Respekt

Die liebsten Themen über die mein Vater mit uns Kindern sprach und diskutierte, waren moralische Werte, die das gemeinschaftliche Leben von Menschen bestimmen. Dazu gehörten Werte wie Toleranz, Weltoffenheit oder auch Respekt. Ich muss zugeben, dass uns diese Gespräche sehr prägten, auch wenn wir uns oft und gerne mit anderen Dingen beschäftigt hätten, als mit dem Vater verbal die Welt zu verändern, beziehungsweise uns seine Sicht der Dinge predigen zu lassen. Nur gerade die Sache mit dem Respekt geht mir in diesen Tagen nicht mehr aus dem Kopf, nachdem ich ein Video zur Gedenkstunde für die Opfer des Nationalsozialismus im Bundestag gesehen hatte.

Respekt hatte für uns zwei Aspekte: Auf der einen Seite war mein Vater eine respekteinflößende Persönlichkeit. War er in einem Raum, richtete sich auch die Stimmung im Raum nach ihm. Sprach er ein Machtwort, war es schwer sich dem zu widersetzen. Das mussten wir tatsächlich lernen. Andererseits brachte er uns bei, dass unser Respekt tatsächlich nur Menschen gelten sollte, die sich diesen Respekt durch ihre Haltung, ihre Ansichten oder Taten auch verdient haben. Damit ist nicht die Hochachtung gegenüber anderen Menschen gemeint, die man grundsätzlich haben sollte. Er vertrat die Ansicht, dass ein Arzt, Lehrer, Politiker oder andere Honoratioren nicht per se Respekt zu erwarten hätten, sondern sie sich diesen immer wieder verdienen müssen. Genauso wie sich jedes Mitglied einer Gemeinschaft Respekt verdienen muss. Er verlangte allerdings nie etwas von anderen, was er nicht selber zu geben bereit war. Verdiente sich also seinen Respekt nach seinem eigenen Anspruch, was für uns Kinder nicht immer einfach war.

Seine Ansicht über Respekt hatte ich sehr schnell begriffen und verinnerlicht, da ich es logisch fand. Natürlich legte ich dem meine eigenen Maßstäbe zugrunde. Auch ist mir immer schon schwer gefallen, nicht zu sagen was ich denke. Das hat mir in meiner Schulzeit einige Schwierigkeiten mit den Lehrern eingebracht, die ich oft nicht sehr respektabel fand. Nur das Prädikat Lehrer, und das hatte ich ja zuhause gelernt, taugte nicht automatisch dazu meinen Respekt zu bekommen. Zur Diplomatin taugte ich in meiner Oberschulzeit genauso wenig, wodurch ich es mit so manchem Lehrer nicht sehr einfach hatte. Aber es gab sie trotzdem, die Lehrer vor denen ich großen Respekt hatte und die habe ich bis heute in guter Erinnerung. Die anderen natürlich auch.

Die Sache mit der Diplomatie und dem Respekt rückte sich für mich in den anfänglichen Berufsjahren in etwas machbare Bahnen. Ich lernte auch mit Menschen auszukommen, die in keiner Weise meinen Respekt besaßen, ohne dass sie es gleich merkten mussten. Es galt schon seit den Bauernkriegen „Die Gedanken sind frei, wer will sie erraten.“ Ich lernte außerdem zu erkennen, wen ich aufgrund seiner Persönlichkeit, seinen Ansichten oder seinem Tun respektierte. Ich denke, jeder von uns kennt Menschen, die er zutiefst bewundert und respektiert. Es waren viele, die ich auf meinem Weg in guter Erinnerung habe, wobei völlig bedeutungslos ist, wo derjenige in der gesellschaftlichen Rangordnung steht.

Was mir immer schon schwer fiel, fällt mir heute noch schwerer: Ich schaffe es nicht einen amerikanischen Präsidenten zu respektieren, nur weil er der mächtigste Mann der Welt sein soll. Ich konnte den vorherigen respektieren, der deutlich seine Achtung vor allen Menschen zeigte und dessen Worte oft meine Bewunderung weckten. Genauso wenig schaffe ich es vor deutschen Politikern Respekt zu haben, nur weil sie in unserem Bundestag sitzen. Ich zolle vielen Respekt, weil das Amt, das sie ausfüllen, nicht eins der leichtesten ist, auch wenn sie es sich selber ausgesucht haben. Ich habe Respekt vor einigen Kommunalpolitikern, die in meinem Umfeld Dinge zum positivem verändern.

