Redet drüber … Sucht!

Es ist fast wie eine alte Gewohnheit: Wenn ich in einer Zeitung oder in sozialen Netzwerken einen Artikel finde, der „Sucht“ zum Thema hat, muss ich ihn lesen. Ich lese diese Artikel immer sehr kritisch. Wenige schaffen es, mir neue Erkenntnisse aufzuzeigen, selten finde ich etwas, was mich fesselt und zu Ende lesen lässt. Kürzlich hat mich meine Schwester auf einen Bericht aufmerksam gemacht, der mich nicht nur sehr ansprach, sondern der sowohl meine Erfahrungen deckte, als auch einen anderen Weg im Umgang mit Sucht offenbarte. Die Headline des Beitrags im Business Insider Deutschland lautet: „Studie zeigt eine unbequeme Wahrheit über Sucht“. Der Beitrag beginnt mit dem Satz: „Das Wort Sucht – … – ist negativ konnotiert. Wir bezeichnen Sucht als eine Störung und Betroffenen wird von der Gesellschaft ein Problem zugesprochen.“

Die Gesellschaft jedoch ist, nach meiner Ansicht, ein großer Teil des Problems, wenn es bei uns um das Thema Sucht geht. Süchtige stehen außerhalb der Norm. Was nicht die Norm erfüllt, gehört geächtet. Die Form der Sucht spielt dabei keine Rolle. Sucht ist nicht gesellschaftsfähig. Wer süchtig ist, wird abschätzig betrachtet, möglichst totgeschwiegen, aus den eigenen Reihen verwiesen. Über Sucht wird nicht gesprochen, jedenfalls nicht öffentlich, weil es ja vermuten ließe, dass man selbst Betroffener ist, als Angehöriger oder Süchtiger. Betroffen sein bedeutet Schwäche, deutet auf ungelöste Probleme hin, falsche Erziehung und lässt Fehler in der Lebensführung oder im Miteinander vermuten. Zu gerne wird negiert, dass es einen selbst treffen könnte. Zu gerne vergessen, dass Sucht keinen sozialen Status kennt und zu gerne übersehen, dass Sucht überall in unserer Gesellschaft präsent ist.

Ich bin betroffen und damit auch meine Familie. Ich könnte auch sagen „Ich war betroffen“, aber auch dafür hat die Gesellschaft eine Form gefunden, die mich sozusagen lebenslang „ächtet“. Ich bin, wenn es nach der Gesellschaft geht, eine „trockene Alkoholikerin“. Ich verabscheue den Begriff, denn ich bin weder „trocken“, noch „Alkoholikerin“. Ich habe vor 20 Jahren geschafft, meinem Leben die entscheidende Wende zu geben und für mich beschlossen, das Alkohol keine Rolle mehr in meiner Lebensführung spielen wird. Den Entschluss fasste ich selber, den nötigen Rückhalt dafür gab mir meine Familie und mein Freundeskreis. Wer jetzt erwartet, dass ich hier von dem Grauen der Sucht und dem elendigen Weg daraus erzähle, braucht nicht weiterlesen. Das werde ich nicht tun, denn seither ist jeder Tag für mich besser gewesen als die Tage davor. Ich genieße mein Leben, ich lebe bewusst und bin die Summe dessen, was ich erlebt habe, wozu auch sehr düstere Tage gehören. Aber ich bin nicht bereit, ein lebenslanges Stigma zu tragen, nur weil unsere Gesellschaft Sucht nicht offen bespricht. Jeder anderen Krankheit wird mit Betroffenheit begegnet, aber Sucht nicht als Krankheit anerkannt, sondern als Makel empfunden.

