Angekommen

annaschmidt-berlin_angekommen

 

Im Rheinland hatte ich eine Freundin mit der ich mich über unseren damaligen Wohnort unterhielt. Ich lebte mit meiner Familie für unsere Verhältnisse schon lange in dem kleinen Ort am Rhein. Diese Freundin erzählte mir damals, dass sie in diesem Ort aufgewachsen ist, ihre Eltern dort geboren und aufgewachsen sind und auch die Großeltern das gleiche erlebt hatten. Alle hatten im gleichen Haus gewohnt, entsprechend der Generation in der unteren oder oberen Etage. Sie erzählte auch, dass sie sich nichts anderes vorstellen könnte als dort zu wohnen, nicht mal im Nachbarort. Dieses Gespräch hat mich damals unwahrscheinlich beeindruckt, so dass ich es nie vergessen habe. Immer am gleichen Ort zu leben war für mich damals mit einem Gefühl zwischen Hochachtung und Mitleid belegt. In jedem Fall war es für mich suspekt, was das für eine Sorte Mensch sein konnte, die sich mit einem Ort in der Welt zufrieden gab.

Ich hatte es anders erlebt. Zu meiner Kindheit und Jugend gehörten Umzüge. Der Vater war bei der Bundeswehr und die Familie gewöhnt dort zu leben, wo er eingesetzt wurde. Zuhause war dort, wo die Eltern lebten. Alles andere war austauschbar und zu ersetzen. Uns war sehr bewusst, dass wir viel gesehen und erlebt hatten und wirklich viele Menschen kannten. Oft Bundeswehrangehörige, denen es genauso ging wie uns. Der Satz „Nette Menschen gibt es überall, es kommt nur darauf an, wie man selber auf sie zugeht!“ prägte uns von Kindheit an. Was wir nicht hatten, waren Jugendfreunde, aber das wurde uns erst später bewusst. Nach dem Gespräch mit der Freundin kamen noch viele weitere Umzüge dazu. Wegen der Ausbildung, wegen verschiedener Arbeitsstellen, wegen der Liebe und der letzte Umzug mit der Liebe, sprich dem Ehemann, gemeinsam. Die Republik hatte ich von unten nach oben durch, auch das Ausland war dabei. Der letzte Umzug ging in die große Stadt. Wir waren in Berlin gelandet.

Nun ein Zeitsprung von 20 Jahren: Wir leben immer noch am gleichen Ort und im gleichen Haus. Für mich etwas ganz Besonderes. Wenn mich früher jemand fragte, woher ich komme, sagte ich mit einem Grinsen, ich sei Kosmopolit. Heute weiß ich nicht mehr genau, was ich bei der Frage antworten soll. Ich empfinde mich nicht als Berlinerin, aber ich fühle mich Zuhause. Das liegt nicht an Berlin, das hängt mit meinem kleinen Bezirk zusammen. Manche sagen mein „Kiez“, und auch wenn ich das Wort nicht mag, so drückt es doch aus, was mich verbindet. Es ist ein sehr vertrautes, inniges Gefühl für das unmittelbare Umfeld. Ich kenne mich hier aus, kann wie im Schlaf meine Wege gehen. Ich weiß, wohin ich mich wenden muss um bestimmte Dinge zu erreichen. Es gelingt fast nicht mehr einen Einkauf oder Hundespaziergang zu Ende zu bringen, ohne gegrüßt zu haben oder eine kleine Unterhaltung mitzunehmen.

Berlin kann so dörflich sein. Ich habe oft zu den Kindern gesagt, dass sie sich gut überlegen sollten, mit wem sie sich verzanken. Wir haben mehrfach erlebt, dass wir zu Wegbegleitern den Kontakt verloren und sie in vollkommen anderen Zusammenhängen wiedergetroffen haben. Wenn ich mit den Kindern durch die Straßen gehen, ist eine häufige Frage „Woher kennst du den denn?“. Die Kinder sind echte Berlinerinnen. Hier geboren, aufgewachsen, verwurzelt und heimisch. Sie kennen nichts anderes und bei Diskussionen um Auslandsjahr oder Ausbildung an fremden Orten, staune ich über die hartnäckige Weigerung einer Tochter, woanders hinzugehen. Wir erleben immer öfter bei Menschen, dass sie jemanden kennen, den wir kennen und Querverbindungen entstehen. Bei einem Hundespaziergang kam ich mit einer Frau ins Gespräch, die ich seit zwei Jahren vom sehen kannte und grüßte. Bei dem Gespräch kam heraus, dass sie eine Freundin hat, die wiederum Freundin einer meiner Freundinnen ist, mit deren Kinder unsere Kinder befreundet sind. Verstanden? Nicht wichtig. Jedenfalls kannte ich den Namen der Frau viele Jahre bevor ich die Frau selber kennenlernte.

