#wirsindmehr

Mensch sein. © Joseph Dahlhaus-Erichsen

Ich gebe es gerne zu: Ich war müde und es ging mir nicht sehr gut, als meine Tochter mich ansprach. Wir hatten alle über einen Messenger einen Link bekommen, in dem wir dazu aufgefordert wurden, einen offenen Brief an alle Rechten, Nazis, Identitären und „besorgte Bürger“ online zu unterschreiben. Meine Tochter fragte: „Ganz ehrlich: Was ändern wir mit der Unterzeichnung eines offenen Briefes, den sowieso keiner von denen liest?“ Ich hatte keine Lust mich mit meiner Tochter, die sehr vehement und mit festem Standpunkt diskutiert, jetzt auf einen Diskurs einzulassen und sagte nur knapp: „Ich gebe dir recht. Ich sehe es genauso.“ Dennoch lies mich ihre Frage nicht los und ich überlege … ja, was ändern wir damit?

Die Nachrichten der letzten Tage kennt jeder. Je nachdem, welche Nachrichtenquellen wir nutzen, liest jeder das, was er gerne lesen möchte und sich in seiner Meinung bestätigt fühlt. Ich gehöre zu denjenigen, die mit äußerster Besorgnis auf die rechtsgerichteten Entwicklungen blicken, die in unserem Land passieren. Ein weiterer Artikel von faktenfinder.tagesschau.de „Das Trauerspiel von Chemnitz“ verstärkt meine Besorgnis. Er handelt von den gezielt gestreuten Falschnachrichten im Netz, die alle gemeinsam nur ein Ziel haben – Hass, Angst und Unzufriedenheit zu streuen. Die übliche Taktik aller Rechten und der Partei, die keine Alternative ist. Die Bilder von Chemnitz in Gedanken, ist es unglaublich, dass der tragische Tod eines jungen Mannes dazu genutzt wird, allen rechten Bewegungen eine Plattform zu geben, ihre Ideale laut und mit Hitlergruß zu brüllen. Gewählte Vertreter der Partei, die keine Alternative ist, nutzen diesen Tod genauso wie der rechte Mob auf der Straße. Dabei geht es nicht um Trauer, sondern lediglich um die Möglichkeit rechtes Gedankengut in die Öffentlichkeit zu bringen. Man mag eigentlich nur noch weinen ob solcher Dreistigkeit. Die Bilder aus Chemnitz erschrecken und auch wenn man weiß, dass die wenigsten, die dort ihre blanken Ärsche oder den Hitlergruß gezeigt haben, tatsächlich Chemnitzer sind, kommt langsam das Grausen auf. Pegida, Pro Chemnitz und diese Partei schließen sich zusammen und marschieren gemeinsam. Unverständnis dem gegenüber, der immer noch glaubt, dass die alternativlose Partei im Bundestag nicht Rechte und Nazis begrüßt. Die anständigen Chemnitzer haben mein Mitgefühl.

Ein Haftbefehl wird in den Netzwerken geteilt. Unter anderem von einem Politiker, der später sagt, es wäre ihm nicht bewusst gewesen, dass dies eine Straftat sei. Hätte er ihn auch verbreitet, wenn der Täter ein Deutscher gewesen wäre? Wohl kaum, wenn man seinen politischen Hintergrund betrachtet. Noch dazu hat er eine Ausbildung beim Bundesgrenzschutz gemacht und für die Bundespolizei gearbeitet. Ein Lämmchen ist er wohl kaum. Auch der Urheber des Foto’s des Haftbefehls arbeitet bei der Justiz. Jetzt nicht mehr. Ein LKA Beamter wird bei einer Pediga Demo gefilmt und fällt nach seinen Protesten gegen ein ZDF Team auf. Und dann ist da noch ein Innenminister, der Worte wie Asyltourismus nutzt, die Abschiebung von 69 Asylanten feiert und mit weiteren fraglichen Stellungnahmen seine Wähler am rechten Rand halten will. Er schweigt zu lange zu den Ereignissen und später erst kommt die halbherzige Aussage, es sei ja schon alles dazu gesagt. Er hält es nicht für Notwendig, die alternativlose Partei durch den Verfassungsschutz beobachten zu lassen, deren Bundesvorsitzender die Vorgänge in Chemitz gerade nach seiner Auffassung legitimiert hat. Es stellt sich tatsächlich die Frage, in wieweit Politik und Behörden von rechts versifft sind und ob manche Beamte und Politiker, die dem Staat, unserer Verfassung und Demokratie dienen sollten, überhaupt noch ihren Auftrag erfüllen. Eine gewagte These – ich weiß. Nur – wenn es den Anscheint hat, dass rechte Parolen in der breiten Bevölkerung gesellschaftsfähig werden – wieso sollte das bei Beamten und Politikern, die auch nur Menschen sind, Halt machen? Wem kann man trauen?

