Liebe mit 70+

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Mohnblumenfeld in Spanien

Die Liebesgeschichte begann eigentlich mit einer Trennung, wenn auch noch Jahre vergehen mussten, bevor sie begann. Nach 40 Jahren Ehe verstarb der Ehemann und die Frau, die nie alleine gewesen war, war erstmalig alleine für ihr Leben verantwortlich. Witwe mit 58 Jahren. Das erste Kind hatte sie mit 17 Jahren bekommen, eine Kinderhochzeit zur damaligen Zeit. Vier Jahre vor der Volljährigkeit war sie verheiratet und sozusagen vom Kinderzimmer direkt in die Obhut des Ehemanns gegangen. Es war eine gute Ehe mit vielen Höhen und Tiefen. Sie wurde geschlossen aus der Verpflichtung des Kindes wegen, war aber keine Liebesheirat. Am Ende standen Vertrauen, Respekt und Wertschätzung zwischen ihnen, ganz andere Werte und fünf erwachsene Kinder sowie eine gemeinsame Lebensleistung. 

Als junges Mädchen hatte sie in Sachen Liebe ein Schlüsselerlebnis. Die Damenschneider-Werkstatt in der sie lernte, bekam hin und wieder Besuch von einer Kundin. Sie kam immer in Begleitung ihres Partners oder Ehemanns. Während der Anprobe kokettierte die Dame mit ihren üppigen Rundungen, was dem Partner offensichtlich sehr gut gefiel. Er schwärmte immer davon, wie gut sie doch aussehe. So stellte sie sich die Liebe vor, in der man noch im Alter eine Begeisterung füreinander empfindet. Diese beiden waren später die einzigen, die ihr zu der frühen Schwangerschaft gratulierten.

Sie war Witwe – das erste Mal, dass sie selber, ohne Absprache, bestimmen konnte, wie sie ihren Lebensraum gestalten will. Einen neuen Partner wollte sie in keinem Fall. Sie wollte die Freiheit genießen und sich mit Dingen beschäftigen, die ihr selber wichtig waren. Sie wollte unabhängig ihre Tage gestalten, Reisen unternehmen, Freunde besuchen, selber entscheiden, welchen Film sie anschaute und einfach nur für sich sein. Das hatte sie vorher nie gehabt. Auch das fünfte Kind zog irgendwann aus und begann seinen eigenen Weg. Dann schließlich kamen die Tage, an denen sie alleine am Frühstückstisch saß, die Wochenenden, an denen keiner vorbeikam und Stunden, in denen sie mit niemandem sprach.

Sie begann Annoncen zu lesen, Zeit war ja da, und studierte die Partnerschaftsgesuche. Also doch? Nun ja, erst mal lesen bedeutet ja nichts, ganz unverbindlich einfach mal interessieren und schauen, ob nicht doch jemand Interessantes zu finden ist. Natürlich wurde sie fündig, denn eine Anzeige gefiel ihr recht gut. Es stellte sich jedoch schnell heraus, dass es sich dabei um eine Fangannonce einer Partneragentur handelte. Dennoch traf sie sich mit ein paar Herren, doch das Ergebnis war sehr ernüchternd. Der eine Herr suchte Gesellschaft, ein anderer wollte seine Porno-Sammlung vorstellen. Ein dritter wollte mit ihr nach Australien ausreisen, lebte selber aber schon im Seniorenheim. Ein weiterer hatte im Hinterkopf, seine Pflege für die beginnende Demenz zu sichern. Allen gemeinsam war der Wunsch ihre Lebensgeschichte zu erzählen, es gibt doch so viele einsame Menschen, aber ein so richtig interessanter Mann war für sie nicht dabei. Also lies sie es sein, das Leben konnte sie besser alleine gestalten.

