Ein Brief für mich!

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Ob schöne Karten, besondere Briefe, kleine Zettelchen oder geheime Nachrichten, wie hier, in der Tablettendose versteckt … sie sagen immer – ich habe nur an dich gedacht!

Der kleine Schlüssel dreht sich einmal im Schloss und die Klappe vom Briefkasten ist geöffnet. Ich nehme den ganzen Stapel Post heraus, schließe wieder und trage meine „Beute“ ins Haus. Auf dem Tisch sortiere ich. Rechnung, Werbung, Rechnung, Werbung, Werbung, Infopost, Rechnung, Brief, Werbung, … stopp … ein Brief dazwischen. Ich werde neugierig und schaue mir den Brief genauer an. In Handschrift steht meine Adresse darauf und hinten ebenso der Absender. Ein Brief von meiner Freundin, nur für mich oder besser – extra für mich. Ich öffne ihn und lese, bin gerührt und freue mich ganz besonders über diese gelungene Überraschung. 

Ein Brief im Zeitalter der Digitalisierung und dabei stehen auch dieser Freundin und mir sämtliche Kommunikationswege via Internet und Smartphone offen. Wir haben oft Kontakt über sogenannte Messenger, schicken uns Nachrichten oder Bilder, grüßen kurz oder erzählen etwas von den Kindern. Wir wohnen in unmittelbarer Nähe. Und nun dieser Brief. Ich hatte ihr zwei Tage zuvor einen Link geschickt und mich gewundert, dass sie sich dazu nicht äußerte. Die Antwort auf meine Nachricht war ihr so wichtig, dass sie sich die Mühe machte, einen schönen Briefbogen zu nehmen, zu schreiben, ihn in den Umschlag zu stecken und in meinen Briefkasten zu legen. Welch eine Wertschätzung – ich war überwältigt.

Ich gehöre nicht zu der „Früher war alles viel besser“-Fraktion, aber die Gefühle, die sich bei mir um diesen Brief zeigten, machen mich doch etwas nachdenklich. Mein Umgang mit Nachrichten und Briefen war früher anders. Früher habe ich viel geschrieben, nein, ich habe immer viel geschrieben. Doch früher hatte ich kein Smartphone, keinen Computer, keine Technik und keine Autokorrektur, die das Schreiben viel schneller, effektiver, leichter machen. Früher habe ich mir schönes Papier genommen, habe Briefe und Botschaften geschrieben und verschickt. Viele Briefe und lange Briefe. Ich war auf jeden Brief stolz und immer glücklich, wenn ich einen in den Briefkasten stecken konnte. Und wie groß war die Freude, wenn eine Antwort kam – nur für mich.

Dabei spielten Briefe immer eine besondere Rolle. Als ich zum Beispiel meinen Mann kennengelernt habe, wohnte er an der Nordsee und ich im Schwabenland. Damals gab es nur Telefon und Briefe. Telefonieren war teuer, also schrieben wir Briefe, über zwei Jahre lang. Wunderbare, lange Briefe. Er schrieb immer so, wie er sprach und da er immer schon ein Mensch war, der andere zum Lachen bringen kann, waren auch seine geschriebenen Briefe so zum Lachen. Ich fuhr manchmal in der Mittagspause meiner Ausbildung nach Hause um zu sehen, ob ein Brief von ihm da war. War einer da, steckte ich ihn ein und musste schnell wieder zum Unterricht. Dort las ich die Briefe heimlich unter der Bank – warten ging nicht – und musste manchmal so lachen, dass ich manchen Toilettengang vortäuschen musste. Später verloren wir den Kontakt zueinander, das sollte aber nicht auf Dauer so sein. Sieben Jahre später erzählte mir mein Cousin wieder von diesem Mann und ich schrieb wieder einen kleinen Brief, vollkommen belanglos und kurz. Er könne sich ja melden, wenn er Lust hätte … hatte er. Wir schrieben wieder Briefe und telefonierten zwei Monate lang. Als die Telefonrechnung dann um die 1600,- DM betrug, war mein Umzug in den Norden beschlossen. Das war vor 21 Jahren – wir schreiben keine Briefe mehr – aber lachen oft, wenn wir an diesen Briefwechsel denken müssen.