Neu ist für mich, dass ich Abscheu vor Politikern empfinde. Es ist egal, welcher politischen Partei man den Vorrang gibt. Mit der aktuellen politischen Situation ist wohl kaum einer wirklich zufrieden. Dennoch gibt es Themen im Bundestag, die von allen politischen Parteien getragen werden sollten und einen einstimmigen Konsens erwarten lassen. Gerade bei diesen Themen, die die Grundwerte unserer demokratischen Ordnung betreffen, sollten sich alle Politiker vorbildlich verhalten und der menschlichen sowie geschichtlichen Verantwortung, die wir tragen, Rechnung zollen. Ich sah die Reden des Bundestagspräsidenten Wolfgang Schäuble und der Holocaust-Überlebenden Anita Lasker-Wallfisch im Bundestag, die dazu aufgerufen hat, die Verbrechen des Nationalsozialismus nicht zu vergessen. Und ich sah, wie sich die Politiker der Partei, die keine Alternative ist, dazu verhielten. Verzogene Gesichter, gequältes Klatschen, zögerliches Aufstehen und verweigerter Respekt gegenüber dem Bundestagspräsidenten und einer Frau, die eins der schlimmsten Verbrechen an Menschen überlebte. Gewählte Volksvertreter, die sich im höchsten Gremium der Bundesrepublik, derart daneben benehmen, dass man wirklich nur noch fassungslos zuschauen kann. Mögen diese alternativlosen Politiker in ihrem Programm stehen haben, was sie wollen. Ein derartiges Verhalten ist ganz einfach ekelhaft und verabscheuungswürdig. Das sind Politiker, die nicht für, sondern gegen die Menschen arbeiten. Politiker, die Dummheit dazu nutzen um politische Stellungen einzunehmen und Macht auszuüben. Es dauert lange, bis ich so etwas sage, aber das sind Politiker, gegenüber denen ich schlicht Verachtung empfinde – gewählte Volksvertreter oder nicht.

Ich habe Respekt vor jedem, der einen Menschen aus fremden Ländern bei sich aufnimmt. Vor jedem, der alles aufgegeben hat um sich selbst und seine Familie zu retten. Vor jedem, der ehrenamtlich viel Zeit für geflüchtete Menschen opfert und dadurch bereichert wird. Ich habe Respekt vor jedem, der über Religionsgrenzen und Nationalitäten hinweg Freundschaften pflegt. Vor jedem, der sich für Obdachlose einsetzt oder sozial benachteiligten Menschen eine Freude macht. Ich habe Respekt vor einem Menschen, der auf der Straße lebend, überlebt. Respekt vor so vielen Menschen, die alle auf ihre Weise Wege durch ihre Lebensräume finden.

Respekt hat noch eine andere Bedeutung. Es ist die Angst. Angst, dass wir zu lange still bleiben. Das wir die Zeichen der Zeit nicht erkennen und einer Wiederholung der Geschichte entgegen gehen. Wir leben in einer Zeit, in der die letzten Beteiligten des letzten Krieges von uns gehen. Die Wunden der Zeit sind bis heute nicht ausreichend aufgearbeitet. Die Jüngeren haben keine Verbindung mehr dazu. Ich habe Angst, dass wir vergessen, wiederholen, bereuen. Unsere Vorfahren hatten schon einmal Respekt vor einem kleinen Gefreiten, der Politiker wurde. Mein Vater hatte es erlebt und es hat seine Ansicht von Respekt geprägt. Suchen wir diejenigen, die unseren echten Respekt verdienen und verdienen diesen uns selber, in dem wir uns dem entgegen stellen!

ZDF heute – Gedenkstunde im Bundestag – Lasker-Wallfisch: „Leugnen darf nicht sein“

Das Erste – Kontraste – AfD-Fraktion während der Gedenkstunde

Das hässliche Entlein war schon immer ein Schwan!

