Redet drüber … Sucht!

Es ist fast wie eine alte Gewohnheit: Wenn ich in einer Zeitung oder in sozialen Netzwerken einen Artikel finde, der „Sucht“ zum Thema hat, muss ich ihn lesen. Ich lese diese Artikel immer sehr kritisch. Wenige schaffen es, mir neue Erkenntnisse aufzuzeigen, selten finde ich etwas, was mich fesselt und zu Ende lesen lässt. Kürzlich hat mich meine Schwester auf einen Bericht aufmerksam gemacht, der mich nicht nur sehr ansprach, sondern der sowohl meine Erfahrungen deckte, als auch einen anderen Weg im Umgang mit Sucht offenbarte. Die Headline des Beitrags im Business Insider Deutschland lautet: „Studie zeigt eine unbequeme Wahrheit über Sucht“. Der Beitrag beginnt mit dem Satz: „Das Wort Sucht – … – ist negativ konnotiert. Wir bezeichnen Sucht als eine Störung und Betroffenen wird von der Gesellschaft ein Problem zugesprochen.“

Die Gesellschaft jedoch ist, nach meiner Ansicht, ein großer Teil des Problems, wenn es bei uns um das Thema Sucht geht. Süchtige stehen außerhalb der Norm. Was nicht die Norm erfüllt, gehört geächtet. Die Form der Sucht spielt dabei keine Rolle. Sucht ist nicht gesellschaftsfähig. Wer süchtig ist, wird abschätzig betrachtet, möglichst totgeschwiegen, aus den eigenen Reihen verwiesen. Über Sucht wird nicht gesprochen, jedenfalls nicht öffentlich, weil es ja vermuten ließe, dass man selbst Betroffener ist, als Angehöriger oder Süchtiger. Betroffen sein bedeutet Schwäche, deutet auf ungelöste Probleme hin, falsche Erziehung und lässt Fehler in der Lebensführung oder im Miteinander vermuten. Zu gerne wird negiert, dass es einen selbst treffen könnte. Zu gerne vergessen, dass Sucht keinen sozialen Status kennt und zu gerne übersehen, dass Sucht überall in unserer Gesellschaft präsent ist.

Ich bin betroffen und damit auch meine Familie. Ich könnte auch sagen „Ich war betroffen“, aber auch dafür hat die Gesellschaft eine Form gefunden, die mich sozusagen lebenslang „ächtet“. Ich bin, wenn es nach der Gesellschaft geht, eine „trockene Alkoholikerin“. Ich verabscheue den Begriff, denn ich bin weder „trocken“, noch „Alkoholikerin“. Ich habe vor 20 Jahren geschafft, meinem Leben die entscheidende Wende zu geben und für mich beschlossen, das Alkohol keine Rolle mehr in meiner Lebensführung spielen wird. Den Entschluss fasste ich selber, den nötigen Rückhalt dafür gab mir meine Familie und mein Freundeskreis. Wer jetzt erwartet, dass ich hier von dem Grauen der Sucht und dem elendigen Weg daraus erzähle, braucht nicht weiterlesen. Das werde ich nicht tun, denn seither ist jeder Tag für mich besser gewesen als die Tage davor. Ich genieße mein Leben, ich lebe bewusst und bin die Summe dessen, was ich erlebt habe, wozu auch sehr düstere Tage gehören. Aber ich bin nicht bereit, ein lebenslanges Stigma zu tragen, nur weil unsere Gesellschaft Sucht nicht offen bespricht. Jeder anderen Krankheit wird mit Betroffenheit begegnet, aber Sucht nicht als Krankheit anerkannt, sondern als Makel empfunden.

Natürlich gab es Gründe für meine Sucht, trotz dessen, dass ich eine glückliche Kindheit und eine große Familie hatte und habe. Nur spielt es hier keine Rolle, welche Gründe dazu führten, die vielfältigster Art sein können. Ich kann nur versichern, dass es tatsächlich jeden treffen kann, sei man sich auch noch so sicher gefeit zu sein. Entscheidend, wenn man denn in die „Falle“ getappt ist, ist die eigene Erkenntnis und der Wille sich zu befreien. Das passiert im Kopf und so bezeichne ich es immer als „Kopfsache“. Die körperlichen Symptome bekommt man je nach Substanz recht schnell in den Griff. Viel schwieriger ist es, den eigenen Geist zu überzeugen, dass das Ende der Sucht als lebensrettender Entschluss zu sehen ist. Wir verlieren nichts, sondern können nur gewinnen!

