Der Hartz4-Nazi … war einmal

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Selten, ganz selten lese ich Kommentare, die irgendwelche Nutzer in sozialen Netzwerken unter Beiträge schreiben. Sie sind oft abstoßend und selten werden konstruktive, differenzierte Meinungen geäußert. Es ist so leicht, so anonym zu hetzen. Aus irgendeinem Grund blieb ich bei einem Artikel doch an den Kommentaren hängen und lese: „Hartz4-Nazi“. … Ich überlege, was ein Hartz4-Nazi ist. Ich google, aber finde keine richtige Antwort. Das Wort ist eine Beschimpfung, eine Beleidigung, ein Vorurteil und in sich völlig bescheuert. Natürlich weiß ich, was vordergründig gemeint ist. Doch um es richtig zu verstehen, muss ich wohl erst verstehen, was ein Nazi ist. Genau da liegt mein Problem – ein Versuch:

Ich mache eine kleine Liste mit Begriffen, die mir einfallen, wenn ich mir einen Nazi vorstelle. Schon allein das ist schwer, weil natürlich der Springerstiefel-Typ als Erstes in den Sinn kommt. Die Sache ist jedoch viel subtiler, versteckt sich doch so mancher Nazi im Küchenkittel oder Nadelstreifen-Anzug. Und sich vorzustellen, was der Nazi im Kopf hat … ähm … Also:

Eins der häufigsten Probleme, dass Menschen mit dieser Gesinnung haben müssen, ist der Wohlstandsverlust und daraus bedingte Existenzangst. Immer wieder lese ich, dass die bösen Flüchtlinge viel mehr Geld bekommen, als einheimische Bedürftige. Dass dies schlicht und einfach falsch ist und jeglicher Grundlage entbehrt, spielt keine Rolle. Wenn der eine es behauptet, glaubt es der nächste, angebliche Rechenbeispiele werden aus dem Zusammenhang gerissen, falsche widerlegte Zahlen trotzdem in den Netzwerken geteilt – es tut ja so gut, wenn man weiß wer der böse ist. Wenn einer schreit, applaudieren zwei andere und schon tut’s nicht mehr so weh. Ich behaupte mal, dass keine alleinerziehende Mutter, keine Oma im Rentenalter, kein arbeitsloser Mann je einen Euro zu wenig bekommen hat, weil die bösen Flüchtlinge da sind. Wir leben mit einem der besten Sozialsysteme der Welt und trotzdem ist Alters- sowie Kinderarmut ein sehr ernstes Thema bei uns … aber das sind ganz andere Töpfe und gehen den Flüchtling nichts an!

Mangelndes Geschichtsbewusstsein möchte ich fast gleichsetzen mit Realitätsverlust. Geschichte ist nicht zu ändern und die Welt in der wir leben ist bunt. Speziell Deutschland war immer ein Durch- und Einwanderungsland. Die Deutschen sind nicht erst seit den beiden letzten Weltkriegen, der Einwanderungswelle von Türken und Italienern der Nachkriegszeit, der Aufnahme von Menschen aus den Jugoslawienkriegen, Spätheimkehrern, Sudetendeutschen und vieles mehr, vollkommen gemischt und von anderen Völkern durchsetzt. Keine Familie und kein Freundeskreis kann behaupten rein Deutsch zu sein, falls es das überhaupt gibt. Gäbe es ein „Rein Deutsch“ wären wir sehr wahrscheinlich ein degenerierter Haufen von Menschlein, die in der Welt keine Rolle spielten und noch in den Höhlen der Urzeiten vor sich hin vegetierten. Was bei uns in den Landstrichen passiert, die von Durchmischen anderer Nationen ausgeschlossen waren oder sind, kann man fast täglich in der (Lüge-)Presse lesen.

Womit der gemeine Nazi im meinen Augen auch die seinen vor den Zusammenhängen der Länder der Welt verschließt. Ein Staat kann heute nur im Verbund mit anderen Nationen und im offenen Transfer existieren. Verschließen wir uns, verkümmern wir, machen Handel, Wirtschaft und Fortschritt zunichte. Grenzen zu schließen bedeutet Kriege und Allianzen zu fördern, die Vernichtung nach sich ziehen.

