbereiten können, in einer gewissen Zeit auch wieder in der ersten Reihe mitzumachen und uns auf Dinge besinnen können, die nur mit uns zu tun haben. Die Kinder können das – und wenn die Säge mal klemmt – nun ja, dann stehen sie mit uns in der ersten Reihe und lösen das Problem!

Danke, Frau Giese! 🙂

Die letzte Mohnstolle …

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Ich sah aus dem Augenwinkel, dass eine E-Mail von der Mutter ankam, worüber ich mich immer freue. Als ich sie las, war ich gar nicht mehr so freudig. Ich wusste nicht, wie ich sie einschätzen sollte. Es war die Ankündigung an meine Geschwister und mich, dass unsere Weihnachtspäckchen unterwegs seien. Das bedeutet in der Regel, bald gibt’s Mohnstollen, den sie jedes Jahr für uns backt – so lecker! Also eigentlich etwas, was Freude bei mir auslösen sollte. Aber in der Mail stand auch der Satz: „Genießt den Kuchen, denn ab jetzt könnt Ihr nur noch das Rezept von mir bekommen.“ Schon schlugen die Gefühle Purzelbaum – richtig auf’s Päckchen freuen wollte ich mich nicht mehr. Natürlich antwortet ich fröhlich, dass sie mir sicherheitshalber das Rezept schicken solle, falls ich sie im nächsten Jahr nicht mehr überreden könne, wieder eine Stolle zu backen.

Was mich so „unfreudig“ gestimmt hatte war die Tatsache, dass sich meine Mutter bester Gesundheit erfreut. Sie ist aber auch ein sehr klar denkender Mensch, der Tatsachen anspricht und ehrlich damit umgeht. Also auch, dass sie älter wird und manche Dinge ihr nicht mehr von der Hand gehen wie früher. So auch das Backen der Stollen für fünf „Kinder“ zu Weihnachten. Unterschwellig war aber auch eine andere Botschaft damit verbunden, die sich für mich durch dieses ganze Jahr zieht. Ich muss bereit sein mich von Menschen zu verabschieden. Akzeptieren, dass Menschen sich auf die letzte Lebensphase vorbereiten. Damit verbunden auch annehmen, dass dieses Thema für mich persönlich näher kommt. Ein sehr unbequemes Thema, wenn man eigentlich Mitten im Leben steht.

Im Juni haben wir die Schwiegermutter auf andere Weise verloren. Sie ist in die Demenz gefallen, das hatte ich in diesem Beitrag schon einmal beschrieben. Die ersten Wochen und Monate waren sehr schwer und wir mussten lernen damit umzugehen. Demenz muss man erleben, sonst kann man sich schwer vorstellen, wie sich die betroffenen Menschen verändern. Dabei haben wir es noch relativ gut getroffen, da sie zweihundert Meter weiter im Seniorenheim sehr gut untergebracht ist. Es fällt uns dennoch immer schwer sie zu besuchen. Ein Teil in uns möchte, dass es wieder so wie früher wird und der andere Teil beobachtet sehr realistisch, dass sich diese einst starke Frau immer weiter von uns entfernt. Sie wird kleiner, transparenter, leiser, zärtlicher, dankbarer … weniger!

Ich habe ihr eine kleine Nikolaustüte gepackt. Ein Schokoladen-Nikolaus, ein Schoko-Glückskäfer (den sie uns immer schenkte) und dann noch jeweils eine Klappdose mit Bonbons und eine mit kandiertem Ingwer. Ich war gespannt und diesmal fiel es mir nicht so schwer sie zu besuchen, hoffte ich doch, dass sie diese Dinge erkennt und sich freut. Normale Tüten zu öffnen und schließen geht mit ihren Fingern nicht mehr. Ich zeigte ihr, wie sie die erste Dose auf bekommt. Auf die Frage, ob sie weiß, was es ist, meinte sie: „Na diese Bonbons, diese Ca… , diese mit Lakritz.“ und ich sagte „Ja, Cachou-Bonbons!“ Sie nahm ganz schnell die zweite Dose in die Hand, die sie selber öffnete. „Ach, Ingwer!“ und schon war der erste in ihrem Mund. Ihr Lächeln war mehr als 1000 Goldstücke wert. Nach einem schönen Spaziergang mit ihr, ging ich einigermaßen zufrieden nach Hause. Nur einigermaßen zufrieden, weil sie mir im Gespräch wieder gesagt hatte, dass sie manchmal nicht mehr aufwachen möchte. Das tut weh. Zufrieden, weil ich gesehen habe, dass sie sich über Kleinigkeiten freut und ich aktiv etwas tun kann. Cachou-Bonbons und Ingwer, die sie immer liebte, sind offensichtlich noch in ihrer Erinnerung wach. Wer weiß, wie lange noch.