Ich fasste meinen Entschluss vor 20 Jahren auf dem Weg in ein Krankenhaus. Im Zuge der anschließenden Therapie wurden Patienten verpflichtet die verschiedenen Gruppen kennenzulernen, die Alkoholsucht zum Thema hatten. So saß ich an einem Abend in einem recht dunklen Raum, in dem die Gruppenmitglieder um einen Tisch saßen. Es waren die Anonymen Alkoholiker, bei deren Begrüßungsritual jeder Teilnehmer sagt: „Ich heiße Soundso, bin seit … anonymer Alkoholiker …“ und fügt dann noch ein/zwei Sätze zur aktuellen Verfassung an.  Irgendwann war Ingrid an der Reihe und sagte: „Ich heiße Ingrid, ich bin seit 7 Jahren anonyme Alkoholikerin und ich leide seit 7 Jahren unter meiner Sucht!“ Das war aus meiner heutigen Sicht der Moment in meinem Leben, in dem ich Optimist wurde. Ich saß mit großen Augen dort, hörte die anderen kaum mehr und dachte für mich, dass ich mich nicht der ganzen Mühe unterwerfe meine Sucht zu besiegen um den Rest meines Lebens zu leiden. Ich wollte leben, bewusst und jeden kommenden Tag genießen.

Das gelang natürlich nicht sofort, aber es wurde immer besser. Meine Familie und Freunde mussten wieder Vertrauen in mich gewinnen. Ich musste die Ernsthaftigkeit zeigen, mein Leben zu stabilisieren. Ich wurde stärker, physisch, wie psychisch und gewann meine frühere Persönlichkeit nicht nur zurück, sondern gewann eine veränderte, selbstbewusstere hinzu. Etwa zwei Jahre nach der Therapie hatte ich hin und wieder noch das Gefühl, dass mir „Alkoholikerin“ auf der Stirn geschrieben steht. Doch irgendwann merkte ich, dass es außer mir selbst, niemanden mehr interessierte. Die Menschen um mich herum bewerteten mich nach dem, wie sie mich aktuell erlebten. Natürlich habe ich nicht jedem gleich erzählt, was ich erlebt hatte, aber hin und wieder ergab es sich doch aus Gesprächen. Niemals in den vergangenen Jahren erlebte ich dadurch Ablehnung. Immer Anerkennung und oft die gegenseitige Öffnung, dass mein Gegenüber ähnliche Erfahrungen gemacht hatte. Diese anderen waren immer starke, in sich ruhende Menschen, die ihr Leben im Griff hatten und genau wussten, was sie nicht mehr wollten. Es kann tatsächlich jeden treffen und wenn man aufmerksam zuhört, ist es erstaunlich, wie viele Menschen betroffen sind.

Wäre es nach der gesellschaftlichen Meinung gegangen, hätte ich damals „erst mal in der Gosse landen müssen“, hätte mein Umfeld verlassen müssen um, eine Chance zu haben, hätte mich später still und ohne Stressfaktoren bewegen müssen. „Einmal ‚Suchti‘, immer ‚Suchti‘“ ist die gängige Meinung. Hin und wieder hörte ich Gespräche mit Leuten, die diese Meinungen vertraten. Ich habe nichts dazu gesagt, sondern sie nur still für mich zu den Dummen stellt.

Ich habe nichts von dem getan, was in der Allgemeinheit für richtig gehalten wird, um einen Weg aus der Sucht zu finden. Ich habe mich nicht verkrochen, sondern den Weg in den Beruf wiedergefunden. Ich blieb in genau dem Umfeld, welches ich vorher hatte. Ich habe Alkohol nicht aus meinem Leben verbannt, sondern kann jedem Gast ein Glas Wein anbieten oder eingießen und gönne es ihm von Herzen. Ich habe keinen Psychologen konsultiert oder eine Gruppe besucht, die mich auf Jahre an eine schwache Lebensphase erinnert. Ich ging meinen – glücklichen – Weg.