Die Empathielosigkeit vor dieser Vernichtung ist ein weiteres Merkmal, dass in der Liste auftaucht. Via Internet erleben wir die Kriege in der Welt als fänden sie im eigenen Wohnzimmer statt. Wir sehen Bilder von Menschen, die unerträgliches Leid erfahren und wollen diesen Menschen einen sicheren Platz bei uns verwehren? Der Gedanke tut mir fast körperlich weh. Ich erlebe Menschen, die über Flüchtlinge schimpfen, sie an Grenzen erschießen lassen wollen, Asylbetrüger in jedem sehen, der nicht ins Bild passt … und gleichzeitig die Todesstrafe für Tierquäler fordern. Jedem Hund und jeder Katze mehr Wohlstand und fettere Bäuche gönnen, als Menschen, die vorm Verhungern flüchten.

Übersteigertes Selbstbewusstsein und Bildungsresistenz möchte ich in einem Satz nennen, gehört es für mich doch sehr zusammen. Der normale Nazi ist nämlich nicht von der ungebildeten Sorte und müsste eigentlich, wenn er einen rein logischen Denkprozess einsetzen würde, wissen, dass seine Thesen und Behauptungen haltlos, selbstsüchtig und veraltet sind. Es gibt für mich bis heute keinen einzigen Grund aus dem sich ein Mensch einem anderen gegenüber als höherwertig stellen kann – der Nazi tut’s … also kann er ja nur so selbstverliebt sein, … oder … ich vermute fast … so wenig von sich selber halten, dass es in übersteigertes Selbstbewusstsein umschlägt. Wäre das nicht so fürchterlich, müsste man fast mit Mitleid kämpfen …

Machtwille steht als letztes in meiner Liste und das ist ein sehr trauriger Punkt. Beobachtet man die politische Entwicklung im Land, stellt man fest, wie einige wenige mit viel Polemik, mit gemachter Angst und Populismus, eine Masse lenken, die Lämmer-gleich und ohne Hinterfragen nachplappert, schreit und brüllt. Das „Hatten-wir-schon-mal!“ bleibt bewusst ungehört und jeglicher Wille aus der Geschichte zu lernen fehlt. Die Lämmer merken nichts … mäh!

Der Nazi ist – unbelehrbar – da … und er war immer da! Die rechte Gesinnung wird – wieder – gesellschaftsfähig. Das ist der Punkt, der mir Angst und mich nachdenklich macht. Er wird wieder so gesellschaftsfähig, dass in den Netzwerken schon eine Art Ranking unter den Nazis beginnt. Der Hartz4- und Springerstiefel-Nazi ist böse und dumm. Bleiben ja noch genug andere, die den politischen Entwicklungen gedankt, sich frei und offen unter uns bewegen. Als wären sie befreit, ihre Parolen endlich wieder in die Gesellschaft zu tragen. Wir geben ihnen Raum in Talkshows, auf der politischen Bühne und in der Nachbarschaft. Wir empören uns ein bisschen, wenn ein Polizist einer rechten Veranstaltung ein gutes Gelingen wünscht. Entschuldigen es damit, dass es ja in dem bestimmten Bundesland passiert. Unsere Politiker halten die Klappe, weil nach der Wahl vor der Wahl ist, hoffend, dass nicht zu viele Stimmen wegwandern.

Sie waren immer da und fanden Unterschlupf in den etablierten Parteien, die ihr Profil mehr und mehr einbüßen. Jetzt ist es nicht mehr unfein besorgt, rechts, gegen Werte zu sein – denn – und das kann ich nicht mehr hören – so ist nun mal Demokratie. Was ein Nazi ist, verstehe ich wohl. Warum er jetzt in offener Weise mein Nachbar, mein Kollege, der Mann im Bus sein könnte – das verstehe ich nicht und nicht, dass wir – die Nicht-Nazis – nicht viel lauter schreien. Ich kann nicht nachvollziehen und will auch nicht verstehen, wie ein Nazi denkt. Brauche ich auch nicht – denn er besinnt sich neuer Namen … besorgter Bürger oder Mitglied der Partei, die eben keine Alternative ist. Der Hartz4-Nazi war einmal … jetzt kommen andere.