Erstmal! Denn irgendwann saß sie wieder alleine beim Sonntagsfrühstück. Lass die Zeitung und landete doch wieder auf der Partnerseite. Dort lass sie eine außergewöhnliche Anzeige: Ein Glückssucher versprach kein Holzbein, keine Glatze und keine feuchten Hände zu haben. Fragte, wer Mut hätte zu schreiben. Den hatte sie, denn hier fand sie einen mit Humor. Um ein Foto bat er, dass er auch zurückschicken würde. Aussehen, Nationalität, Figur wären sekundär. Als Bild musste ein Passbildautomatenfoto reichen und schreiben konnte sie. So war die Antwort bald fertig und machte sich auf den Weg nach Spanien.

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Ihre Offenheit war es, die ihn wiederum antworten lies. Unter 436 Antworten auf seine Anzeige (man stelle sich den armen Briefträger des kleinen spanischen Ortes vor), war ihr Brief aufgefallen, der vielem entsprach, was er selber empfand. Und damit begann ein reger Briefwechsel. Die erwachsenen Kinder merkten natürlich eins nach dem anderen, dass sie sich veränderte. Die Laune war eine andere, das Lachen zog wieder in ihr Leben ein, die Fröhlichkeit wurde Begleiter. Alarmglocken klingelten bei allen Kindern, als sie nach zwei Brief wechselnden Monaten erzählte, dass er sich auf den Weg von 1600 km machen würde um sie kennenzulernen. Die zaghafte Frage, nach der Unterbringung des Mannes, beantwortet sie einfach: Sie hatten kein Hotel gebucht, er könne ihr gleich an der Haustür sagen, ob sie ihm gefiele oder nicht. Er blieb – für 14 Tag. Verließ für eine kurze Reise das Haus um nach weiteren 14 Tagen wieder da zu sein. Dann reiste sie – 1600 km zu ihm nach Spanien.

Das passierte vor fünf Jahren. Bis heute sind sie ein Paar – ein Liebespaar 70+. Die Kinder mussten sich daran gewöhnen, doch er machte es ihnen leicht ihn zu mögen. Dies war eine ganz andere Geschichte als die Geschichte mit ihrem Vater. Er tat nicht so, als hätte er kein Leben vorher gehabt. Seine frühere Ehe war glücklich, aber er sei nicht zum alleine leben geschaffen. Trotzdem war es teilweise schwer für die Kinder sich, ungeachtet des Erwachsenseins, daran gewöhnen zu müssen, dass die Mutter nun einen anderen Fokus hatte und das elterliche Haus nicht mehr das Haus von früher war. Mancher Unmut musste besprochen und behoben werden. Letztendlich aber zählt etwas ganz anderes. Sie ist glücklich, sie ist gesund, sie erlebt an seiner Seite Dinge, die alleine nicht möglich gewesen wären.

Sie sagt dazu, dass diese Liebe im Alter etwas Besonderes und Schönes sei. Beide müssen sich gegenseitig nichts mehr beweisen. Akzeptieren den Partner so, wie er nun mal ist – mit all seinen Ecken und Kanten. Mit 70 kann man niemanden mehr verbiegen und Kompromisse müssen geschlossen werden. Die grauen Haare, die Falten und der Bauch gehört ebenso dazu, wie die kleinen Macken, deren einzige Berechtigung das Alter ist. Aber, sagt sie, man muss sich auch selbst akzeptieren, so wie man ist, und wenn man den Jugendwahn die kalte Schulter zeigt, lässt sich manche Unebenheit durch hübsche Kleidung kaschieren. Und beobachtet sie ältere Paare, in den Straßen oder Kaffees, wenn sie sich unterhalten, dann wirken sie immer lebendig und vermitteln das Gefühl, sich noch etwas zu sagen zu haben.

So wie damals das Paar in der Damenschneider-Werkstatt, faszinierten sie auch immer schon die Gesichter und Hände älterer Menschen aus denen man viel lesen kann. Wenn diese älteren Menschen das Glück haben, jemanden lieben zu können, sie den Geruch des anderen wahrnehmen, den Kopf an den anderen anlehnen können oder beim Aufwachen dessen Hand spüren, gibt es dafür keinen anderen Namen als „Glück“. Diese Liebe und das Leben mit ihr – wird wertvoll durch Lob, Verständnis, Anerkennung und Dankbarkeit. Das jugendliche Schlüsselerlebnis wurde wahr.