Möglich wurde das, weil meine große Familie, meine Freunde und mein Ehemann im entscheidenden Moment erkannten, dass es mir ernst war. Auch vorher ließen sie mich nicht fallen, sondern zeigten mir ihre Grenzen auf, bekräftigten immer wieder die Möglichkeiten mir zu helfen, aber gaben mir trotz Abhängigkeit, das Gefühl nicht alleine zu sein. Mit meinem Mann habe ich zwei wunderbare Kinder aufgezogen. Natürlich interessierten die sich im gewissen Alter für Alkohol. So haben wir frühst möglich mit ihnen meine Problematik kommuniziert und sie ihre Erfahrungen mit Alkohol machen lassen. Einen heilsamen „Kater“ hatten beide, den die Mutter half auszukurieren.

Ich bin nicht stolz auf das, was ich erlebt habe, aber stolz darauf, was ich daraus gemacht habe. Es gehört zu mir und hat mein Wesen verändert. Ich wurde aufgefangen, bekam Grenzen aufgezeigt, bekam Halt und Zuneigung als ich sie am dringendsten brauchte. Ich habe gelernt Hilfe annehmen zu können. Das Wunderbare ist, dass ich heute in der Lage bin, das was ich bekam, weiterzugeben. Ich helfe, wem ich helfen kann, und sei es nur dadurch, dass ich eine positive Lebenseinstellung teile. Dabei ist mir vollkommen klar, dass ich ideale Bedingungen und die richtigen Menschen um mich hatte, um das zu schaffen. Nicht selten endet Sucht in hilfloser Ohnmacht und Tod.

Sucht ist kein Makel. Eine Krankheit allemal und eine Falle, in so vielfacher Form, dass man sich hüten sollte, sich sicher zu fühlen. Ich bin dankbar, dass ich ihr entkommen bin und Menschen hatte, die mich begleiteten, unglaubliche Kraft mobilisierten mich zu stützen, mit mir redeten, mir meine Chance gaben und bis heute bei mir sind. Es sind die Menschen, die praktiziert haben, was im letzten Satz des oben erwähnten Beitrags steht: „Anstatt Süchtige zu hassen und sie zu isolieren, sollten wir eine warmherzigere Gesellschaft aufbauen.
Wenn wir die Art und Weise anpassen, wie wir uns miteinander verbinden und Menschen helfen können, durch ihr normales Leben erfüllt zu werden, kann Sucht in Zukunft ein geringeres Problem werden.“

Redet drüber!

 

Die Frau auf der Bank

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Zuhause, wenn wir uns zum Essen an den großen Tisch setzen, hat jeder von uns seinen Stammplatz. Das ist nicht gewollt und hat sich mit der Zeit ergeben. Von meinem Stuhl aus schaue ich genau auf den kleinen Platz vor unserem Haus. An beiden Seiten der Wiese des Platzes steht jeweils eine Bank und ich kann die linke der beiden beobachten. Viel ist dort nicht los, aber hin und wieder sitzt jemand auf der Bank und ruht sich etwas aus. Vor kurzem saßen wir an einem Sonntag beim Frühstück und unterhielten uns. Aus dem Augenwinkel, ohne dem Aufmerksamkeit zu schenken, nahm ich wahr, dass sich eine Frau auf die Bank setzte. Wir beendeten das Frühstück nach einiger Zeit. Ich räumte den Frühstückstisch auf und schaute danach wieder aus dem Fenster. Sie saß immer noch dort – die Frau auf der Bank.

Ich bin mir nicht ganz sicher, warum mir gerade diese Frau auffiel. Ich schätzte sie über 50 Jahre. Sie war vollständig mit einem hellblauen Gewand gekleidet – einem hellblauen Mantel und hellblauen Kopftuch, das über die Schultern ging. Das Gesicht, die Hände und Schuhe waren frei. Sie saß alleine dort und bewegte sich kaum. Es war ein schönes und ruhiges Bild, was an diesem Sonntag und in den darauf folgenden Tagen bis heute nicht mehr aus meinem Kopf ging. Auch eine Stunde später saß sie dort, zwei weitere Stunden später und bis in den frühen Nachmittag hinein. Mal saß sie auf der rechten Seite der Bank, mal links. Mal saß sie mit überkreuzen Händen dort, mal hatte sie die Ellenbogen auf den Knien und stützte den Kopf oder legte die Hände seitlich auf die Bank. Mehr Bewegungen gab es nicht. Es war ein schönes und ruhiges Bild und doch war es traurig, aber es zog mich immer wieder an und ich schaute öfter, ob sie noch dort sitzt.