Ganz besondere Briefe und Botschaften waren die kleinen Zettelchen meiner Kinder. Jede Mutter, jeder Vater könnte vor Rührung fast umfallen, wenn sie oder er das erste Mal einen Brief vom Kind bekommt. Kleine, große, bunte und krumme Buchstaben, die Worte formen, Sätze bilden und die Welt der Eltern in ein Meer von Gefühlen eintauchen lassen. So schön, wertvoll und wichtig die Botschaft des Kindes! Später, wenn das mit dem Schreiben bei den Kleinen dann schon besser geht, werden auch ihre Briefe wichtiger. So fand ich einige Botschaften an strategisch wichtigen Stellen. Kinder haben ein punktgenaues Gespür dafür, wo sie Botschaften für Eltern hinterlegen müssen. Dabei waren unter anderen lebenswichtige Appelle, bittere Entschuldigungen, herzergreifende Wünsche oder auch mal ein „Ich kann nicht schlafen!“ (funktionierte immer – Kind schlief). Ganz oft fand ich die schlichten Botschaften „Ich hab dich lieb!“, die mich immer wieder ermahnten, ob ich das meinen Kindern im Gegenzug auch deutlich zeige. Ich habe alle aufgehoben.

Handgeschriebene Briefe sind mehr als Nachrichtenübermittler. Sie sind die direkte Auseinandersetzung mit meinem Gegenüber. Kein Korrekturprogramm hilft mir und ich muss die Worte bewusst und überlegt wählen, die ich verwenden will. Ich muss acht geben, was ich schreibe, wie ich schreibe und was ich nicht nur im Wort, sondern auch im Gefühl transportieren will. Solche Briefe sagen immer aus „Ich habe mir Zeit genommen – nur für dich!“. Handgeschriebene Briefe sind auch nicht so schnell gelöscht, wie eine E-Mail oder verschwinden in dem Meer der Kurznachrichten. Sie sagen immer aus, dass mir eine Sache so wichtig ist, dass ich mir die Zeit dafür nehme. Der Brief liegt beim Empfänger und selbst, wenn er unter einem Stapel Papiere oder einer Schublade verschwindet, taucht er wieder auf und erinnert an eine besondere Begebenheit.

Oftmals habe ich Briefe geschrieben, bei denen für mich von Anfang an klar war, dass ich sie nicht abschicken würde. Diese Briefe haben mir geholfen, mir über eine Begebenheit klar zu werden. Mit etwas ins Reine zu kommen, etwas für mich zu verarbeiten und abzuschließen. Und ich habe immer ein schönes Papier und einen gute Stift gewählt. Die Wahl des Papiers und des Schreibmittels trägt sehr zur Freude und Wertigkeit der Sache bei. An schönem Schreibpapier kann ich kaum vorbeigehen.

Für mich habe ich beschlossen, wieder mehr – handgeschriebene – Briefe zu schreiben und zu verschicken. Ich möchte wieder bewusster entscheiden, welche Nachrichten eine besondere Form wert sind. Es muss ja kein seitenlanger Brief werden, auch eine schöne Karte kann viel ausdrücken. Zu oft nehme ich die mangelnde Zeit als Ausrede, schnell eine E-Mail zu schreiben oder anzurufen. Besondere Menschen, besondere Freunde, besondere Anlässe und besondere Gedanken sind es wert, diese Form der Wertschätzung nicht zu vergessen. Ich selbst finde Besinnung beim Schreiben und bei der Vorstellung, wie mein Brief bei dem anderen ankommt. Auch ist das handgeschriebene Wort bewusster gewählt, als das der E-Mail, dass eh gleich wieder von der Korrektur gelöscht werden kann. Der erste Brief geht an die Freundin, die jetzt im Urlaub ist. Mal sehen, was sie sagt, wenn sie ihren kleinen Briefkastenschlüssel bei der Heimkehr in den Briefkasten steckt. Dort einen Brief findet auf dem steht: „Nur für dich!“