Angst, dass die rechte Bewegung nicht zu stoppen ist. Bedenken, ob unsere Demokratie die rechten Tendenzen aufhalten kann. Furcht, dass Freunde und Familienmitglieder, die nicht dem deutschen Idealbild der Rechten gerecht werdend, Repressalien fürchten müssen. Trauer, dass mein Bild eines multinationalen weltoffenen Deutschlands einen üblen Sprung hat. Wut über die Dummheit der Mitläufer. Fassungslosigkeit, dass die Medien den Fremdenhass noch Öl ins Feuer gießen. Unverständnis, dass Politik nicht die tatsächlichen Probleme des Landes aufgreift … vieles kämpft in mir.

„Laut werden“ – „Klar Stellung beziehen“ – „Aktiv werden“ sind die Gedanken, die sich mir in den letzten Tagen immer mehr aufdrängen. Ich denke, jeder von uns, der diese Entwicklungen nicht will, muss sich besonders jetzt fragen, was er selber tun kann um zu zeigen, was dieses Land ausmacht. Dass eben nicht die Rechten die Oberhand haben. Dass wir uns nur multinational und weltoffen behaupten können. Dass Fremde willkommen sind. Und auch diesbezüglich reicht ein Blick in die Medien um sich klar zu machen, dass wir eben nicht allein sind und durchaus etwas tun können. Es gibt viele Beispiele, die Hoffnung machen. Ein Beispiel springt mir in Facebook ins Auge. Ein Smiley mit erhobenen Daumen lächelt mich an. Drumrum steht „ICH STEH DAZU – FREMDENHASS – NEIN DANKE“. Es ist die Facebookgruppe „Mensch sein.“ Ich schaue es mir genauer an und bekomme mit, dass der Urheber der Buttons, Joseph Dahlhaus-Erichsen, diese Buttons tatsächlich für jede gewünschte Stadt in Deutschland erstellt. Ich schreibe ihn an und habe den Button innerhalb kürzester Zeit auf meinem Rechner. Jetzt kann ich ihn verteilen, wo immer es geht … ich kann was tun!

Großartig ist das angekündigte Konzert am Montag in Chemnitz: Live auf dem großen Parkplatz an der Johanniskirche in Chemnitz ab 17.00 Uhr: Die Toten Hosen, Feine Sahne Fischfilet, K.I.Z., KRAFTKLUB, Marteria & CASPER, Nura030 (SXTN), TRETTMANN, DJ Ron & DJ Shusta, haben sich zusammen geschlossen und spielen um die Menschen zu feiern, die Hetze und Hass nicht unwidersprochen hinnehmen wollen. Der Hashtag #wirsindmehr unter dem das Konzert läuft verbreitet sich wie ein Lauffeuer. Selbst der Bundespräsident Steinmeier teilt dieses Konzert in seinem offiziellen Facebook-Account.

Unter meinen Facebook-Kontakten bekomme ich mit, wie ein Freund, den ich tatsächlich aus dem echten Leben kenne, mit anderen zu einer Großdemo aufruft. Das Bündnis #unteilbar ruft zur Demo „Solidarität statt Ausgrenzung“ auf: Sie wollen am 13. Oktober 2018 in Berlin ein starkes Zeichen für eine freie, offene und solidarische Gesellschaft setzen. Die Liste der unterzeichnenden Organisationen und Einzelpersonen ist in kürzester Zeit sehr lang!

Unter ein Bild, dass einen Nazi mit Hitlergruß zeigt, schreibe ich in Facebook: „Zum Kotzen! Anders geht’s nicht auszudrücken.“ Ein Bekannter antwortet mir: „Kotzen nützt nichts. Wir, die zivile Gesellschaft, wir die Bürger müssen uns wehren. Es reicht nicht, mit dem Finger auf die Politik zu zeigen. Wir müssen klare, sichtbare Position beziehen.“ – Das sehe ich genauso und denke, dass viele Menschen zur Zeit überlegen, was sie tun können um den rechten Mob, einschließlich seiner Organe, in die Schranken zu weisen.

Ob ein Button, den man verteilt, ein Konzert, dass man besucht, eine Demo, die man mitmacht – oder eben auch ein offener Brief den man unterschreibt. Ich denke, man kann tatsächlich viel machen, um klare Haltung und ein deutliches Nein zu Hass und Ausgrenzung zu zeigen. Den offenen Brief habe ich nun doch unterzeichnet. Nach einigem überlegen, habe ich die Auffassung, dass vielleicht nicht die Rechten ihn lesen (sicherlich doch viele heimlich), aber man zeigt Solidarität mit einem guten Statement und gibt anderen das Gefühl nicht allein zu sein. Jeder kann etwas tun. Auch die, die kaum Zeit haben. Auch die, die sich offen nicht trauen. Und hoffentlich endlich auch die, denen es bisher gleichgültig war!