Was ich an unserem kleinen Bezirk besonders schätze und liebe ist, dass ich gar nicht mehr umziehen muss um nette und neue Menschen zu finden. Die Auswahl ist riesig, abwechslungsreich, spannend und multikulturell. Es kommt eben wirklich auf uns selber an, wie wir uns dem Umfeld öffnen und neue Menschen in unser Leben lassen. Hier sind wir ein Teil des Umfeldes geworden und genießen sehr, dass wir „alte Hasen“ geworden sind. Zu „alten Hasen“ gehören auch alte Freundschaften, etwas dass es in meiner Jugend nicht gab. Freunde und Bekannte geben uns Sicherheit, Abwechslung und schenken uns viele schöne Gemeinsamkeiten und Momente im Jetzt. Wir haben Wegbegleiter mit denen wir Erinnerungen aus 20 Jahren teilen können und gemeinsam älter werden. Wir können bei manchen Entwicklungen mitreden, weil wir sie durch die Jahre begleitet haben. Wir haben gesehen, wie die Kinder von Nachbarn von den Windeln bis zum Abitur groß wurden. Wissen, wer in den benachbarten Häusern wohnt und genießen eine freundschaftliche, unaufdringliche Nachbarschaft. Es ist Geborgenheit, die uns hier begegnet, ohne das Gefühl zu bekommen gebunden oder kontrolliert zu sein.

Heute sind mir Menschen, die immer an einem Ort leben nicht mehr suspekt. Mein Gefühl ihnen gegenüber ist Verständnis und fast ein bisschen Neid. Dennoch bin ich froh, dass ich beide Seiten kenne und das prickelte Gefühl erlebt habe, eine neue Stadt zu entdecken und kennenzulernen. Aber ich vermisse das Gefühl nicht mehr, etwas entdecken zu müssen. Ich lebe hier in einer Stadt, die mir jeden Tag die Möglichkeit bietet neues zu entdecken und mich dennoch in den vertrauten Bezirk zurückzuziehen kann. In der jeder nach Vorliebe seinen Platz und Akzeptanz finden kann. In einer Stadt, in der ich die Straßennamen kenne. Die spannend ist, Möglichkeiten bietet mitzumachen und sich einzumischen. Es ist eine Stadt, die beides hat – Großstadtflair einerseits, Parks und ruhige grüne Plätze andererseits. Sie ist laut und leise, Weltstadt und doch dörflich, offen und problembeladen, modern und alt zugleich.

Wir streben nicht an, mit der dritten Generation gemeinsam in einem Haus zu leben. Wohin es die Kinder einmal zieht, wird die Zeit zeigen. Wir haben unsere Entscheidung getroffen. Wir werden hier bleiben. Nicht mehr umziehen. Werden noch mehr in diesen Bezirk eintauchen und Teil davon werden. Ich habe immer noch das Gefühl in jeder anderen Stadt leben zu können, aber ich will nicht mehr, denn dieser Platz ist eben nicht austauschbar und zu ersetzen. Er ist einzigartig, vertraut und gehört zu unserer kleinen, meist heilen Welt. Wir sind genau in diesem Monat im 20. Jahr angekommen.

Das war’s – Leben mit der Bundeswehr

bundeswehr

Es gibt Dinge, die schon bei ihrer Einführung heftig umstritten sind und äußerst kontrovers diskutiert werden. Dazu gehört die Deutsche Bundeswehr. Für die einen ist sie Friedensgarant im eigenen Land, für die anderen ein Verein von Kriegstreibern, der längst abgeschafft sein müsste und schon gar nicht öffentlich auftreten sollte. Was sich bei allen Diskussionen kaum jemand klar macht ist, dass viele Familien mit der Bundeswehr leben. Und dies nicht erst seit dem es eine Verteidigungsministerin gibt, die diese Familien ob ihrem früheren Amt als Familienministerin in den Fokus gestellt hat. Diese Familien hat es seit Gründung der Bundeswehr 1955 immer gegeben, nur standen sie nie in der Öffentlichkeit.