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Foto: © Pefkos Fotolia.com

Es waren verschiedene Dinge zu erledigen, was bedeutete, dass ich eine Weile im Auto sitzen würde. In Berlin sind die Wege manchmal recht weit. Kurzfristig erklärt Tochter 2, dass sie mitkommt. Was das bedeutet, war mir gleich klar, weil dieses Kind eine sehr feine Antenne dafür hat, wann Mutter beide Ohren offen hat und ihr zuhören muss. So kam es dann auch: Kind 2 … seit jeher vom Augen aufmachen morgens bis Augen schließen am Abend sehr kommunikativ … erzählte und erzählte. Als ich schon glaubte, dass es nichts mehr zu erzählen gab, fragte sie mich, ob ich schon von der „Don’t judge challenge“ gehört hätte. Hatte ich nicht.

Sie erklärte mir, dass das ein Wettbewerb sei, der gerade durch die Netzwerke, besonders in Facebook, läuft. Es werden Video-Sequenzen gezeigt, in denen sich Jugendliche besonders hässlich machen, um später deutlich zu machen, dass sie in Wirklichkeit recht gut aussehen. Das machen sie um zu zeigen, dass man nicht gleich nach dem ersten Eindruck über Menschen urteilen sollte. Soweit alles klar – das sollte ja jedem einleuchten. Nun sei aber diese Challenge in Verruf geraten, weil viele behaupten würden, das die Jugendlichen dies nur machen um ihr Ego zu streicheln und zu zeigen, wie toll sie aussehen. Kind 2 hatte eine andere Meinung. Den Stau auf der Straße kurz vor dem Autobahnzubringer nutzt sie um mir solch ein Video zu zeigen. Mehrere Leute hintereinander zeigen sich hässlich angemalt, legen nach kurzer Zeit die Hand vor die Linse um danach wieder vollkommen hübsch zu erscheinen. Dabei auch ein Mädchen, das anfänglich recht normal aussieht, sich aber nach dem Verdecken mit der Hand als Krebspatientin entpuppt und lächelt. Wow, denke ich, das ist bemerkenswert!

Meine Tochter erzählt mir von ihrer Idee, dazu einen Beitrag in Facebook zu posten (so heißt das dort). Sie hätte kürzlich ein Foto von sich selber gefunden auf dem man ihre Akne (die ehemalige) besonders gut sieht. Dazu wollte sie den Ist-Zustand stellen und ihre Meinung dazu schreiben – eben dass sie diese Challenge recht gut findet. Wir diskutierten ein bisschen hin und her. Ich gab zu bedenken, dass der Text gut geschrieben sein müsse und sie sich dadurch natürlich angreifbar macht. Es gibt manchmal einfach sehr dumme Leute in diesen Netzwerken. Die Diskussion endete nicht, weil wir nichts mehr dazu zu sagen hatten, sondern weil wir Zuhause ankamen.

Später nach dem Abendessen bekam ich noch mit, dass Kind 2 auch Kind 1 von der Idee erzählte. Was Kind 1 davon hielt, bekam ich nicht mehr mit. Die beiden besprechen viele Dinge untereinander und soweit ich weiß, finden sie meistens einen Konsens. Ich saß wieder am Computer und arbeitet. Kurze Zeit später sah ich in Facebook einen recht langen Beitrag meiner Tochter, den ich unverändert hier einfüge:

annaschmidt-berlin.com_akne

„Hier mein kleiner Beitrag zur Don’t judge Challenge.

Als ich das erste mal ein solches Video gesehen habe, war ich nicht einmal negativ abgeneigt davon, sondern ich fand es amüsant. Der eigentliche Gedanke der Challenge war, dass man nicht auf den ersten Blick urteilen sollte.

Ich habe diese ‚Challenge‘ als ‘Aus hässlichem Entlein wird schöner Schwan’-Effekt gesehen. Das einzige was ich anders gemacht hätte, wäre der Aufbau dieser Challenge gewesen. Von einem gestylten Menschen, zu einem völlig normalen und natürlichem Aussehen, so wie jeder von uns morgens in den Spiegel schaut.