Wir haben Probleme!

annaschmidt-berlin-com_praesident_trump

Es ist eine liebe Gewohnheit geworden: Ich gehöre zu den Menschen, die man morgens besser nicht ansprechen sollte. Da mir das irgendwann bewusst wurde, habe ich mir angewöhnt, morgens eine Stunde vor der Zeit aufzustehen, mir einen Kaffee zu machen und eine ganze Stunde in Ruhe damit zu verbringen wach zu werden, Kaffee zu trinken, E-Mails zu lesen und Nachrichten auf dem iPad durchzusehen. Selbst der Hund tut in dieser Stunde so, als ob er mich nicht wahrnimmt. Seit ein paar Tagen erwische ich mich dabei, dass ich, wenn ich das iPad aufklappe, bei mir denke: „Mal sehen, was er heute wieder angestellt hat“. „Er“ ist der amerikanische Präsident. Das Lesen der Nachrichten ist unangenehm geworden. Wir rutschen von einer Fassungslosigkeit in die andere. Mir geht es jedenfalls so.

Ich habe lange überlegt, ob ich überhaupt etwas dazu schreibe. Die Fülle der Nachrichten ist erschlagend, die richtige Wahl der Quellen schwierig, neutral und objektiv keine verlässlichen Attribute für Journalismus mehr. Die reinen Fakten, sofern wir welche bekommen, widerstreben hingegen allem, woran ich glaube und was meine Grundwerte darstellt. Ich bin kein Experte, was globale Zusammenhänge angeht, kein Amerika-Kenner und auch wirtschaftliche Zusammenhänge sind mir recht undurchsichtig. Trotzdem habe ich ein Gefühl für Falsch und Richtig und dieses Gefühl sagt im Moment, dass wir gewaltige Probleme haben.

Ausschlaggebend, dass ich nun doch etwas schreibe, waren meine Cousine und mein Cousin, zweiten Grades. Sie lebt in Amsterdam, er in Omaha in den Vereinigten Staaten. Sie teilte in ihrem Facebookprofil den Aufruf, den weltweiten offenen Brief an Donald Trump auf Avaat.org zu unterzeichenen und zu teilen. Der Cousin reagierte mit einem wütenden Smiley. Ich hatte schon länger bemerkt, dass er diesen unfassbaren Präsidenten befürwortet. Einmal teilte er ein Bild, auf dem in etwa stand “Wünschen wir uns, dass Donald Trump ein guter Präsident sein wird. Ihm das Gegenteil zu wünschen, wäre das gleiche, wie einem Piloten zu wünschen, dass er gegen einen Berg fliegt – in einem Flugzeug in dem wir alle Passagier sind“. Als ich fragte, warum er gewählt worden wäre, wenn alle das wüssten, antwortete er, dass er die bessere Wahl war. Später hat er das Bild gelöscht. Es ist nur eine Familie, Cousins und Cousinen aus Amerika, Niederlanden und Deutschland und dennoch wirkt, was diesen neuen Präsidenten auszeichnet: Er spaltet Menschen, Familie, Völker und Gemeinschaften und er ist erst am Anfang.

Es ist unsinnig jetzt über die „Amerikaner“ zu lamentieren. Natürlich ist er gewählter Präsident, doch wie bei jeder Wahl, stehen auch ihm die Stimmen der Gegenkandidatin und die immense Zahl der Menschen, die nicht gewählt haben, entgegen. Dazu die Stimmen derjenigen, die nun aufhorchen und ihre Wahl bereuen. Es sind keine 324 Millionen Amerikaner, die das gut heißen, was aktuell dort drüben passiert. Es ist ein Mann, der Befürworter und Trittbrettfahrer um sich scharrt und ein ganzes Land in Aufruhr bringt. Bisher tut er das mit ein paar Dekreten, die für sich selbst schon schlimm, aber noch nicht Gesetz sind. Regieren muss er erst noch und erst dann wird man sehen, wie stark diese Nation ist. Wie das Land der Möglichkeiten seine Demokratie, sein Selbstverständnis als freie Nation und Land der Einwanderer, schützt.

Meine Sorge gilt mit dem Blick über den großen Teich unserem eigenen Land. Auch wir werden im Herbst wählen und auch bei uns ist der Populismus des Herrn Trump modern und gesellschaftsfähig geworden. Und nicht nur das: Mit dem Verbleib des Herrn Höcke in seiner Partei nach seiner Rede in Dresden, hat diese Partei für mich jeglichen Anspruch verloren, eine bürgerliche Partei zu sein. Sein Nichtausschluss ist gleichbedeutend mit einer Einladung aller rechten Gesinnungsbrüder sich in den Reihen dieser Partei in scheinbarer Demokratie zu bewegen und menschenverachtende Gedanken zu verbreiten. Was daraus wird, können wir alle aktuell in Amerika verfolgen und unsere Schlüsse daraus ziehen.