Ich bin nie gefragt worden, ob ich etwas mit der Bundeswehr zu tun haben will. Ich wurde in die Bundeswehr hineingeboren und bin ein Bundeswehrkind. Mein Vater ging nach seinem Abitur in Berlin zur Bundeswehr. Seine Motivation war zum einen die Möglichkeit zu studieren. Durch den nicht lange zurückliegenden Weltkrieg waren die Mittel der Familie knapp und dort bot sich ihm die sonst nicht machbare Möglichkeit des Studiums. Der zweite Grund waren seine Erlebnisse mit dem Weltkrieg, der seine Kindheit bestimmt hatte und er diese nie wieder erleben wollte. Er wollte dazu beitragen den Frieden zu erhalten. So ging er, damals schon verheiratet und junger Vater, nach München und begann seine Laufbahn als Offizier.

Als Kleinkinder war uns der Zusammenhang zwischen dem Vater und seinem Beruf natürlich nicht klar. Eine Auswirkung dessen war, dass wir Kinder alle eine andere Geburtsstadt haben. Auch Jahre im Ausland, die eine sehr prägende Kindheitserinnerung sind, haben wir erlebt. Immer mehr ins Bewusstsein rückte die Zugehörigkeit zu dieser besonderen Gruppe als wir älter wurden und Oberschulen besuchten. Es war für uns Normalität den Vater in Uniform zu sehen. Das Leben mit der Bundeswehr überhaupt war Normalität, kamen doch die meisten Klassenkameraden ebenso aus solchen Familien. Es war normal, dass der eine Freund zuzog und der andere wieder wegziehen musste. Geschichten über Wehrübungen, Starfighter, über Beförderungen, Dienstgrade, Umzüge gehörten ebenso dazu wie ein sonntägliches Essen im Casino.

Und auch die Diskussionen über Bundeswehr waren so normal wie der tägliche Schulbesuch. Gerade im jugendlichen Alter, wenn politisches Denken beginnt und wenn sich Jugendliche von zuhause abgrenzen wollen, beginnen die Gespräche über Sinn und Unsinn des Ganzen. Diese Diskussion hat es immer in unserem Haus gegeben und jede Meinung wurde akzeptiert, solange sie respektvoll und begründet vorgetragen wurde. Meine Brüder sind nicht zur Bundeswehr gegangen, meine Schwestern haben Wehrdienstverweigerer geheiratet und trotzdem haben wir immer an einem Tisch gesessen, diskutiert, gelacht und die Welt verbessert. Ich habe damals, als es noch undenkbar war, mit meinem Vater gestritten, warum Frauen nicht zur Bundeswehr gehen dürfen. Für ihn als alten Offizier eine Unmöglichkeit, für mich eine Ungerechtigkeit. Damals hätte ich’s eventuell sogar gemacht, heute bin ich froh, dass der Kelch an mir vorbeiging. Wir Kinder sind zu den ersten Friedensdemo’s in Bonn gegangen und wir haben Gespräche erlebt, bei denen der Großvater (Heer), der Vater (Luftwaffe) und der Schwiegersohn (Marine) leidenschaftlich über politische Themen diskutierten.

Nach meinem Auszug zuhause ergab sich für mich ein anderer Weg, der die Verbindung zur Bundeswehr aufrecht erhielt. Viele Jahre fuhr ich als Betreuerin bei Jugendfreizeiten des Bundeswehr Sozialwerkes e.V. mit. Sehr viele Jahre später habe ich einen Berufssoldaten geheiratet. Warum ausgerechnet einen Soldaten, habe ich mich sehr oft gefragt. Letztendlich kann man sich die Liebe nicht aussuchen und es ist für mich, denke ich, die Verlässlichkeit und die Sicherheit, die ich sowohl beim Vater wie Ehemann immer gefunden habe. Ich habe gewusst, worauf ich mich mit dieser Ehe einlasse. Habe gewusst, dass Umzüge, Auslandseinsätze, Befremden von anderen und Diskussionen weiterhin zu meinem Leben gehören würden. Ich habe es nie bereut und wir hatten Glück. In unserer Ehe haben wir einen Umzug gemeinsam erlebt. Durch die Tätigkeit meines Mannes im Personalrat wurde es möglich, dass meine Kinder eine Grundschule und eine Oberschule besuchen konnten. Ich habe sechs Schulen bis zum Abitur mitgenommen. Es wurde möglich, dass ich durch die Ortsgebundenheit beruflich Fuß fassen konnte. Schließlich konnten wir uns über die Jahre ein festes soziales Gefüge aufbauen und ein Gefühl von Zuhause an einem Ort erleben. Eine Seltenheit bei der Bundeswehr, die ich in Kindertagen erlebt habe.