Natürlich gab es Gründe für meine Sucht, trotz dessen, dass ich eine glückliche Kindheit und eine große Familie hatte und habe. Nur spielt es hier keine Rolle, welche Gründe dazu führten, die vielfältigster Art sein können. Ich kann nur versichern, dass es tatsächlich jeden treffen kann, sei man sich auch noch so sicher gefeit zu sein. Entscheidend, wenn man denn in die „Falle“ getappt ist, ist die eigene Erkenntnis und der Wille sich zu befreien. Das passiert im Kopf und so bezeichne ich es immer als „Kopfsache“. Die körperlichen Symptome bekommt man je nach Substanz recht schnell in den Griff. Viel schwieriger ist es, den eigenen Geist zu überzeugen, dass das Ende der Sucht als lebensrettender Entschluss zu sehen ist. Wir verlieren nichts, sondern können nur gewinnen!

Ich fasste meinen Entschluss vor 20 Jahren auf dem Weg in ein Krankenhaus. Im Zuge der anschließenden Therapie wurden Patienten verpflichtet die verschiedenen Gruppen kennenzulernen, die Alkoholsucht zum Thema hatten. So saß ich an einem Abend in einem recht dunklen Raum, in dem die Gruppenmitglieder um einen Tisch saßen. Es waren die Anonymen Alkoholiker, bei deren Begrüßungsritual jeder Teilnehmer sagt: „Ich heiße Soundso, bin seit … anonymer Alkoholiker …“ und fügt dann noch ein/zwei Sätze zur aktuellen Verfassung an.  Irgendwann war Ingrid an der Reihe und sagte: „Ich heiße Ingrid, ich bin seit 7 Jahren anonyme Alkoholikerin und ich leide seit 7 Jahren unter meiner Sucht!“ Das war aus meiner heutigen Sicht der Moment in meinem Leben, in dem ich Optimist wurde. Ich saß mit großen Augen dort, hörte die anderen kaum mehr und dachte für mich, dass ich mich nicht der ganzen Mühe unterwerfe meine Sucht zu besiegen um den Rest meines Lebens zu leiden. Ich wollte leben, bewusst und jeden kommenden Tag genießen.

Das gelang natürlich nicht sofort, aber es wurde immer besser. Meine Familie und Freunde mussten wieder Vertrauen in mich gewinnen. Ich musste die Ernsthaftigkeit zeigen, mein Leben zu stabilisieren. Ich wurde stärker, physisch, wie psychisch und gewann meine frühere Persönlichkeit nicht nur zurück, sondern gewann eine veränderte, selbstbewusstere hinzu. Etwa zwei Jahre nach der Therapie hatte ich hin und wieder noch das Gefühl, dass mir „Alkoholikerin“ auf der Stirn geschrieben steht. Doch irgendwann merkte ich, dass es außer mir selbst, niemanden mehr interessierte. Die Menschen um mich herum bewerteten mich nach dem, wie sie mich aktuell erlebten. Natürlich habe ich nicht jedem gleich erzählt, was ich erlebt hatte, aber hin und wieder ergab es sich doch aus Gesprächen. Niemals in den vergangenen Jahren erlebte ich dadurch Ablehnung. Immer Anerkennung und oft die gegenseitige Öffnung, dass mein Gegenüber ähnliche Erfahrungen gemacht hatte. Diese anderen waren immer starke, in sich ruhende Menschen, die ihr Leben im Griff hatten und genau wussten, was sie nicht mehr wollten. Es kann tatsächlich jeden treffen und wenn man aufmerksam zuhört, ist es erstaunlich, wie viele Menschen betroffen sind.

Wäre es nach der gesellschaftlichen Meinung gegangen, hätte ich damals „erst mal in der Gosse landen müssen“, hätte mein Umfeld verlassen müssen um, eine Chance zu haben, hätte mich später still und ohne Stressfaktoren bewegen müssen. „Einmal ‚Suchti‘, immer ‚Suchti‘“ ist die gängige Meinung. Hin und wieder hörte ich Gespräche mit Leuten, die diese Meinungen vertraten. Ich habe nichts dazu gesagt, sondern sie nur still für mich zu den Dummen stellt.