Auch wir werden wählen und ich hoffe, dass sowohl die Politik als auch jeder einzelne von uns, viele Wähler mobilisieren kann. Wir dürfen dankbar sein, dass wir wählen dürfen, was in vielen Ländern nicht geht. Wir haben mit Angela Merkel und Martin Schulz Kandidaten, die – gleich, welche politischen Richtung man bevorzugt – sich beide entschieden und deutlich für eine multikulturelle Gesellschaft einsetzen. Wir haben demokratische Mittel dieser alternativlosen Partei zu zeigen, dass für sie kein Platz ist.

Jeder kann etwas tun. Es gibt schöne Beispiele dafür: Der offene Brief an Donald Trump hat aktuell fast 5 Millionen Unterzeichner, auf change.org gibt es eine Petition, die sich für ein „Einreiseverbot für Donald Trump nach Deutschland“ einsetzt, mit fast 30.000 Stimmen, in Facebook gibt es eine Gruppe, die sich #ichbinhier nennt – „eine Aktionsgruppe, die sich für eine bessere Diskussionskultur in den Sozialen Medien einsetzt. Statt Hass, Beleidigungen und Lügen wollen wir ein sachliches, konstruktives Miteinander.“ Das sind nur drei Beispiele und ich bin sicher, dass es in den nächsten Monaten immer mehr werden. Es wird Demonstrationen geben, Aktionen, Aufrufe und Veranstaltungen. Unterstützen wir sie, werden wir laut und unmissverständlich für eine offene Gesellschaft. Entwickeln wir eigene Ideen. Ich habe überlegt sozusagen die Blogparade „Schreiben gegen Rechts“, Teil II, zu starten. Ich denke, wir müssen zeigen, dass wir dieses multikulturelle Leben wollen und darin unsere Zukunft sehen. Und falls jemand denkt, dass so eine Unterschrift doch nichts bringt: Doch, tut sie, weil wir klar Stellung beziehen – immer wieder. Amerika ist so weit weg und in Wirklichkeit doch so nah! Auf twitter habe ich gelesen „Jetzt können wir endlich herausfinden, was wir anstelle unserer Großeltern getan hätten“ „Bitter …“ war ein Kommentar darunter. Ja, bitter ist was Amerika erlebt und wir an einen ähnlichen Punkt gekommen sind. Bitter … wenn wir jetzt nicht aktiv werden.

Ich möchte mein iPad aufschlagen und lesen, dass Amerika einen offenen, einigenden Präsidenten hat. Ich möchte lesen, dass Deutschland eine gute Wahl getroffen hat, die Rechten zwar hier und da gewählt wurden, sich aber selber in ihren queren Gedanken ins Nichts führen. Ich möchte gerne lesen, dass Europa seine Chance aus der Amerika-Krise verstanden hat, ein eigenes Profil hat und sich stark neben dem sogenannten „großen Bruder“ platziert hat. Ich würde gerne lesen, dass der IS in die Geschichtsbücher wandert, Kriegsregionen aufgebaut und Religionen sich mischen dürfen. Es wäre schön zu lesen, dass mein Cousin seine Wahl nicht bereuen muss. Ich würde so vieles gerne lesen – aber dazu muss ich, wie so viele andere auch – wach und aktiv sein.

Die Freiheit muss lebenswert sein …

annaschmidt-berlin.com_freiheit

Sprachlosigkeit, Schock, Mitgefühl, Wut, Angst, Fassungslosigkeit, Trauer, Ohnmacht, Innehalten. Alles durcheinander. Suche nach Orientierung, suche nach Antworten und der eigenen Position. In Gedenken der Opfer! Ein schwerer Tag für alle – der Tag danach, dem viele weitere folgen werden, an denen wir Halt finden müssen – Hoffnung aufbauen und Stärke beweisen müssen. Trost suchen!

Die Antwort darf niemals Hass sein, nicht Gewalt und auch nicht Hetze.

Die Freiheit muss verteidigt werden, die freien Werte, freie Meinung, freie Lebensform … jeder auf seine Weise – jeden anderen achtend.

Leichte Worte … in meinem sicheren Haus … dennoch dürfen wir uns dem Terror nicht beugen, woher er auch immer kommen mag.

Die Freiheit muss lebenswert sein – für dich, den Fremden, den Freund, den Andersdenkenden, für mich … genug Worte!