Abschied hat immer etwas Schweres in sich, ob plötzlich oder langsam, spielt keine große Rolle dabei. Man kann etwas nicht wieder zurückholen, es ist endgültig und die Angst, was diese Veränderung mit sich bringt und die verbundene Ungewissheit doch groß. Ein Kollege hat kürzlich seine Mutter verloren. Sie war friedlich eingeschlafen, was sicherlich tröstlich war, aber damit ist für ihn die ganze Elterngeneration weggebrochen. Er hat am Tag der Beerdigung einen sehr schönen, ergreifenden Nachruf an seine Eltern veröffentlicht. Ich habe ihn sehr bewundert dafür, weil er offen über seine Trauer sprach, dennoch seine Dankbarkeit zu Ausdruck brachte und seine Verbundenheit und Liebe zeigen konnte. So hat er seinen Söhnen vermittelt, was er selber an Erziehung erfahren hat, was er an Erziehung den Söhnen weitergeben wollte und die Söhne dies in ihre Kinder weitergeben können. Trotz aller Trauer hat er einen Weg aufgezeigt, wie seine Eltern weiterleben in der Erinnerung und der Erziehung der Kinder in dieser Familie.

Es geht immer weiter – anders halt, aber es geht! Manchmal schwer, manchmal leichter … mir ist bewusst, dass ich die Veränderungen nicht aufhalten kann. Will ich auch nicht, genauso wenig wie ständig daran denken. Oder durch so eine Mail mit einer Mohnstolle daran erinnert werden. Lieber konzentriere ich mich auf das Jetzt. Überlege, wie ich die Zeit, die ich z.B. mit der Schwiegermutter noch habe, nutzen kann. Wie ich mich auf Veränderungen vorbereiten und wappnen kann. Genauso wie ich bereit sein muss, mich von Menschen zu verabschieden, muss ich bereit sein, Menschen in meinem Leben zu begrüßen. Was steht mir noch mit meinen Kindern bevor? Ich bin so dankbar, dass ich sie um mich habe, sind sie doch ein entscheidender Motor für mein Leben. Ich freue mich auf neues Leben, denn sicherlich werde ich in vielen Jahren auch einmal Oma sein. Erst einmal werde ich Tante – im nächsten Mai bekomme ich eine Nichte oder einen Neffen. Mein jüngster Bruder wird das erste Mal Vater und die Familie wächst weiter. Ein absoluter Grund für Optimismus – so eine große Freude für uns alle.

In diesem Jahr genieße ich die letzte, von der Mutter gebackene, Mohnstolle, denn das Päckchen ist angekommen. Im nächsten Jahr … backe ich sicherheitshalber schon mal selber … oder schaffe es doch noch, sie wieder zu überreden! 🙂 Denn es gibt einfach Gerichte und Gebackenes, die bei aller Mühe nicht so schmecken wollen, wie es zuhause einmal war!

 

 

 

Mein digitaler Chef

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Jeder kennt einen, arbeitet mit einem, hat sich schon mal über einen geärgert, muss sich wohl (-überlegt) mit ihm arrangieren, muss ihm seine Arbeitsleistung bestmöglich verkaufen und freut sich über sein Lob. Jede Firma, Institution, jedes Amt, jeder Verein hat einen. Jeder Arbeitsprozess und jedes Arbeitsverhältnis wird durch ihn beeinflusst – vom Chef. Und so unterschiedlich die Arbeitsbereiche sind, sind auch die Chef’s. Großer Chef, mittlerer Chef, kleiner Chef. Unter ihnen die Gelassenen, die Choleriker, die Kontrolleure, die Kumpels, die Despoten, die Innovativen, die Wortgewaltigen, die Darsteller und viele, viele andere mehr. Und jeder von uns kann seine persönliche Chef-Geschichte erzählen – ich auch … ich hab nämlich einen digitalen Chef!