Ich habe nichts von dem getan, was in der Allgemeinheit für richtig gehalten wird, um einen Weg aus der Sucht zu finden. Ich habe mich nicht verkrochen, sondern den Weg in den Beruf wiedergefunden. Ich blieb in genau dem Umfeld, welches ich vorher hatte. Ich habe Alkohol nicht aus meinem Leben verbannt, sondern kann jedem Gast ein Glas Wein anbieten oder eingießen und gönne es ihm von Herzen. Ich habe keinen Psychologen konsultiert oder eine Gruppe besucht, die mich auf Jahre an eine schwache Lebensphase erinnert. Ich ging meinen – glücklichen – Weg.

Möglich wurde das, weil meine große Familie, meine Freunde und mein Ehemann im entscheidenden Moment erkannten, dass es mir ernst war. Auch vorher ließen sie mich nicht fallen, sondern zeigten mir ihre Grenzen auf, bekräftigten immer wieder die Möglichkeiten mir zu helfen, aber gaben mir trotz Abhängigkeit, das Gefühl nicht alleine zu sein. Mit meinem Mann habe ich zwei wunderbare Kinder aufgezogen. Natürlich interessierten die sich im gewissen Alter für Alkohol. So haben wir frühst möglich mit ihnen meine Problematik kommuniziert und sie ihre Erfahrungen mit Alkohol machen lassen. Einen heilsamen „Kater“ hatten beide, den die Mutter half auszukurieren.

Ich bin nicht stolz auf das, was ich erlebt habe, aber stolz darauf, was ich daraus gemacht habe. Es gehört zu mir und hat mein Wesen verändert. Ich wurde aufgefangen, bekam Grenzen aufgezeigt, bekam Halt und Zuneigung als ich sie am dringendsten brauchte. Ich habe gelernt Hilfe annehmen zu können. Das Wunderbare ist, dass ich heute in der Lage bin, das was ich bekam, weiterzugeben. Ich helfe, wem ich helfen kann, und sei es nur dadurch, dass ich eine positive Lebenseinstellung teile. Dabei ist mir vollkommen klar, dass ich ideale Bedingungen und die richtigen Menschen um mich hatte, um das zu schaffen. Nicht selten endet Sucht in hilfloser Ohnmacht und Tod.

Sucht ist kein Makel. Eine Krankheit allemal und eine Falle, in so vielfacher Form, dass man sich hüten sollte, sich sicher zu fühlen. Ich bin dankbar, dass ich ihr entkommen bin und Menschen hatte, die mich begleiteten, unglaubliche Kraft mobilisierten mich zu stützen, mit mir redeten, mir meine Chance gaben und bis heute bei mir sind. Es sind die Menschen, die praktiziert haben, was im letzten Satz des oben erwähnten Beitrags steht: „Anstatt Süchtige zu hassen und sie zu isolieren, sollten wir eine warmherzigere Gesellschaft aufbauen.
Wenn wir die Art und Weise anpassen, wie wir uns miteinander verbinden und Menschen helfen können, durch ihr normales Leben erfüllt zu werden, kann Sucht in Zukunft ein geringeres Problem werden.“

Redet drüber!

 

Die Freiheit muss lebenswert sein …

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Sprachlosigkeit, Schock, Mitgefühl, Wut, Angst, Fassungslosigkeit, Trauer, Ohnmacht, Innehalten. Alles durcheinander. Suche nach Orientierung, suche nach Antworten und der eigenen Position. In Gedenken der Opfer! Ein schwerer Tag für alle – der Tag danach, dem viele weitere folgen werden, an denen wir Halt finden müssen – Hoffnung aufbauen und Stärke beweisen müssen. Trost suchen!

Die Antwort darf niemals Hass sein, nicht Gewalt und auch nicht Hetze.

Die Freiheit muss verteidigt werden, die freien Werte, freie Meinung, freie Lebensform … jeder auf seine Weise – jeden anderen achtend.

Leichte Worte … in meinem sicheren Haus … dennoch dürfen wir uns dem Terror nicht beugen, woher er auch immer kommen mag.