Liebe mit 70+

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Mohnblumenfeld in Spanien

Die Liebesgeschichte begann eigentlich mit einer Trennung, wenn auch noch Jahre vergehen mussten, bevor sie begann. Nach 40 Jahren Ehe verstarb der Ehemann und die Frau, die nie alleine gewesen war, war erstmalig alleine für ihr Leben verantwortlich. Witwe mit 58 Jahren. Das erste Kind hatte sie mit 17 Jahren bekommen, eine Kinderhochzeit zur damaligen Zeit. Vier Jahre vor der Volljährigkeit war sie verheiratet und sozusagen vom Kinderzimmer direkt in die Obhut des Ehemanns gegangen. Es war eine gute Ehe mit vielen Höhen und Tiefen. Sie wurde geschlossen aus der Verpflichtung des Kindes wegen, war aber keine Liebesheirat. Am Ende standen Vertrauen, Respekt und Wertschätzung zwischen ihnen, ganz andere Werte und fünf erwachsene Kinder sowie eine gemeinsame Lebensleistung. 

Als junges Mädchen hatte sie in Sachen Liebe ein Schlüsselerlebnis. Die Damenschneider-Werkstatt in der sie lernte, bekam hin und wieder Besuch von einer Kundin. Sie kam immer in Begleitung ihres Partners oder Ehemanns. Während der Anprobe kokettierte die Dame mit ihren üppigen Rundungen, was dem Partner offensichtlich sehr gut gefiel. Er schwärmte immer davon, wie gut sie doch aussehe. So stellte sie sich die Liebe vor, in der man noch im Alter eine Begeisterung füreinander empfindet. Diese beiden waren später die einzigen, die ihr zu der frühen Schwangerschaft gratulierten.

Sie war Witwe – das erste Mal, dass sie selber, ohne Absprache, bestimmen konnte, wie sie ihren Lebensraum gestalten will. Einen neuen Partner wollte sie in keinem Fall. Sie wollte die Freiheit genießen und sich mit Dingen beschäftigen, die ihr selber wichtig waren. Sie wollte unabhängig ihre Tage gestalten, Reisen unternehmen, Freunde besuchen, selber entscheiden, welchen Film sie anschaute und einfach nur für sich sein. Das hatte sie vorher nie gehabt. Auch das fünfte Kind zog irgendwann aus und begann seinen eigenen Weg. Dann schließlich kamen die Tage, an denen sie alleine am Frühstückstisch saß, die Wochenenden, an denen keiner vorbeikam und Stunden, in denen sie mit niemandem sprach.

Sie begann Annoncen zu lesen, Zeit war ja da, und studierte die Partnerschaftsgesuche. Also doch? Nun ja, erst mal lesen bedeutet ja nichts, ganz unverbindlich einfach mal interessieren und schauen, ob nicht doch jemand Interessantes zu finden ist. Natürlich wurde sie fündig, denn eine Anzeige gefiel ihr recht gut. Es stellte sich jedoch schnell heraus, dass es sich dabei um eine Fangannonce einer Partneragentur handelte. Dennoch traf sie sich mit ein paar Herren, doch das Ergebnis war sehr ernüchternd. Der eine Herr suchte Gesellschaft, ein anderer wollte seine Porno-Sammlung vorstellen. Ein dritter wollte mit ihr nach Australien ausreisen, lebte selber aber schon im Seniorenheim. Ein weiterer hatte im Hinterkopf, seine Pflege für die beginnende Demenz zu sichern. Allen gemeinsam war der Wunsch ihre Lebensgeschichte zu erzählen, es gibt doch so viele einsame Menschen, aber ein so richtig interessanter Mann war für sie nicht dabei. Also lies sie es sein, das Leben konnte sie besser alleine gestalten.

Erstmal! Denn irgendwann saß sie wieder alleine beim Sonntagsfrühstück. Lass die Zeitung und landete doch wieder auf der Partnerseite. Dort lass sie eine außergewöhnliche Anzeige: Ein Glückssucher versprach kein Holzbein, keine Glatze und keine feuchten Hände zu haben. Fragte, wer Mut hätte zu schreiben. Den hatte sie, denn hier fand sie einen mit Humor. Um ein Foto bat er, dass er auch zurückschicken würde. Aussehen, Nationalität, Figur wären sekundär. Als Bild musste ein Passbildautomatenfoto reichen und schreiben konnte sie. So war die Antwort bald fertig und machte sich auf den Weg nach Spanien.