Ich persönlich habe bis vor sieben Monaten, acht Jahre lang mit extremer Akne zu kämpfen gehabt. Ich habe versucht mit Cremes, Tabletten, Ernährungsumstellung, Hautkuren und vielem mehr, dem ganzen entgegen zuwinken. Hoffnungslos! 
Und ganz ehrlich ich fühlte mich unwohl, ungepflegt und hässlich. 
Manchmal stand ich vor dem Spiegel und hab mich gefragt warum ich Akne haben muss. Dem ist einfach so und das sollte man nunmal nicht leugnen. 
Nach gewisser Zeit habe ich versucht meine Akne zu verstecken. Mit Make-up. Das Make-up hat ungefähr eine Stunde gehalten, danach sah alles wie ungeschminkt aus. Aber trotzdem versuchte ich es jeden Tag aufs neue mein Gesicht mit Make-up zu überschminken und somit vor blicken zu verstecken. Soviel, dass meine Haut gar nicht mehr atmen konnte. 
Dadurch entwickelte ich eine kleine Make-up-Sucht die mich bis heute auch ohne Akne noch begleitet.
An manchen Tagen wollte ich nicht aufstehen, weil ich mich selbst schämte und neidisch auf die Haut der anderen war.
Mittlerweile habe ich keine Akne mehr und ich fühle mich wohl damit und mein ganzes Selbstbewusstsein hat sich nochmal gestärkt.
Trotzdem habe ich es den anderen Menschen gegönnt eine so schöne und glatte Haut zu haben.

So auch in der ‪#‎dontjugechallenge . 
Die Leute die da mitmachen haben ein so schönes Aussehen, sei es ein Mädchen mit Make-up, eine Krebskranke, eine Türkin mit Kopftuch, eine die sich abschminkt. Alle sehen super nach ihrer ‚Verwandlung‘ aus! Das sei ihnen auch gegönnt ihr gutes Aussehen zu präsentieren, warum denn auch nicht?
Und darum gehts, aus jedem kleinem hässlichem Entlein kann und wird mal ein schöner Schwan. 
Seht es mit Humor.

Und nur weil sie gut aussehen und das auch zeigen ist das oberflächlich von ihnen? 
Ja klar, Charakter ist das wichtigste aber seh ich in einem solchen Video welchen Charakter ein Mensch wirklich hat? Eben nicht. Weswegen ich ihn auch nicht auf den ersten Blick, egal wie er nun ausschaut, verurteile bzw. rückschließe wie er nun ist. Was eben der Ursprungsgedanke dieser Challenge sein sollte.

Alle sagen wir sollen Menschen so sein lassen wie sie sind, dann lasst uns es doch bei allen tun, auch nicht die Menschen verurteilen, die ein Don’t judge Video drehen. Egal ob dick, dünn, glatte Haut, Akne.

Mittlerweile ist unsere Gesellschaft auf Schönheitsideale und Moralpredigten über Schönheitsideale so eingefahren, dass wir mittlerweile den Humor an uns selbst verloren haben. 

Lasst uns unsere mittlerweile so verklemmte Gesellschaft mit ein bisschen Humor auflockern und Spaß an der ganzen Sache haben.“

Als ich es gelesen hatte, war ich sehr betroffen. Erst einmal allein von der Tatsache, dass ich mein Kind durch die Jahre mit dieser Akne begleitet habe, sie unzählige Male zur Kosmetiksprechstunde gefahren habe und wir oft über dieses Leid gesprochen haben. Wie es tatsächlich in ihr drinnen aussieht, was diese Akne für sie bedeutet, wurde mir jetzt erst richtig klar. Man kann als Mutter 100 000 Mal sagen: „Du bist trotzdem hübsch!“ oder „Es wird wieder gut!“, aber es hilft dem Kind nicht wirklich. Auch ohne Akne, kann ein einziger Pickel schon zu gewaltig schlechter Laune führen, seien wir ehrlich. Hinzu kam meine Hochachtung für meine Tochter. Öffentlich zu zeigen, wie schlimm es bei ihr aussah und wie es geworden ist, diesen Mut aufzubringen und gerade für ihre Meinung einzustehen. Prima fand ich auch die Art und Weise … zwar hat sie vorher gefragt, was ich davon halte, aber letztlich mir den Text nicht einmal vorher zum Lesen gegeben. Es war einfach im Netz. Sie äußert und vertritt ihre Meinung selbstbewusst! Sie hat unglaublich viel Zustimmung dafür bekommen. Eine Freundin fragte, ob sie es teilen dürfe, es würde so viel Mut machen.