Die Freiheit muss lebenswert sein – für dich, den Fremden, den Freund, den Andersdenkenden, für mich … genug Worte!

Stacheldrahtzaun oder Betonelemente – schon vergessen?

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Das Gefühl ist im Nachhinein schwer zu beschreiben … , wenn man davor stand, nach links und nach rechts schaute und kein Ende ausmachen konnte. Doppelter Stacheldrahtzaun oder Betonelemente verhinderten die Sicht auf das, was dahinter war. Allein das Bewusstsein, dass Selbstschussanlagen, Minenfelder, Hundelaufanlagen und andere Schikanen ein Durchkommen unmöglich machten, reichte aus, eine unglaubliche Ohnmacht und Beklemmung zu erzeugen. 

Einzig ein paar Grenzübergänge erlaubten ein Durchkommen, dies nur nach scharfen Kontrollen, unter Beobachtung und Bewachung von bewaffneten Grenzsoldaten. Bei Kontrollen, ob mit Auto oder Zug durch das Gebiet der DDR unterwegs, stets die spürbare Anspannung, welche Fragen von den Kontrolleuren gestellt werden würden, und die Erleichterung, wenn sie sich der nächsten Person zuwandten. Die Erleichterung, westdeutschen – freien – Boden zu betreten und das Gefühl zu haben, dass man nun wieder sagen darf, was man will. Der „antifaschistische Schutzwall“ war die euphemistische Bezeichnung der innerdeutschen Grenze des Ostens, der vor Übergriffen aus dem Westen schützen sollte. Ein Schutz, der letztlich über 45 Jahre 872 Menschen das Leben kostete. Vielen Menschen, die fliehen wollten, hat dieser „Schutz“ lange Gefängnisstrafen aufbürdete und Familien auf Jahrzehnte getrennt oder oft für immer entzweit.

Die Kinder der 50er und 60er sind mit dieser Mauer aufgewachsen und kannten nichts anderes. Sie mussten sich oft mit dem Vorwurf auseinandersetzten, das geschichtliche Erbe des letzten Weltkriegs der Eltern und Großeltern zu tragen, dessen Konsequenz diese Mauer war. Eine Mauer, die jeglichen Freiheitsgedanken, Rede- und Reisefreiheit, Selbstbestimmung immer wieder sichtbar außer Kraft setzte. Für beide Seiten – die einen, die nicht hinein konnten und die anderen, die eingeschlossen leben mussten. Für Berliner war es täglich gelebte Realität. Die Geschichte hatte jedoch einen anderen Plan und durch viele zusammenhängende geschichtlichen Entwicklungen, durch beherztes Agieren verschiedener Persönlichkeiten, wurde die Öffnung und letztlich Beseitigung möglich.

Der Mauerfall am 9. November 1989 wurde ein geschichtliches Ereignis, das bis heute tief in das Gedächtnis aller eingebrannt ist, die in irgendeiner Weise betroffen waren. Unzählig die Biografien, deren Verlauf sich durch diesen Tag drastisch änderte. Für die, die es erlebt haben sind die Tränen, die Freude und Euphorie noch heute spürbar, genauso wie die Unsicherheit und Angst vor der Zukunft. Bedeutend schließlich der 3. Oktober 1990, der beide ehemaligen Staaten wieder zusammenführte. Unbestritten, dass dieser Tag lediglich der Beginn einer gemeinsamen Entwicklung war und unzählig die Liste der persönlichen Geschichten, die im Verlauf der Jahre sehr positive, aber auch oft sehr negative Erfahrungen mit der Zusammenführung beiden Staaten machen mussten. Eine Geschichte der Akzeptanz, der Toleranz und Solidarität, die nicht immer ein gutes Bild auf die Bürger beider Seiten warf.