Jeder wie er will – analog vs. digital

annaschmidt-berlin.com_analog-vs-digital_pixabayEin kleines Mädchen sitzt unter einem Tisch und schneidet gedankenverloren in einem alten Werbekatalog Figuren aus, die es immer wieder neu arrangiert und damit spielt. Ein anderes Kind sitzt gemütlich in der Sofaecke und versucht auf seinem Tablet vier gleichfarbige Spielsteine in eine Reihe zu bekommen, um den nächsten Level zu erreichen. Beide Kinder tun unterm Strich das gleiche – sie spielen. Die eine Frau schreibt eine Geburtstagskarte per Hand, eine andere schreibt zum Geburtstag eine E-Mail, der sie ein schönes Bild anhängt. Auch sie vollziehen die gleiche Handlung – das Schreiben. Der eine Mann hat einen dicken Schmöker vor sich liegen und ist glücklich, dass er bald mit Seite 426 die Mitte des Buches erreicht hat, der andere hat die Schrift auf seinem eBook-Reader groß gestellt, weil er eigentlich zu müde zum Lesen ist, der Inhalt ihn aber nicht loslässt. Im Mittelpunkt steht das Lesen. Drei gleichwertige Handlungen werden ausgeführt, die sich allein in der Art unterscheiden, ob sie analog, also direkt, oder digital, mittels Elektronik, bewerkstelligt werden. Soweit ist alles in Ordnung, bis man zu der Frage kommt, was besser ist.

Besser oder schlechter ist in diesem Zusammenhang eher die falsche Frage, weil es keine klare Antwort geben kann. Es ist eher eine Frage des Weges, eine Handlung zu erlernen und dafür elektronische Hilfsmittel einzusetzen. Hinzu kommt die Verhältnismäßigkeit zu den Möglichkeiten, die sich daraus ergeben. Kinder haben es beispielsweise leichter, die Uhrzeit mittels digitaler Zahlen zu lernen. Ganz verstehen tuen sie die 12-Stunden-Taktung unserer Uhrzeit jedoch erst sehr viel später. Kinder, die einen geduldigen Erwachsenen neben sich haben, der sich die Mühe macht, mit ihnen als erstes die analoge Uhr zu lernen, haben schneller die Möglichkeit das System der 12 Stunden, Vormittag, Nachmittag, Tag und Nacht zu begreifen. Ein beliebtes Beispiel ist immer wieder die Mathematik: Wenn ich das
Prinzip der Kaufmannsrechnung begriffen habe, kann ich auch verstehen, was mein Taschenrechner eigentlich macht. Natürlich ist der Taschenrechner vordergründig der weitaus bequemere Weg, zur Lösung zu kommen, nimmt dem Kopf den Denkprozess jedoch ab und ist somit letztlich kontraproduktiv.

Es ist wichtig, jegliche Handlung, die für uns eine Rolle spielt, auf konventionelle Weise zu erlernen, um verstehen zu können, was elektronische Hilfsmittel uns abnehmen und erleichtern können. Ist dieses Verstehen die Basis sie einzusetzen und bin ich in der Lage auch ohne sie auszukommen, kann ich die Vorzüge, die sich daraus ergeben in vollem Maße einsetzen und ausschöpfen. Gerade dies gilt ganz speziell für das kindliche Lernen. Erst muss das „Was und Wie“ gelernt werden, bevor das „Wie geht‘s leichter“ genutzt werden kann. Und genau an diesem Punkt machen viele Erwachsene heute einen entscheidenden Fehler: Was von der elektroniklosen Kindergeneration in vielen Jahren bis heute erlernt werden konnte, lernen Kinder heute in einem Tempo, dem Erwachsene kaum mehr standhalten können. Kinder müssen heutzutage wissen, wie ein Computer, ein Tablet, ein Smartphone funktioniert. Vor dem steht jedoch das Begreifen, was diese Geräte können und uns ermöglichen. So können sie, sinnvoll eingesetzt, eine große Ergänzung des konventionellen Lernens sein. Kinder spielen und lernen heute anders und eine Welt ohne elektronische Geräte wird es nie wieder geben.