Einzig eine Sorge begleitet diese Liebe im hohen Alter: Wie sieht die nächste Trennung aus? Wer bleibt, wer muss als erster gehen!

Wenn Elsa sprechen könnte …

Elsa, die Schaufensterpuppe

Sie steht immer in der gleichen Ecke. Viele Jahre schon. Von dort aus kann sie alles sehen und beobachten. Aber sie spricht nie ein Wort, gibt nie eine Antwort und hält sich mit unbequemen Kommentaren zurück. Sie kann fantastisch zuhören. Irgendwann einmal habe ich ihr mein Hochzeitskleid angezogen. Es steht ihr sehr gut. Dazu bekam sie einen Hut, einen Schal und mit der Zeit fand sich auch eine kleine Handtasche an. Ach ja, eine schöne Kette bekam sie auch noch. So sieht sie aus wie eine feine Dame. Ich habe sie Elsa genannt.

Elsa kam aus Köln. Außer dem weiß ich nichts über ihre Vorgeschichte. Ich denke aber, sie muss unwahrscheinlich viel gesehen haben. Tagsüber genauso wie nachts. Sie konnte die Menschen beobachten. Wie sie vorbeigingen. Wie die Menschen sie selber angesehen haben. Ob sie lachten, sie bewunderten oder gleichgültig ausgesehen haben. Oder einfach vorbeischauten und zu sehr mit sich selber beschäftigt waren. Eigentlich müsste sie ziemlich gut darin sein, Menschen einzuschätzen. Zu erkennen, was ihre Kleidung, ihr Gesichtsausdruck oder ihre Haltung verrät. Aber sie kann es mir nicht erzählen. Elsa spricht ja nicht.

Ich hingegen kann ihr alles erzählen. Sie wird es ja niemandem verraten. Ich kann mit ihr reden, wenn ich Sorgen habe, ihr erzählen was mich bewegt, was mich ärgert und was mich nervt. Schöner sind natürlich die Gelegenheiten, wenn ich ihr erzählen kann, worüber ich mich gefreut habe, wenn ich mich für jemanden gefreut habe. Etwas besonderes oder schönes erlebt habe oder wenn ich einfach nur glücklich bin. Sie weiß immer Bescheid, wenn ich krank bin. Das ist ja zum Glück nicht oft. Aber davon könnte sie sicherlich ein Lied singen, wie ich dann leide und unleidlich bin. Krank sein ist ja schließlich auch doof.

Elsa kann aus dem Fenster schauen und so sieht sie immer was draußen los ist. Sie sieht die Vögel auf den Bäumen des Nachbarn. Und kann erkennen, wenn sich die Katze anschleicht. Aber warnen kann sie die Vögel nicht. Die Jahreszeiten bekommt sie immer mit. Den dicksten Winter und beginnenden Frühling. Den blühenden Sommer und den schönen Herbst. Ich glaube, sie würde den Herbst sehr mögen, hat er doch die gleichen Farben wie ihr Kleid. Sie mag es sicherlich, wenn das Fenster offen steht. Dann kann sie die ganzen Geräusche aus der Nachbarschaft hören. Wenn die Kinder spielen, der Hund bellt, ein Rasen gemäht wird, wenn jemand im Sommer grillt oder wenn wir bis spät auf der Terrasse sitzen.

Was ich lese weiß sie auch. Ich sitze beim Lesen ihr gegenüber. So kann sie die Buchtitel erkennen. Aber ob sie weiß, wie gut oder schlecht die Bücher sind, kann ich nicht sagen. Vielleicht erkennt sie an meiner Mimik, ob es mir gefällt oder nicht. Oder sie denkt sich ihren Teil, wenn ich kein Ende finden kann beim Lesen.

Elsa ist so was wie eine ideale Freundin. Sie widerspricht nicht, redet mir nicht dazwischen, steht nicht in Konkurrenz zu mir und ist immer da. Ich kann mir immer einreden, dass sie mir in allem Recht gibt. Mich bestätigt und mich nie enttäuschen würde. Aber – sie spricht ja nicht.