Die deutschen Kinder der späten 90er Jahre und 2000er, kennen diese Schilderungen nur aus den Geschichtsbüchern. Ihnen ist kaum zu vermitteln, was es bedeutet, wenn einem ein Ort verschlossen ist. Wenn man keine Möglichkeit hat, geliebte Menschen zu sehen oder zu sprechen, wenn man in irgendeiner Weise in seiner Freiheit sich zu bewegen, zu denken oder sprechen, durch äußere Willkür behindert ist. Das Gefühl der Beklemmung und Angst kennen sie nicht, da sie das Privileg genießen, in Friedenszeiten und einem zusammengeführten Staat zu leben. Es ist ein Segen, dass diese Kinder, Jugendlichen, jungen Erwachsenen unbelastet und frei aufwachsen. Nicht zuletzt, weil dadurch die Mauer, die oft noch in den Köpfen vorhanden ist, immer weniger wird und ein Zusammenwachsen des Ostens und Westens in einem Land voranschreitet.

Dennoch stellt sich die Frage, welche Aufgaben uns im Hinblick auf die letzten 70 Jahre erwachsen. Den Kindern, wie früher geschehen, eine Erbschuld aufzubürden, ist wohl der falsche Weg. Ihnen muss jedoch klar gemacht werden, dass es höchsten Stellenwert hat, diese Geschichte wach zu halten und aus ihren Erfahrungswerten zu schöpfen. Dies nicht ohne dass sich die älteren Jahrgänge der eigenen Verantwortung bewusst sind, da man oft gerne das Negative vergisst, wenn die Zeiten wieder gut laufen. Jedem muss der Stellenwert unserer Freiheit höher liegen, als die Angst vor Unbekannten.

Insbesondere bedeutet es für dieses Land, das Bewusstsein wach zu halten, was eine Mauer, eine Grenze, sei sie gedacht oder real, für das Leben von Menschen bedeutet. Eine Mauer kann kein Schutz sein, wenn sie die Schutzbedürftigen ein- und ausschließt und damit Freiheit beschränkt. Sie kann nicht verhindern, dass Strömungen von außen ins Innere dringen und Leben verändern. Sie kann keinen Ist-Zustand erhalten, ohne zu sehen, was an den Grenzen passiert. Gerade dieses Land müsste jeglichen Begrenzungen entgegenwirken, jedem Menschen ungehinderten Zugang erlauben und die Stärke beweisen, jedem Menschen ein Leben an jedem Ort zu ermöglichen.

Die Deutsche Einheit ist nicht zu trennen von vielen Geschichten über Flucht, Existenzangst, Familientrennung und menschlichen Schicksalen. Umso mehr stehen wir in der Verantwortung, Stacheldrahtzaun oder Betonelemente nicht zu vergessen. In der Verantwortung uns für Freiheit in jeglicher Hinsicht einzusetzen – eine Verantwortung, die richtigen Signale zu setzen und uns europaweit zu Verfechtern der Freiheit für allen Menschen zu machen. Den Wandel und die Zeichen der Zeit anzunehmen. Ganz gleich, woher die Menschen kommen, ganz gleich, welche Sprache sie sprechen, welche Geschichten sie mitbringen, ob sie Gast oder Landsmann bei uns werden wollen. Die Freiheit ist wie eine Pflanze, die trotz Stacheldrahtzaun oder Betonelemente immer wieder zum Licht wächst. Manchmal dauert es viele lange Jahre – Jahre, die viele Menschen gerade jetzt nicht haben.

Die Erinnerung bleibt

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Sie sitzt auf ihrem Findling im Garten und ihr Blick geht über den See. Sie schaut in die Ferne. Nicht in die messbare Ferne in Kilometern, sondern in die Ferne ihrer Erinnerungen, die nunmehr übrig bleiben. Gestern hatte sie mich noch gefragt, ob sie den Findling nicht wegräumen sollte. Dann erzählte sie aber, wie gerne sie immer auf dem Stein saß, wenn Schwester Longina, eine befreundete Nonne, zu Besuch kam und sie der Schwester beim Schwimmen im See zuschaute. Schon war sie wieder in den Erinnerungen und ihr Blick nicht mehr greifbar.