Hier kommt die Verhältnismäßigkeit ins Spiel: Ein Kind, das im Dialog mit den Eltern den Umgang mit Smartphone und Co. erlernt, ist sicher. Es weiß, was es tut, kennt Internet-Fallen, kann offen mit Eltern kommunizieren, was es beschäftigt. Ein Kind, das alleine gelassen die Geräte erforscht, drückt schnell einen falschen Button oder kennt keine zeitlichen Grenzen bzw. den Aus-Schalter der Geräte. Aufmerksame Eltern erlauben und begleiten den Umgang mit den Geräten, sorgen aber gleichzeitig für genügend Ausgleich in der Natur, beim Sport oder bei Freunden. Ein gut geschultes Kind weiß, dass die Milch von der Kuh und nicht aus der Destillationsanlage kommt, es aber im Internet alles über das Thema „Milch“ für das nächste Schulreferat findet.

Erwachsene haben es da schon einfacher. Sie hatten keine andere Wahl, als alles Wissen von der Pike auf zu erlernen. Ein Taschenrechner war für die 60er Jahrgänge schon ein Luxus, doch durfte wenn überhaupt nur der Rechenschieber im Unterricht benutzt werden. Computer und Co. nahmen erst Mitte der 80er Jahre ihren Feldzug durch die Gesellschaft auf. Was heute selbstverständlich ist, war früher kaum denkbar und noch immer gibt es Anhänger der „Irgendwann-ist-das-Internet-kaputt!“-Fraktion. Ist es nicht und kaum ein Lebensbereich ist nicht von Apps, Internetseiten und elektronischen Hilfsmittel frei. Aber – wir haben die Wahl. Ist der Eierkocher bequemer als das punktgenaue Kochen des Frühstücksei‘s im Kochtopf, trockne ich die Haar mit dem Föhn oder warte ein paar Minuten bis sich die Sache von selbst erledigt hat. Verlasse ich mich auf die Pünktlichkeit meines Kindes zum Abendessen oder kontrolliere ich rund um die Uhr, wo es sich aufhält via Smartphone-App. Tätige ich eine Überweisung online oder werfe ich den Überweisungsträger in den Briefkasten der Bank. Viele administrative Bereich kommen ohne Elektronik überhaupt nicht mehr aus. Einen Flug buchen, einen Termin beim Amt bekommen, die Lichtanlage des PKWs reparieren … dumm, wenn die konventionelle Art der Erledigung unmöglich bzw. schwer gemacht wird.

Sicherlich, wir haben durch den Einzug der Elektronik in unser Leben viel Nostalgisches verloren. Wir haben aber auch sehr viel gewonnen – was man schlicht Fortschritt nennt. Die Weltgeschichte hat sich nie rückwärts entwickelt, weshalb wir keine Wahl haben, als uns diesen Dingen zu stellen. Allein das Maß dessen, was wir mitmachen, bestimmen wir, tragen es mit oder schließen uns bewusst in manchen Prozessen aus. Die Welt ist in unser Wohnzimmer gekommen und so sind es neue Erfordernisse, die wir – gleichgültig ob Kind oder Erwachsener lernen müssen. Wir müssen Nachrichten in einer nie da gewesenen Fülle aushalten, sortieren und selektieren. Den Umgang mit Information ganz neu erlernen, sehen aber auch Teile der Welt, die uns bisher verschlossen waren. Wichtig geworden ist der Umgang mit persönlichen Daten, der Wahl der Informationsquellen, der Art und Weise wie wir kommunizieren und vieles mehr. Ausnahmslos jeder hinterlässt digitale Spuren, allein als Steuernummer oder Bankkunde … jede einzelne Spur ist eine Art Visitenkarte. Wie die aussieht – analog oder digital – haben nur wir selber in der Hand – löschen lässt sie sich nur schwer!

Ein Beitrag aus dem Magazin „Im Mittelpunkt“
des Stadtteilzentrum Steglitz e.V.
Erhältlich im iTunes-Store oder hier als interaktives Pdf