Glücklicherweise habe ich Freunde, die sprechen, mich unterbrechen, widersprechen und auch sagen, dass ich unrecht habe. Freunde, die meine Sichtweisen korrigieren und mich in meinem Tuen fördern. Mit denen ich mich weiter entwickeln kann. Die ich in den Arm nehmen kann, die mit mir lachen, mit denen ich etwas erlebe und die mich durch die Zeit begleiten.

Durch die Zeit begleiten – genauso wie Elsa. Aber – Elsa hat noch einen zweiten Fehler außer dem Sprechen. Elsa ist kalt, lebt nicht … Elsa ist eine Schaufensterpuppe. Würden wir tatsächlich so jemanden um uns herum wollen? Der kritiklos alles gut findet, was wir tun? Jemanden, dem wir nicht das kleinste Geheimnis in uns verbergen könnten? Der alles mit uns teilt und nie widerspricht? Stellt euch vor … wenn Elsa sprechen könnte! Was würde sie wohl sagen?

 

Wo man das kleine Glück findet

kleeblattKondenswasser rollt tropfenweise an den beschlagenen Fenstern runter. Draußen ist es dunkel, die Schneewehen klatschen an die Scheiben und außer dem Brummen des Motors ist weiter nichts zu hören. Seit 17 Minuten fährt der alte Bus die Landstraße entlang. Der Busfahrer konzentriert sich, schweift aber in Gedanken immer wieder zu dem gestrigen Gespräch mit der Ehefrau ab. Die Fahrgäste schauen mit mehr oder weniger leerem Blick vor sich hin und hoffen, dass die Fahrt schnell überstanden ist. Das ist nicht gerade so ein kuscheliger Abend in der Vorweihnachtszeit, wie man ihn sich wünschen würde.

Die Fahrgäste sitzen alle im vorderen Bereich des alten Busses, so als ob sie nicht alleine sein wollten. Dabei könnten sie unterschiedlicher in der Zusammensetzung gar nicht sein. Der alte Mann schaut immer wieder sorgenvoll auf seine Plastiktüte, ob der Inhalt noch heile ist. Die Dame mittleren Alters hofft, dass es wenigstens heute etwas im Fernsehen gibt, was sie interessiert. Der junge Mann, Kopfhörer im Ohr – nun, ob er etwas denkt, wissen wir nicht, aber nach seinem Wippen zu urteilen mag er seine Musik. Die Mutter überlegt, wie sie das alles alleine schaffen soll und das Kind, an ihrer Schulter gelehnt, träumt, dass der Vater doch Urlaub bekommt. Der Manager sieht knurrig und schlecht gelaunt aus und wirkt, als ob er einfach im falschen Bus sitzt. Und das Mädchen hätten wir fast vergessen, ist sie doch so unscheinbar wie ein kleines Mauerblümchen vor einer grauen Wand. 22 Minuten – der alte Bus kämpft sich weiter durch das lausige Winterwetter.

Die Scheibenwischer leisten Schwerstarbeit und versuchen immer wieder freie Sicht zu schaffen. Der Busfahrer überlegt, ob er es ihr hätte sagen sollen. Der Motor brummt monoton und die Reifen versuchen die Spur zu halten. Der Manager überlegt, ob er nicht einfach hätte absagen sollen. Dann ein Rumpeln, es quietscht, der Busfahrer versteift sich, bremst, lenkt gegen, bremst – der alte Bus rutsch und steht. 24 Minuten – die Fahrt ist unterbrochen.

Jetzt reden sie alle durcheinander. Aufgeregt und sorgenvoll. „Alle heile?“ fragt der Busfahrer und schaut besorgt in die Runde. „Ja, nichts passiert, aber wie geht es weiter?“, fragen die Fahrgäste und reden weiter, wieder alle durcheinander und hektisch. Der Busfahrer setzt sich wieder auf seinen Sitz, lässt den Motor an und versucht zu starten, aber die Hinterräder drehen durch und lassen die Weiterfahrt nicht zu. Er stellt das Warnblinklicht ein, nimmt das Funkgerät und sagt der Zentrale Bescheid, dass der alte Bus steht und Hilfe braucht. Das dauert eine Weile, bekommt er zur Antwort, mehr als beeilen könne man sich nicht. Die Fahrgäste überlegen sich Lösungen, die alle nicht greifen und letztendlich ist klar, dass alle warten müssen. 29 Minuten und es ist leise im Bus. Nur die Schneewehen, die an die Scheiben klatschen sind zu hören.