Die Oma, die wir kannten, gibt es nicht mehr. Vorangegangen war ein Infarkt, ein Krankenhausaufenthalt und eine Reha. Eine Zeit, in der Bangen, Hoffen und Wunschdenken sich die Klinke in die Hand gaben. Schließlich wurde sie nach Hause entlassen, mit einer vagen Prognose und einer perspektivischen Einschätzung der Ärzte, die den Angehörigen Mut, aber dennoch nichts Greifbares in die Hand gaben. Das Zuhause erkannte sie und der Auftrieb, der sie zu erfassen schien, gab wieder Hoffnung.

Mit den ersten Tagen zuhause kam die Erkenntnis. In den vertrauten Räumen findet sie die Türen nicht, die Anziehsachen liegen immer am falschen Ort, die Zahnbürste war im falschen Raum. Hunger und Durst kennt sie nicht, isst und trinkt nur, wenn sie dazu aufgefordert wird. Von einer Puppe, die immer am gleichen Ort liegt, sagt sie, sie sei gestohlen worden. Wenn man sagt, Nein, sie sitzt auf ihrem Platz. kommt ein kurzes Ach ja! um nach einer halben Stunde wieder zu erzählen, dass die Puppe weg sei. Beim Kaffeetrinken fragt sie alle paar Minuten, wo ich den Kuchen gekauft habe und ich gebe immer wieder die gleiche Antwort. In den Minuten dazwischen ist ihr Blick sehr weit weg … wo, wissen wir nicht.

Zwei Arztbesuche holen uns auf den Boden der Tatsachen. Die Augenärztin erklärt uns das eingeschränkte, irreversible Blickfeld, dass sie noch hat – Orientierung unmöglich – Infarktbedingt. Der Hausarzt erklärt uns den abschließenden Arztbericht der Klinik – selbstständiges Leben unmöglich – Infarktbedingt. Auch Infarktbedingt ist die Demenz, die keine Heilungschancen, eher das Gegenteil erwarten lässt. Wir fahren nach Hause, jeder in seinen Gedanken und beantworten auf der Fahrt wie einstudiert ihre wiederholte Frage, was das denn nun für ein Arzt gewesen sei – immer wieder.

Ohnmacht und ein leerer Tagesablauf sind die Folge. Immer angespannt und auf der Hut, wohin sie nun wieder läuft. Fragen, ob sie nicht trinken möchte, ob sie Hunger hat, wie es ihr geht. Schlafen tut sie schlecht und bei dem schlurfenden Geräusch ihrer Schritte in der Nacht sind alle wieder wach. Argwöhnisches beobachten, ob wir nicht doch wieder einen Funken der alten Oma entdecken, so wie sie früher war. Rundumbetreuung ist notwendig und selbst wenn sie stundenlang am gleichen Platz sitzt, trauen wir uns nicht, sie aus dem Blick zu lassen. Und immer wieder Gespräche zwischen uns, reden und erzählen, abwägen und besprechen, versuchen zu planen und überlegen, wohin es gehen soll. Dazwischen eigene Erinnerungen und die unlösbare Frage nach dem Grund. Und nach der Lösung. Hilflose Versuche ihr Verhalten in den letzten Monaten zu deuten.

Die Entscheidung … tut furchtbar weh und gleicht einem Scheitern. Wir erkennen, dass wir nicht in der Lage sind, diese Rundumbetreuung aufrecht zu erhalten und gleichzeitig unserem Leben, in dem wir an vieles gebunden sind, und unseren Kindern gerecht zu werden. Die Entscheidung ist getroffen, die Oma muss in einem Seniorenheim betreut werden. Dabei haben wir Glück, sofern man in diesem Zusammenhang von Glück reden mag. 200 Meter von unserem Haus ist eine Einrichtung, die auch einen Platz hat und sie sofort aufnehmen kann. Zwei Tage zwischen der Entscheidung und der Abfahrt, die gefüllt sind mit der immer währenden Frage, ob wir das richtige tun. Zwei Tage voll Zweifel und auch voll mit Schuldgefühlen, sie zu verraten. Manchmal, ganz unvermittelt, sagt sie Dinge, die im Zusammenhang passen und zeigen, dass sie durchaus noch Momente in der jetzigen Zeit hat. Momente, in denen wir verzweifeln und wünschten, dass dies alles nicht wahr ist.