Mehr als das, was ich gesehen habe, weiß ich nicht über sie. Ich weiß nicht wie sie heißt oder woher sie gekommen ist. Auch nicht wohin sie ging. Ich vermute, dass sie aus einem fremden Land kam, sonst hätte sie nicht eine solche Tracht getragen. Ich weiß nicht, was sie dazu bewogen hat einen ganzen Sonntag auf einer Bank im Sonnenschein zu verbringen. Und gerade das lässt mich immer wieder an sie denken. Was hat sie gedacht, woran hat sie sich erinnert, was hat sie beschäftigt. 

Was hat sie erlebt? Ich nehme an, dass sie in der Erstaufnahme-Einrichtung an unserer Ecke wohnt. Die Menschen, die dort leben, kommen aus den unterschiedlichsten Ländern. Alle haben einen weiten Weg hinter sich. Alle haben Geschichten hinter sich, die sie berechtigen, von einer Notunterkunft in eine Erstaufnahme-Einrichtung zu wechseln. Das bedeutet, sie sind geduldet in unserem Land. Um geduldet zu sein, muss man Gründe haben oder Geschichten erlebt haben, die alles andere als angenehm, eventuell sogar existenzgefährdend oder lebensbedrohlich sind. Sie sind geduldet – das bedeutet auch, dass sie nicht wissen, wie die Zukunft aussehen wird. Es sind Menschen, die nur von einem Tag auf den anderen leben und planen können. Die sich mit den Gegebenheiten in der Einrichtung arrangieren müssen, ganz gleich ob im Nebenzimmer vielleicht sogar Menschen aus einem verfeindeten Land leben. Sie müssen warten bis unsere Behörden reagieren und ihnen vielleicht zugestehen, dass sie länger bei uns leben dürfen. Sie sind auf andere Menschen angewiesen, die ihnen vorschreiben, ob und wie ein Neuaufbau ihres Lebens möglich wird. Sie dürfen nicht über ihr eigenes Fortkommen entscheiden. Sie müssen aushalten … jeden Tag aufs neue. Die Vorstellung, meine persönlichen Geschicke von anderen entscheiden lassen zu müssen, macht mich wütend!

Welchen Weg hat sie genommen? Ist sie alleine oder mit ihrer Familie zu uns gekommen. In welchem Land hat diese Reise begonnen und was hat sie erlebt, das sie zu dieser Reise gezwungen war? Waren es nur Landwege oder musste sie auch über das Wasser? Das Meer, in dem auch in diesem Sommer so viele Menschen ertrinken. Das gleiche Meer, das uns im Sommer so viel Freude machte. Hat sie erlebt, wie Menschen ertranken? Musste sie an versperrten Grenzen und in trostlosen Lagern warten? War sie auf menschenverachtende Schlepper angewiesen, die ihr und ihrer Familie das letzte Geld abnahmen? Was hat sie gefühlt, als sie doch unsere Grenze erreichen und einreisen durfte? Wie wurde sie bei uns aufgenommen? Ich bin mir sicher, dass ihre Reise keine angenehme war – eine Reise, an deren Ende keiner weiß, wie das Leben weitergehen wird. Allein die Vorstellung alles hier und heute liegen zu lassen und zu wissen, dass ich es nie wieder so sehen werde, macht mir Angst!

Wo ist ihre Familie? Warum sitzt sie einen ganzen Tag alleine auf einer Bank. Ist es in der Unterkunft so eng und laut, dass sie einfach ein paar Stunden Ruhe braucht oder ist sie überhaupt allein? Konnte sie mit der ganzen Familie hierher kommen oder musste sie geliebte Menschen zurücklassen? Hat sie im Krieg in ihrem Land schon den Mann, den Sohn oder Töchter verloren? Was denkt sie bei der Vorstellung nie wieder auf dem heimischen Markt ihre Nachbarn und Bekannte zu treffen. Wie geht es ihr, wenn sie hier beim Einkauf im Supermarkt argwöhnisch betrachtet wird? Hat sie jemanden hier mit dem sie zusammen lachen kann? In den südlichen Ländern hat Familie eine ganz andere Bedeutung und Zusammenhalt als bei uns. Trotzdem graut mir vor dem Gedanken auf irgendeinen von meinen liebsten Menschen verzichten zu müssen!