„Jetzt denkt er bestimmt, dass ich nicht komme“, sagt der alte Mann und muss schwer schlucken. „Wer denkt, dass sie nicht kommen?“, fragt die Mutter in die Stille hinein. Nach einer ganzen Weile sagt der alte Mann: „Ich habe ihn alleine gelassen. Vor ganz vielen Jahren. Wollte nach dem großen Glück suchen und bin viel gereist. Das Glück habe ich nicht gefunden und meinen Sohn nachher auch nicht mehr.“ Es vergehen ein paar Momente bis er ergänzt: „Er hat mich wiedergefunden und mich eingeladen. Ich solle ihn erst einmal besuchen und dann entscheiden, ob wir Weihnachten zusammen feiern.“ „Er wartet bestimmt.“ sagt die Mutter, die ihr Kind unwillkürlich enger an sich zieht. Und wieder kommt die Stille zurück in den alten Bus.

Die Dame mittleren Alters kramt in ihrer riesigen Tasche und zieht eine große runde Dose hervor. Umständlich öffnet sie den Deckel und sofort verteilt sich der leckere Keksduft im alten Bus. Sie reicht ihre Keksdose in die Runde und sagt: „Ich wäre froh, wenn jemand auf mich warten würde. Ich backe immer so gerne und viele Kekse, aber habe keinen mit dem ich sie teilen kann. Dann nehme ich sie mit ins Büro, aber dort laufen sie alle daran vorbei.“ Und schon strahlen ihre Augen, weil alle Fahrgäste in die Dose greifen und für die kleine Abwechslung dankbar sind. Der Busfahrer kommt zu den Fahrgästen, setzt sich dazwischen, greift in die Dose und meint eher zu sich selbst: „Die kann sie auch so gut backen. Es wäre wohl besser, ich hätte es gesagt.“ „Was gesagt?“, fragt der mürrische Manager, jetzt muss er hier schon seine Zeit vergeuden und auch noch solche Geschichten anhören. „Wir haben uns gestritten“, antwortet der Busfahrer. „Meine Frau hat Kontoauszüge geholt und gesehen, dass ich Geld geholt hatte. Ich wollte ihr nicht sagen für was. Jetzt denkt sie, ich habe Geheimnisse vor ihr. Es war schlimm. Dabei habe ich einen Tanzkurs gemacht, was sie sich schon so lange gewünscht hatte und Karten für den Silvesterball geholt. Wenn ich es gesagt hätte, wäre der Streit vermeidbar gewesen, aber die Überraschung dahin.“ Das unscheinbare Mädchen lächelt versonnen vor sich hin und meint: „Das ist aber sehr romantisch, was sie gemacht haben. Wenn sie es ihr erzählen wird sie wieder gut mit ihnen sein.“

45 Minuten und alle warten und schweigen eine Weile bis die Mutter erzählt: „Mein Mann und ich waren sogar in einem Tanzclub und sind schon recht gut gewesen. Dann war seine Arbeit weg und wir mussten es aufgeben. Später kam noch die Oma ins Haus, weil sie alt ist. Sie ist lieb und wir verstehen uns, aber die Pflege ist anstrengen. Ich würde manchmal  lieber mit den Kindern spielen, aber dazu fehlt jetzt die Zeit, weil mein Mann wieder Arbeit hat, leider weit weg. Jetzt weiß ich nicht mehr, was besser ist, ein Mann zuhause ohne Arbeit oder ein Mann weit weg mit Arbeit.“ „In jedem Fall ein Mann zuhause“, sagt der alte Mann, „das habe ich alles falsch gemacht. Wenigstens ab und zu muss man zuhause sein.“ „Zuhause“, brummelt der Manager „denke ich auch. Ich bin immer unterwegs, von einem Geschäft zum anderen, aber richtig glücklich macht mich das auch nicht.“ „Aber Glück ist doch so wichtig“, sagt das Mädchen, „nur wo findet man das?“  „Tja, wo findet man das?“, fragt die Dame. 50 Minuten … langsam wird´s kühler im Bus.