Am Morgen vor der Fahrt läuft sie im Bademantel an mir vorbei in den Garten. Wohin sie denn möchte, beantwortet sie damit, dass sie in den See wolle, sich erfrischen. Das hat sie immer getan, jeden Morgen, teils bis in den November, in all den Jahren. Nun das erste Mal seit dem Krankenhaus. Ich sage, dass sie aber nicht hinaus schwimmen solle, platziere mich in angemessenem Abstand, passe auf sie auf und frage mich wieder einmal, ob das alles richtig ist. Warum jetzt? Warum geht sie ausgerechnet an dem Morgen, an dem wir sie wegbringen, an dem sie das letzte Mal hier ist, in den See. Ahnt sie es und verabschiedet sie sich? Später frühstücken wir, packen und als es hinaus ins Auto geht, dreht sie sich noch einmal um und fragt: Und wann bringt ihr mich wieder zurück?“ Ich kann die Tränen noch halten bis das Auto hinter der Kurve verschwunden ist. Zuhause parkt ihr Sohn das Auto an dem Haus in dem sie fast 40 Jahre gewohnt hat. Er läuft mit ihr die 200 Meter in der Straße, die fast 40 Jahre ihr Arbeitsweg war. Sie erkennt das alles nicht mehr und geht mit ihm in das Seniorenheim, dass nun ihr Zuhause werden soll oder besser, werden muss.

Der Sohn spricht mit den Kindern. Er erzählt ihnen, was sie in vielen Telefonaten noch nicht erfahren haben. Sie besuchen gemeinsam die Oma und nun erkennen die Kinder den leeren Blick. Sie sehen, dass die Oma sich verändert hat. Erkennen sie und doch wieder nicht und sind erschüttert. Wir müssen viel reden.

In ihrem Haus, sozusagen in ihrem Leben, kommen wir uns wie Einbrecher vor. Es ist das gleiche Haus, wie wir es immer kannten und doch wieder nicht. Es ist leer … es ist ein Haus ohne Oma. Und doch müssen wir Einbrecher sein und sehen, wie wir alles für sie regeln, was wir beachten müssen, wem wir Bescheid geben müssen. Wir sind zerrissen – zwischen der Vernunft, dass es so sein muss und den Emotionen, dass wir es doch gar nicht wollen.

Zwischen all der Arbeit sitzen wir hin und wieder in ihrem Garten. Nicht auf dem Findling, auf den werden wir uns nicht mehr setzen können. Wir tauschen unsere Erinnerungen und denken über ihr Leben nach. Sie lebte dafür, das Gedenken an ihre Eltern zu erhalten. An den Vater, den Müller und größten Arbeitgeber am Ort. An die Mutter, die alles im Krieg und den schwierigen Zeiten danach aufrecht erhielt. An ihre Bemühungen die Mühle zu erhalten. Wir denken an ihren Weg, dieses Haus am See auszubauen und an die vielen Jahre, in denen sie nicht erreichbar war, weil sie den Garten hegte und von morgens bis abends draußen war. Jeder Gegenstand im Haus erinnert an sie. Ein gelebtes Leben voll Erinnerungen. Um dann am Ende mit einem Koffer in das Seniorenheim umzuziehen. Wir hoffen, dass ihre Erinnerungen sie tragen, die sie mitnehmen kann. Was wir uns wünschen sollen, wissen wir nicht. Aber auch unsere Erinnerungen an die gesunde Oma bleiben … und trösten … ein wenig.