Was ein digitaler Chef ist? Ein Mensch aus Fleisch und Blut, wie alle, nur mit einer unverbesserlichen Energie bei allen digitalen Entwicklungen in der ersten Reihe mitzumachen. Eigentlich hat das bei ihm ja ganz harmlos angefangen. Am Anfang gab’s einen Computer – Arbeitsmittel, E-Mail – Kommunikationsmittel und so ein Internet mit Homepages – Informations- und Selbstdarstellungs-Tool. Er erkannte wohl ziemlich schnell deren Vorteile gegenüber Schreibmaschine, Brief und Visitenkarte. Das ging alles schneller und bequemer und wie jeder gute Chef, hat er auch schnell die Vorteile für unsere Arbeitsprozesse und den Bekanntheitsgrad im Netz realisiert. Folglich war die unmittelbare Auswirkung des Ganzen, dass wir ein Verein sozial arbeitender Menschen geworden sind, die sich mit solchen technischen Sachen auskennen – müssen! (Anm. d. Red.: Der Verein ist das Stadtteilzentrum Steglitz e.V. – ein sozialer Träger mit Einrichtungen von Kindertagesstätten bis zum Seniorenzentrum – Infos: Link anklicken.)

Wo war ich stehen geblieben? Ach ja – sozial und technisch … Passt nicht? Passt doch, denn bei so vielen Menschen, mit denen wir tagtäglich zu tun haben, entsteht ein erheblicher Verwaltungsaufwand, der auf diese Weise effizient bewältigt werden kann. Sowohl personaltechnische Angelegenheiten, als auch die Verwaltung z.B. aller Kinder, die unsere Kitas, Schul- oder Jugendeinrichtungen besuchen, sind bestens eingetacktet. Chef beobachtete wohlwollend – vorerst.

Na, jedenfalls hat der Chef wohl was richtig gemacht, denn der Verein wurde größer und größer und aus einer Handvoll Mitarbeitern und Einrichtungen, wurde bald ein ganzer Bienenkorb. Die Folge war Zeitnot, denn anders als bei der Bienenkönigin bringen die Bienen nicht nur alle was, die wollen auch alle was. Gar nicht mehr so einfach das Ganze zu managen, weshalb Chef sich mit Arbeitseffizienz auseinandersetzen musste. So begründet hat er seine Bibel gefunden (Keine Sorge – es geht nicht religiös weiter). Bibel heißt bei ihm GTD – „Getting things done“ von David Allen. Auf deutsch: „Wie ich die Dinge geregelt kriege“. Ich behaupte mal, wir finden kaum einen Kollegen bei uns, der nicht weiß, was das ist. Alle Arbeitsprozesse werden in eine bestimmte Reihenfolge gebracht, die immer einen guten Überblick und ein ruhiges Gewissen verschaffen. Gar nicht so verkehrt die Idee, die er uns sehr ans Herz gelegt hat. Klagt mal einer über Chaos am Arbeitsplatz, ernten wir ein müdes Lächeln vom Chef.

GTD war denn der letzte Auslöser für die chefliche Digitalisierung. Sehr bald war er der E-Mail-Flut überdrüssig und fand eine Internetseite, die ein innerbetriebliches Netzwerk anbot. Mein Pech war dabei nur, dass ich an der Presse- und Öffentlichkeitsstelle sitze – also war es mein Job das Teil auszuprobieren. Ok – anmelden, KollegInnen einladen und hartnäckig darüber kommunizieren. Es hat, schätze ich mal, ein Jahr gedauert, bis auch der letzte Zauderer geglaubt hat, dass das Netzwerk wirklich nur für uns ist und – dass tatsächlich weniger E-Mails von KollegInnen zu beantworten waren. Nun konnten wir Sachverhalte, Projekte, AGs oder einfach mal Spaß gleich mit allen Mitarbeitern teilen. Gut so … Chef zufrieden – kurzfristig.