„Ob ich einen Keks für den Vater aufheben kann?“ fragt das Kind, den Blick scheu auf den Boden gerichtet. Die Mutter hebt abwehrend die Hände „Aber nein, …“ „Doch, doch“, sagt die Dame, mittleren Alters. „Aber schöner wär´s doch, wenn du sie ihm selbst backen würdest. Das Kind schaut mit erstaunten Augen die Dame an, die gleich weiter meint: „Und noch schöner wäre es, wenn du mit der Mutter backen würdest. Ich komme zu euch und lese der Oma vor, dann hat die Mutter Zeit fürs Backen und dich.” Das Kind strahlt und die Mutter fragt leise „Das würden sie machen?“ Die Dame nickt mit dem Kopf. Ein Lächeln geht in die Runde, es wird kühler und doch ist es wärmer im alten Bus. 60 Minuten, es ist ruhig im Bus.

Das Mädchen zieht die Hand aus der Tasche und zeigt einen Zettel nach oben. „Ich bräuchte nur einen kleinen Moment etwas Glück“, schaut hoch und erschrickt, dass alle Augen auf sie gerichtet sind. „Vor drei Tagen schrieb ich den Zettel mit `Freunde´ oder `Nicht Freunde´ und gab ihn meinem Gegenüber. Der drehte sich um, kritzelte und gab ihn mir sofort zurück. Jetzt habe ich Angst, dass die Antwort weh tun könnte.“ Ruhe, keine Antwort, Stille im Bus. „Kenne ich“, sagt der Manager, „man fordert das Glück heraus und hat Angst vor der eigenen Courage. Aber immer, wenn ich den Mut hatte, etwas Unbequemes zu tun, hatte ich auch das Glück“. Das Funkgerät knarzt, der Fahrer springt auf, sprich Worte und sagt in die Runde „Jetzt haben wir Glück – sie müssen bald hier sein.“ 73 Minuten im alten Bus und Hoffnung kommt auf.

Der Schnee klatscht fest an die Scheiben, doch es sieht schön aus, als das Licht auf den alten Bus zukommt. Jetzt kommt Hilfe und die Heimfahrt wird möglich. Der alte Bus ruckelt an, der Fahrer lenkt gegen und schafft es in die Spur. Es geht weiter. Stille im Bus und jeder mit seinen Gedanken allein. „Trau dich“, sagt der Manager, gar nicht mehr knurrig und lächelt das Mädchen an. Er selbst hat beschlossen, er sagt ab. Ruft lieber den Freund an, ob er ein Bier mit ihm trinken mag.

Erste Lichter in der Ferne, bald ist es geschafft. Alle schauen nach vorne und Erleichterung macht sich breit. Das Mädchen hat heimlich den Zettel geöffnet. Sie lächelt und freut sich und dankt in Gedanken dem knurrigen Manager. Der Halt kommt in Sicht und es warten Leute dort. Dem alten Mann läuft eine Träne übers Gesicht. „Was weinst du?“ fragt der junge Mann, Kopfhörer im Ohr. „Was ist los?“ „Er steht dort“, sagt der alte Mann, „das ist der Sohn.“ „Wie wunderbar“, sagt die Dame und alle freuen sich mit. Der junge Mann, Kopfhörer im Ohr, der schon lang keine Musik sondern Geschichten gehört hat, meint: „Ich weiß jetzt, wo wir das kleine Glück finden – nur in uns selbst!“

In der 97igsten Minute fährt der alte Bus in den Halt ein und das Glück war dabei.

Geschwister – Familienbande

Lästiges Übel oder Gewinn für´s Leben?