Mir blieb nur noch „Respekt!“ unter ihren Beitrag zu schreiben … für mich waren, sind und werden meine Töchter immer schöne Schwäne sein – innerlich wie äußerlich – die Entlein gibt’s nicht mehr.

Angekommen

annaschmidt-berlin_angekommen

 

Im Rheinland hatte ich eine Freundin mit der ich mich über unseren damaligen Wohnort unterhielt. Ich lebte mit meiner Familie für unsere Verhältnisse schon lange in dem kleinen Ort am Rhein. Diese Freundin erzählte mir damals, dass sie in diesem Ort aufgewachsen ist, ihre Eltern dort geboren und aufgewachsen sind und auch die Großeltern das gleiche erlebt hatten. Alle hatten im gleichen Haus gewohnt, entsprechend der Generation in der unteren oder oberen Etage. Sie erzählte auch, dass sie sich nichts anderes vorstellen könnte als dort zu wohnen, nicht mal im Nachbarort. Dieses Gespräch hat mich damals unwahrscheinlich beeindruckt, so dass ich es nie vergessen habe. Immer am gleichen Ort zu leben war für mich damals mit einem Gefühl zwischen Hochachtung und Mitleid belegt. In jedem Fall war es für mich suspekt, was das für eine Sorte Mensch sein konnte, die sich mit einem Ort in der Welt zufrieden gab.

Ich hatte es anders erlebt. Zu meiner Kindheit und Jugend gehörten Umzüge. Der Vater war bei der Bundeswehr und die Familie gewöhnt dort zu leben, wo er eingesetzt wurde. Zuhause war dort, wo die Eltern lebten. Alles andere war austauschbar und zu ersetzen. Uns war sehr bewusst, dass wir viel gesehen und erlebt hatten und wirklich viele Menschen kannten. Oft Bundeswehrangehörige, denen es genauso ging wie uns. Der Satz „Nette Menschen gibt es überall, es kommt nur darauf an, wie man selber auf sie zugeht!“ prägte uns von Kindheit an. Was wir nicht hatten, waren Jugendfreunde, aber das wurde uns erst später bewusst. Nach dem Gespräch mit der Freundin kamen noch viele weitere Umzüge dazu. Wegen der Ausbildung, wegen verschiedener Arbeitsstellen, wegen der Liebe und der letzte Umzug mit der Liebe, sprich dem Ehemann, gemeinsam. Die Republik hatte ich von unten nach oben durch, auch das Ausland war dabei. Der letzte Umzug ging in die große Stadt. Wir waren in Berlin gelandet.

Nun ein Zeitsprung von 20 Jahren: Wir leben immer noch am gleichen Ort und im gleichen Haus. Für mich etwas ganz Besonderes. Wenn mich früher jemand fragte, woher ich komme, sagte ich mit einem Grinsen, ich sei Kosmopolit. Heute weiß ich nicht mehr genau, was ich bei der Frage antworten soll. Ich empfinde mich nicht als Berlinerin, aber ich fühle mich Zuhause. Das liegt nicht an Berlin, das hängt mit meinem kleinen Bezirk zusammen. Manche sagen mein „Kiez“, und auch wenn ich das Wort nicht mag, so drückt es doch aus, was mich verbindet. Es ist ein sehr vertrautes, inniges Gefühl für das unmittelbare Umfeld. Ich kenne mich hier aus, kann wie im Schlaf meine Wege gehen. Ich weiß, wohin ich mich wenden muss um bestimmte Dinge zu erreichen. Es gelingt fast nicht mehr einen Einkauf oder Hundespaziergang zu Ende zu bringen, ohne gegrüßt zu haben oder eine kleine Unterhaltung mitzunehmen.