So könnte ich lange weiter hinterfragen und versuchen zu ergründen, was in dieser Frau vorging. Dachte sie eher an die Vergangenheit oder an die Zukunft? Ich werde es nie erfahren. Trotzdem war sie für mich mehr, als nur eine Frau auf einer Bank. Sie war Anlass, mir wieder und wieder über die Menschen Gedanken zu machen, die zu uns kommen. Menschen, die ganz gleich aus wirtschaftlicher Not oder lebensbedrohlichen Umständen hierher zu uns fliehen. Sie war Anlass, mir selber deutlich zu machen, welchen Luxus ich erleben darf und auf welchem Niveau ich zuweilen klage. Sie macht mir gerade in diesen Tagen klar, wie absurd es ist über ein Burka oder Burkini-Verbot zu streiten und statt dessen lieber die Frau in den Mittelpunkt gerückt werden müsste, die solche Trachten trägt. Das Bild dieser Frau, liebe Freunde mit rechten Gedankengut und ihr besorgten Bürger, hat mich insofern bedroht, als das es mich zwang darüber nachzudenken, mit welch abfälligem Niveau und wie oberflächlich wir mit Fremden umgehen.

Ich habe mich später sehr über mich geärgert. Irgendwann hätte ich hinüber gehen sollen und ihr wenigstens etwas zu trinken anbieten können. Habe ich leider nicht – weil sie so fremd aussah? Am späten Nachmittag ging ich mit meinem Mann und dem Hund aus dem Haus. Im Weggehen schaute ich über die Straße. Sie hob den Kopf und lächelte mich an. Ich war dankbar – sie hatte zumindest ihr Lächeln nicht auf dem langen Weg verloren und mir einen winzigen persönlichen Moment geschenkt. Als wir wiederkamen war die Bank leer. Das Bild dieser Frau ist bis heute geblieben.  

Warum machst du das eigentlich?

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„Warum machst du das eigentlich“, fragte mich eine Bekannte und ihr Unverständnis in der Stimme war deutlich zu hören. Im ersten Moment war ich verwirrt, bis ich verstand was sie meinte. Ich hatte mich beklagt, dass ich trotz Müdigkeit am Abend noch eine ehrenamtliche Arbeit für den Sportverein meiner Kinder fertig bekommen musste. Ja, warum macht man das eigentlich. Warum engagieren sich manche Menschen ehrenamtlich, obwohl vordergründig keine Vorteile daraus ersichtlich sind. Ein Ehrenamt hat immer etwas den Ruf, dass man mehr investiert als man zurück bekommt. Also muss es andere Gründe geben, warum sich viele Menschen engagieren und so einen wertvollen Beitrag in allen gesellschaftlichen Belangen leisten. Ehrenamtlich Engagierte als blauäugig oder Weltverbesserer abzutun wäre zu leicht.

In einem Bereich meiner Arbeit wechsele ich die Rolle der selbst Engagierten, in die Rolle derjenigen, die ein Ehrenamt anbietet. Mein Arbeitgeber ist das Stadtteilzentrum Steglitz e.V., ein sozialer Verein mit Einrichtungen von der Kita bis zum Seniorenheim. Mein Arbeitsbereich ist die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit. In diesem Rahmen begleite ich ein Projekt, das ohne ehrenamtliche MitarbeiterInnen in dieser Form nicht denkbar wäre – die Stadtteilzeitung Steglitz-Zehlendorf. Die erste Stadtteilzeitung erschien im März/April 1996 und hieß damals noch “Nachbarschaftsbote”. Die ersten Ausgaben wurden auf einem Kopierer vervielfältigt, aber im Laufe der Zeit entwickelte sie sich zur Stadtteilzeitung und veränderte viele Male ihr “Gesicht”. Nach einer sieben monatigen Zeitungspause durfte ich an diesem Projekt ab April 2003 teilhaben. Schaut man in das Impressum der ersten Ausgaben 2003, so findet man vornehmlich MitarbeiterInnen des Stadtteilzentrums, was sich aber in den folgenden Ausgaben sehr schnell ändert. Das Impressum füllte sich sehr bald mit den Namen ehrenamtlicher RedakteurInnen, die uns nun zum Teil schon über sehr viele Jahre begleiten.