Geschwister_24082013_webIch gehöre dazu. Ich bin sogar eine von Fünfen. Das Zweite von fünf Kindern. Ältere Schwester, jüngere Schwester und zwei jüngere Brüder. Nur ein „großer“ Bruder blieb mir verwehrt, sonst kann ich in jeder Hinsicht bei diesem Thema mitreden. Aber einfach ist das nicht unbedingt.

Als wir klein waren, haben wir uns überhaupt keine Gedanken darüber gemacht. Wir waren halt immer viele. Und wo viele sind, werden es auch immer mehr. Freunde waren bei uns immer im Haus, das gehörte dazu, fiel nicht weiter auf und zu irgendwem würde das zusätzliche Kind schon gehören. Ob es Freund oder Freundin von der großen Schwester oder einem Bruder war, das spielte gar keine Rolle. Das haben wir auch alle sehr genossen, war doch immer etwas los. Bei so vielen Kindern hat immer jemand eine Idee, was man anstellen könnte.

Später in der Schule fiel uns dann schon auf, dass die Augen doch manchmal sehr groß wurden, wenn wir erzählen (mussten), dass wir fünf Kinder zuhause waren. Bei den Erwachsenen konnten wir die Blicke nicht deuten. War es das Mitleid mit unseren Eltern, die uns durchbringen mussten oder die Bewunderung, dass sich jemand so etwas noch zumutete. Kamen wir vielleicht sogar aus ärmlichen Verhältnissen? Bei den Jugendlichen war es eigentlich immer Solidarität. Bei uns war immer etwas los, es gab immer etwas zu erzählen, es gab immer etwas zu essen und es gab (fast) immer etwas zu Lachen. Und wir haben etliche Einzelkinder in allen Zeiten erlebt, die sich sehr wohl bei uns fühlten.

Natürlich gab es auch Streit. Bei fünf Kindern ist es vollkommen natürlich, dass der eine zum anderen besser passt oder eine andere Konstellation überhaupt nicht geht. Aber damit lernt man umzugehen und letztendlich auch die Erkenntnis zu schätzen, dass man gerade trotz der hohen Kinderzahl doch einzigartig ist und nicht in einen Topf gehört. Und man lernt mit der Zeit, die Stärken und Schwächen der Geschwister zu nutzen. Ist der eine der kreative Kopf, der andere der stille Philosoph, gibt es immer auch den starken Redner, den logischen Denker oder den tatkräftigen Bauchmenschen. Geschwister ergänzen sich im Idealfall, stärken sich den Rücken und ziehen eine unglaubliche Kraft aus dem Gemeinschaftsgefühl. Streit gehört dazu, um immer wieder die Stärke zu messen und Grenzen abzustecken, um dann wieder den sprachlosen Eltern mit diesem entwaffnenden „War doch gar nicht so schlimm“-Lächeln entgegen zu leuchten!

Und oft genug war uns vollkommen klar, dass wir eine eingeschworene Bande sind – wir fünf gegen den Rest der Welt. Hat einer ein Problem, stehen vier zur Seite – bis heute. Heute sind wir erwachsen, leben alle in verschiedenen Städten, und drei Geschwister sind verheiratet und haben eigene Familien. Dennoch ist das Band geblieben. Die Ehemänner mussten mit der geschwisterlichen Verbundenheit umgehen lernen. Wir pflegen intuitiv einen sehr engen Kontakt, und uns wird gerade im Alter bewusst, wie sehr wir uns gegenseitig brauchen. Sind die Geschwister doch die Menschen, denen ich nichts erklären muss. Sie wissen, in welchem Muster ich denke und wissen nach einem Wort von mir, wie es mir geht. Wir geben uns gegenseitige Geborgenheit, finden immer Verständnis und können mit unzähligen Geschichten und Erinnerungen alles um uns herum vergessen.

Wenn wir von anderen hören, dass Familienbande gebrochen sind, kein Kontakt mehr zu Geschwistern besteht oder nur noch Konflikte das Miteinander bestimmen, macht uns das sehr traurig und sprachlos. Aber es macht uns auch unendlich dankbar – wissen wir doch, was wir an einander haben!