Berlin kann so dörflich sein. Ich habe oft zu den Kindern gesagt, dass sie sich gut überlegen sollten, mit wem sie sich verzanken. Wir haben mehrfach erlebt, dass wir zu Wegbegleitern den Kontakt verloren und sie in vollkommen anderen Zusammenhängen wiedergetroffen haben. Wenn ich mit den Kindern durch die Straßen gehen, ist eine häufige Frage „Woher kennst du den denn?“. Die Kinder sind echte Berlinerinnen. Hier geboren, aufgewachsen, verwurzelt und heimisch. Sie kennen nichts anderes und bei Diskussionen um Auslandsjahr oder Ausbildung an fremden Orten, staune ich über die hartnäckige Weigerung einer Tochter, woanders hinzugehen. Wir erleben immer öfter bei Menschen, dass sie jemanden kennen, den wir kennen und Querverbindungen entstehen. Bei einem Hundespaziergang kam ich mit einer Frau ins Gespräch, die ich seit zwei Jahren vom sehen kannte und grüßte. Bei dem Gespräch kam heraus, dass sie eine Freundin hat, die wiederum Freundin einer meiner Freundinnen ist, mit deren Kinder unsere Kinder befreundet sind. Verstanden? Nicht wichtig. Jedenfalls kannte ich den Namen der Frau viele Jahre bevor ich die Frau selber kennenlernte.

Was ich an unserem kleinen Bezirk besonders schätze und liebe ist, dass ich gar nicht mehr umziehen muss um nette und neue Menschen zu finden. Die Auswahl ist riesig, abwechslungsreich, spannend und multikulturell. Es kommt eben wirklich auf uns selber an, wie wir uns dem Umfeld öffnen und neue Menschen in unser Leben lassen. Hier sind wir ein Teil des Umfeldes geworden und genießen sehr, dass wir „alte Hasen“ geworden sind. Zu „alten Hasen“ gehören auch alte Freundschaften, etwas dass es in meiner Jugend nicht gab. Freunde und Bekannte geben uns Sicherheit, Abwechslung und schenken uns viele schöne Gemeinsamkeiten und Momente im Jetzt. Wir haben Wegbegleiter mit denen wir Erinnerungen aus 20 Jahren teilen können und gemeinsam älter werden. Wir können bei manchen Entwicklungen mitreden, weil wir sie durch die Jahre begleitet haben. Wir haben gesehen, wie die Kinder von Nachbarn von den Windeln bis zum Abitur groß wurden. Wissen, wer in den benachbarten Häusern wohnt und genießen eine freundschaftliche, unaufdringliche Nachbarschaft. Es ist Geborgenheit, die uns hier begegnet, ohne das Gefühl zu bekommen gebunden oder kontrolliert zu sein.

Heute sind mir Menschen, die immer an einem Ort leben nicht mehr suspekt. Mein Gefühl ihnen gegenüber ist Verständnis und fast ein bisschen Neid. Dennoch bin ich froh, dass ich beide Seiten kenne und das prickelte Gefühl erlebt habe, eine neue Stadt zu entdecken und kennenzulernen. Aber ich vermisse das Gefühl nicht mehr, etwas entdecken zu müssen. Ich lebe hier in einer Stadt, die mir jeden Tag die Möglichkeit bietet neues zu entdecken und mich dennoch in den vertrauten Bezirk zurückzuziehen kann. In der jeder nach Vorliebe seinen Platz und Akzeptanz finden kann. In einer Stadt, in der ich die Straßennamen kenne. Die spannend ist, Möglichkeiten bietet mitzumachen und sich einzumischen. Es ist eine Stadt, die beides hat – Großstadtflair einerseits, Parks und ruhige grüne Plätze andererseits. Sie ist laut und leise, Weltstadt und doch dörflich, offen und problembeladen, modern und alt zugleich.

Wir streben nicht an, mit der dritten Generation gemeinsam in einem Haus zu leben. Wohin es die Kinder einmal zieht, wird die Zeit zeigen. Wir haben unsere Entscheidung getroffen. Wir werden hier bleiben. Nicht mehr umziehen. Werden noch mehr in diesen Bezirk eintauchen und Teil davon werden. Ich habe immer noch das Gefühl in jeder anderen Stadt leben zu können, aber ich will nicht mehr, denn dieser Platz ist eben nicht austauschbar und zu ersetzen. Er ist einzigartig, vertraut und gehört zu unserer kleinen, meist heilen Welt. Wir sind genau in diesem Monat im 20. Jahr angekommen.