Die Gründe in diesem Bereich mit Ehrenamtlichen zu arbeiten sind vielfältig. Einer davon ist der zeitliche Aspekt. In der täglichen sozialen Arbeit ist zum einen viel zu tun und zum anderen fällt es MitarbeiterInnen schwer zu erkennen wie erzählenswert ihre Arbeit ist, die sie als Selbstverständlichkeit ansehen. Geht ein Kind glücklich nach der Hausaufgabenbetreuung nach Hause, ist das für „Zeitungsmacher“ eine Geschichte wert. Der Mitarbeiter sieht eher die erfüllte Pflicht, die schwer in Worte zu fassen ist. Der Blick des Ehrenamtlichen von außen, lässt es dann wiederum zu einem Bericht werden. Hinzu kommt die Vielfältigkeit der Stadtteilzeitung, die aus allen Bereichen des Bezirks berichtet. Nicht nur eigene Einrichtungen, auch Kooperationspartner, Initiativen, der Bezirk, Privatpersonen, Schulen, Aktionen, Projekte … jeder kommt zu Wort, der sich an die Redaktion wendet und die moralischen Grundsätze der Zeitung einhält. Diese Vielfältigkeit zu bedienen ist nur durch ehrenamtliche Redakteure möglich, die aus allen Bereichen des Bezirks kommen. Sie sind nicht nur die Berichtenden, sondern zugleich auch diejenigen, die Hinweise geben, worüber wir berichten sollten. Seit einigen Jahren arbeiten wir in der Redaktion in jeder Ausgabe mit Themenschwerpunkten, wie zum Beispiel Familie, Bildung, Jugend, Sport, Nachhaltigkeit. Auch diesbezüglich offerieren die RedakteurInnen die notwendige Vielfalt. Durch die Unterschiedlichkeit ihrer Persönlichkeiten bekommen die Themenschwerpunkte verschiedene Gewichtungen, die eine abwechslungsreiche Zeitung möglich machen.

Die Redaktionssitzungen sind spannend. Denn auch wenn sich das Team meist schon lange kennt, gibt es immer wieder Diskussionen, die verschiedene Standpunkte und Sichtweisen unter einen Hut bringen müssen. Es muss ein gemeinsamer Nenner gefunden werden, der eine gemeinsame Zeitungsausgabe möglich macht. Die Gründe über teils viele Jahre in diesem Team mitzuarbeiten sind unterschiedlich. Dank und große Wertschätzung hat einen hohen Stellenwert. Es ist eine fruchtbare Arbeit, abwechslungsreich und spannend und letztendlich erfüllt es ja auch mit Stolz, zu wissen, dass der eigene Artikel 10.000 mal im Bezirk gelesen wird. Es ist ein Team, das über die Zeit gelernt hat, die Eigenheiten, Schwächen und Stärken der anderen zu schätzen.

Meine KollegInnen erfreuen sich ebenso der Unterstützung durch Ehrenamtliche in ihren Arbeitsbereichen. Englischunterricht, Deutschunterricht, Lesestunden für Kinder, Bastelstunden, Hilfe im Nachbarschaftscafé, bei der Gartenarbeit, Hausaufgabenhilfe … sind einige Beispiele dafür. Und genauso wie die Ehrenamtlichen der Stadtteilzeitung, ermöglichen sie eine Angebotsvielfalt, die nur mit dem normalen Arbeitsaufwand personell nicht möglich wäre. Sie bringen den Gemeinschaftsgedanken, Freude am Umgang mit Menschen, Wertschätzung, Erfahrungen und viele andere menschliche Aspekte mit ein, die eine große Bereicherung und ganz besondere Hilfe sind.

In jedem Ehrenamt liegt ein egoistischer Aspekt. So engagiere ich mich in der GEV (Gesamteltervertretung) der Schule meiner Tochter und bin besser informiert, als die meisten Eltern. Ich engagiere mich im Sportverein und kann auch so indirekt den sportlichen Gedanken meiner Kinder fördern. Ich stelle mich an einen Info-Stand meines Vereins und kann meiner Neugier auf ein Event den nötigen Raum einräumen. Ich schreibe für eine Zeitung und finde meine Berichte in großer Vervielfältigung. Ich gebe Deutschunterricht und trainiere eine Weiterbildung. Ich helfe im Café und bin nicht mehr allein. Es ist ein gesunder Egoismus, der Menschen motiviert, sich zu engagieren. So müsste die Antwort auf die Eingangsfrage eigentlich eine Gegenfrage sein: „Warum machst du es noch nicht?“

Erschienen auf der Seite des Paritätischen Berlin für den Rundbrief August 2014
www.paritaet-berlin.de