Ich spreche jetzt mal nicht von den ganzen Netzwerken, in denen ein moderner Verein heutzutage vertreten sein sollte – Chefmeinung. Meine zweijährige hartnäckige Weigerung in ein sehr bekanntes Netzwerk mit F einzutreten, scheiterte am Chefwunsch, dort eine Vereinsseite zu haben. Angemeldet und – hm – Spaß dran gewonnen. Auch in den anderen Netzwerken sind wir prima vertreten. Einen Überblick, wo ich überall angemeldet bin, kann ich spontan nicht geben. Anmelden, ausprobieren, schauen, ob das was für uns ist. Wir sind dabei und machen mit – wo’s sinnvoll ist und nutzt und – Chef gefällt – einstweilen.

Immer wieder kommt er mit neuen schönen Programmen, die uns die Erfüllung und Erleichterung unserer Arbeitswelt geloben. Haben wir eins begriffen und gelernt, integriert oder verworfen, hat er schon wieder eine neue Idee. Aufmerksamkeit ist immer geboten, wenn ich in einem Netzwerk von ihm lese: „Hat jemand schon mal Sowieso ausprobiert und kann mir dazu was sagen?“ Das bedeutet mit ziemlicher Sicherheit, dass er nicht lang danach um die Büro-Ecke kommt und sagt: „Probier mal“. Zugeben muss ich dabei: Hab ich eine Frage dazu oder bekomme ich irgendetwas nicht gleich hin, er weiß es. Also, was er uns zumutet, hat er auch probiert, studiert und eingesetzt. Chef bloggt, postet, schreibt, kommentiert, netzwerkt und ist digital an vorderster Front – früher nannte man die Pioniere. Neulich hatte er Urlaub – das bedeutet Luft im Netz zu suchen. Ganz gefährlich bei digitalen Chefs. Und wie erwartet, stand dann auch bald zu lesen, wie begeistert er von einem neuen Aufgabenprogramm ist. Und wie erwartet … wer probiert es jetzt aus? Wir … Chef freut sich! 🙂

Ok, zugegeben, der Nutzen ist sehr groß und letztendlich machen viele Programme ganz einfach Spaß. Auch ist es ein gutes Gefühl, für einem Verein zu arbeiten, der diesen Dingen sehr aufgeschlossen ist, optimalen Nutzen daraus zieht und eine sehr modere Einstellung dazu hat. Ich stelle mir insgeheim immer vor, dass seine erste Frage bei potentiellen Bewerbungsgesprächen nur heißen kann: „Lieben Sie ihren Computer?“. Tue ich und sitze eigentlich am richtigen Platz, probiere auch gerne aus. Aber nun hat er es doch einmal geschafft, mir den Angstschweiß auf die Stirn zu treiben … Da hat er gepostet (so nennt man das): „Hypereffizienz hätte er noch nicht in seiner Zielplanung gehabt“ und einen Artikel dazu von einer Seite, die sich mit Arbeitseffizienz beschäftigt. – Hypereffizienz – Chef bitte … du musst nicht alles ausprobieren!

Zur Person: Thomas Mampel ist Sozialarbeiter und Unternehmer und versteht sich als social entrepreneur. Er ist Mitgründer und Geschäftsführer des Stadtteilzentrum Steglitz e.V., Mitgründer und Mitbetreiber des sozialen Netzwerkes “socialNC – soziales engagement 2.0″ und geschäftsführender Gesellschafter der .garage berlin GmbH und Gründungsmitglied und Vorstand des gemeinnützigen Vereins Computerbildung e.V.. In seinem Blog „mampel’s welt“ will er seine Sicht auf die Welt – insbesondere zu den Themen “Soziale Arbeit und soziale Netzwerke”, “soziales Unternehmertum” und “Entwicklung der sozialen Arbeit” – zur Diskussion stellen. Außerdem ist er …

… mein Chef! 🙂