Der Abschied von der Bundeswehr war absehbar. Die Marine muss künftig ohne meinen Mann auskommen. Ein paar Wochen lang hat uns unsere Tochter, mit dem Gedanken zur Bundeswehr zu gehen, beschäftigt. Der Wehrberater war glücklicherweise so fähig ihr die Bundeswehr schmackhaft zu machen, dass sie schon während des Gespräches geheilt war. Mein Mann hat seine Sachen gepackt, hat sie abgegeben und damit ist es vorbei. Keine Wehmut, kein Groll, er blickt auf eine gute Dienstzeit zurück – die Pflichtjahre sind voll und nun geht es mit Optimismus und neuen Zielen in die Zukunft.

Was ich mir schon lange abgewöhnt habe sind die Diskussionen über die Bundeswehr. Man wird mit der Zeit müde zu erklären, dass man in einer normalen Familie lebt. Das der Vater nicht schlägt, der Ehemann liebevoll ist, dass man Drill nie erlebt hat und Waffen in diesem Zusammenhang nie gesehen hat. Man wird müde zu schlucken, dass der Vater als Kriegstreiber, der Ehemann als Uniformträger und alle als Gewaltverherrlichend angesehen werden. Man wird müde unfaire Diskussionen zu führen, die nicht zu gewinnen sind und man hört auf zu verteidigen, was man anders erlebt hat und zu schätzen weiß.

Die Bundeswehrfamilien haben sich schon immer in diesem Staat arrangiert. Sie benötigen keine eigenen Kitas, die die Kinder ausgrenzen. Sie benötigen Unterstützung und Akzeptanz in den angrenzenden Bereichen. Unterstützung der Schüler, die vom Norden in den Süden wechseln müssen. Unterstützung der Ehefrauen, deren berufliche Karriere oft wegen der Umzüge nicht möglich ist. Unterstützung bei langen Trennungszeiten. Sie brauchen Freunde und offene Menschen, die diese Familien nicht ständig durch unfaire Argumente in eine Verteidigungshaltung drängen. Denn für sie ist der Beruf des Vaters, des Ehemanns, nun auch der Mutter, meist nur ein Beruf, der zweifelsohne eine besondere Einstellung erfordert.

Mein Vater hat Frieden gewollt und geweint, als er als geborener Berliner die Öffnung der Grenzen erleben durfte. Er hat uns beigebracht für alle Nationen der Welt offen zu sein, den Frieden zu halten, Gespräche zur Lösung von Konflikten zu führen und schließlich, dass jeder Mensch dem anderen gleichwertig ist. Und mein Mann durfte erleben, dass sein Heimatort im Osten wieder ein Teil seines Lebens werden konnte. Beiden gemeinsam ist der unerschütterliche Familiensinn, dem sie aus Überzeugung ihr berufliches Leben gewidmet haben.

Ob man für oder gegen die Bundeswehr ist, muss jeder für sich entscheiden. Für mich ist entscheidend, dass meine Familie in Frieden leben kann. Ob die Bundeswehr einen Sinn hat, mag sich jeder beim Säbelrasseln unseres russischen Nachbarn selber fragen. Wir werden keinen Krieg in der Welt durch die Abschaffung der Bundeswehr verhindern. Keinen Konzern von Waffenlieferungen in Drittländer abhalten. Wir werden keinen Nazi zur Umkehr bewegen, wenn Kasernen geschlossen werden. Was ich mir wünsche ist etwas Verständnis und Fairness gegenüber dem Menschen, der in der Uniform steckt, der sein Tun jeden Tag hinterfragt und die Arbeit erledigt, die Moralisten wohl kaum erledigen möchten. Die größten Kritiker der Bundeswehr sind die, die jeden Tag ihren Dienst leisten. Sie symbolisieren für mich bald 70 Jahre Frieden in diesem Land. Dafür haben sie meinen tiefsten Respekt.

Und damit schließe ich für mich dieses Kapitel … vielleicht bis zur Seniorenfahrt mit dem Bundeswehr Sozialwerk e.V.