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Ihre Offenheit war es, die ihn wiederum antworten lies. Unter 436 Antworten auf seine Anzeige (man stelle sich den armen Briefträger des kleinen spanischen Ortes vor), war ihr Brief aufgefallen, der vielem entsprach, was er selber empfand. Und damit begann ein reger Briefwechsel. Die erwachsenen Kinder merkten natürlich eins nach dem anderen, dass sie sich veränderte. Die Laune war eine andere, das Lachen zog wieder in ihr Leben ein, die Fröhlichkeit wurde Begleiter. Alarmglocken klingelten bei allen Kindern, als sie nach zwei Brief wechselnden Monaten erzählte, dass er sich auf den Weg von 1600 km machen würde um sie kennenzulernen. Die zaghafte Frage, nach der Unterbringung des Mannes, beantwortet sie einfach: Sie hatten kein Hotel gebucht, er könne ihr gleich an der Haustür sagen, ob sie ihm gefiele oder nicht. Er blieb – für 14 Tag. Verließ für eine kurze Reise das Haus um nach weiteren 14 Tagen wieder da zu sein. Dann reiste sie – 1600 km zu ihm nach Spanien.

Das passierte vor fünf Jahren. Bis heute sind sie ein Paar – ein Liebespaar 70+. Die Kinder mussten sich daran gewöhnen, doch er machte es ihnen leicht ihn zu mögen. Dies war eine ganz andere Geschichte als die Geschichte mit ihrem Vater. Er tat nicht so, als hätte er kein Leben vorher gehabt. Seine frühere Ehe war glücklich, aber er sei nicht zum alleine leben geschaffen. Trotzdem war es teilweise schwer für die Kinder sich, ungeachtet des Erwachsenseins, daran gewöhnen zu müssen, dass die Mutter nun einen anderen Fokus hatte und das elterliche Haus nicht mehr das Haus von früher war. Mancher Unmut musste besprochen und behoben werden. Letztendlich aber zählt etwas ganz anderes. Sie ist glücklich, sie ist gesund, sie erlebt an seiner Seite Dinge, die alleine nicht möglich gewesen wären.

Sie sagt dazu, dass diese Liebe im Alter etwas Besonderes und Schönes sei. Beide müssen sich gegenseitig nichts mehr beweisen. Akzeptieren den Partner so, wie er nun mal ist – mit all seinen Ecken und Kanten. Mit 70 kann man niemanden mehr verbiegen und Kompromisse müssen geschlossen werden. Die grauen Haare, die Falten und der Bauch gehört ebenso dazu, wie die kleinen Macken, deren einzige Berechtigung das Alter ist. Aber, sagt sie, man muss sich auch selbst akzeptieren, so wie man ist, und wenn man den Jugendwahn die kalte Schulter zeigt, lässt sich manche Unebenheit durch hübsche Kleidung kaschieren. Und beobachtet sie ältere Paare, in den Straßen oder Kaffees, wenn sie sich unterhalten, dann wirken sie immer lebendig und vermitteln das Gefühl, sich noch etwas zu sagen zu haben.

So wie damals das Paar in der Damenschneider-Werkstatt, faszinierten sie auch immer schon die Gesichter und Hände älterer Menschen aus denen man viel lesen kann. Wenn diese älteren Menschen das Glück haben, jemanden lieben zu können, sie den Geruch des anderen wahrnehmen, den Kopf an den anderen anlehnen können oder beim Aufwachen dessen Hand spüren, gibt es dafür keinen anderen Namen als „Glück“. Diese Liebe und das Leben mit ihr – wird wertvoll durch Lob, Verständnis, Anerkennung und Dankbarkeit. Das jugendliche Schlüsselerlebnis wurde wahr.

Einzig eine Sorge begleitet diese Liebe im hohen Alter: Wie sieht die nächste Trennung aus? Wer bleibt, wer muss als erster gehen!