Kunstvoll erziehen!

katrin_munke

Es ist ein Moment der Selbsterkenntnis: Der dreijährige Sohn sitzt auf dem Teppich des Wohnzimmers und spielt mit seinen Modellautos den Straßenverkehr nach. Völlig in sich und sein Spiel versunken, schimpft das Kind mit einem Mal: „Dieser verdammte Viot, keine Augen im Kopf!“ und lässt einen Wagen in den anderen krachen. Der Vater sitzt im Wohnzimmersessel, beobachtet die Szene und zweifelt, ob er lächeln oder schimpfen soll, weil das Kind ein Schimpfwort benutzt. Ihm ist klar, dass das Kind den Vater im realen Straßenverkehr kopiert und erkennt sich selber im Verhalten des Kindes. Es ist der Moment in dem er versteht, wie Erziehung funktioniert.

„Erziehen heißt vorleben … alles andere ist höchstens Dressur“ – besagt ein Zitat von Oswald Bumke. Jede Mutter und jeder Vater erlebt irgendwann diesen Moment, in dem sie oder er sich selber im Verhalten, der Gestik, in der Wortwahl oder dem Tonfall des Kindes wieder erkennt. Die eigentliche Kunst ist nun, diesen Moment der Selbsterkenntnis bewusst für die Erziehung zu nutzen. Es bedeutet nichts anderes, als sich eigenes Verhalten klar zu machen, das man oft vom Nachwuchs gespiegelt bekommt. Kinder ahmen das Verhalten Erwachsener nach und beobachten ihre Umgebung mehr, als es Erwachsenen bewusst ist. Deutlich wird es ganz besonders in den kleinen menschlichen Fauxpas, die uns allen zu eigen sind. So nutzt es kaum, das Kind zum Lesen zu animieren, wenn man selbst nie ein Buch zur Hand nimmt oder dem Kind die Freude am Vorlesen zeigt. Es nutzt kaum, einem Kind Freundlichkeit abzuverlangen, sofern man sie selbst nicht lebt. Auch die Art und Weise, Streitgespräche zu führen, der Umgang mit anderen Menschen bis hin zur inneren Ruhe und Ausgeglichenheit hat Auswirkung auf den Wunsch des Kindes es den Erwachsen, den Eltern und meist Vorbildern gleich zu tun. „Es gibt keine andere vernünftige Erziehung, als Vorbild zu sein, wenn es nicht anders geht, ein abschreckendes.“ wusste auch Albert Einstein. So bleibt ganz einfach festzustellen, dass Kinder ein Spiegelbild der Eltern sind.

Erziehung ist die Kunst, sich selbst und seiner Wirkung bewusst zu sein. Das auch Erziehung durch Kunst möglich ist, macht das Beispiel der Künstlerin Katrin Munke deutlich. Bei ihr wurde das Interesse am künstlerisches Arbeiten und der Musik sehr früh geweckt und bleibt Bestandteil in Ausbildung und Beruf. Ob grafische Arbeiten, Mixed Media oder textile Kunstwerke – ihre Arbeiten bestechen durch ihr Farbigkeit und Detailtreue. Der Betrachter kann sich die Werke erschließen, immer wieder neue Bildelemente entdecken und über die Stimmigkeit von Bild-, Objekt-
und Farbelementen staunen. In drei Ausstellungen hat Katrin Munde ihre Werke im Gutshaus Lichterfelde den Besuchern vorgestellt und auch beim Kunstmarkt der Generationen, der in diesem Jahr zum vierten Mal stattfindet, ist sie treuer Gast. Nicht nur die Werke zeichnen sich in ihrer Besonderheit aus, auch der Erlös aus dem Verkauf lässt so manchen aufhorchen. So spendet Katrin Munke den Erlös zu 100 % an Hilfsorganisationen – meist der UNO Flüchtlingshilfe. Ihr persönlicher Gewinn an der künstlerischen Arbeit liegt im Prozess, der Entspannung und letztlich auch dem Austausch mit ihrem Publikum. Ihr Ehemann Martin Munke, ebenfalls Lehrer, hat sich autodidaktisch das Arbeiten mit Leder angeeignet und gilt heute unter Liebhabern als Geheimtipp. Er fertigt Helme, Armstulpen, Gürtel und Rüstungen, die nicht nur durch das edle Material sondern auch durch die kunstvollen Verzierungen Bewunderung auslösen. Ein Blick genügt, um zu wissen, welch ein Zeitaufwand in diesem, gar nicht mehr üblichem, Handwerk liegt.

Zur Familie gehören zwei Kinder, die von Anfang an ihre Eltern bei der Beschäftigung mit künstlerischen Arbeiten beobachten konnten. Natürlich ist es keine unbedingte Folge, dass Kinder durch dieses Vorleben ebenso die Liebe zum Kunsthandwerk entdecken. In diesem Fall war das aber so. Insbesondere in den Ferien lieben die Kinder die von den Eltern vorgegebene Atmosphäre. Es wird gemeinschaftlich gearbeitet und gewerkelt. Der Sohn zeigt eine Neigung zu grafischen Arbeiten und beherrscht den Umgang mit Finelinern. Malte A3 Blätter mit Theaterszenen voll, die die Mutter zum Vortrag hochhalten durfte. Die Tochter zeigt eine Neigung zu Handarbeiten und verfügt schon über eine stattliche Stoffsammlung. Auch das Mangazeichnen ist eins ihrer Steckenpferde. So steht die Familie über die Kunst im Austausch, ergänzt sich durch die jeweiligen Vorlieben und Richtungen des künstlerischen Arbeitens.

Den Kindern wird weit mehr mitgegeben als handwerkliche Fähigkeiten. Sie lernen durch Vorbild einen Prozess konzentriert und in Ruhe zu Ende zu bringen. Lernen sich selbst zu beschäftigen, bekommen Einblick in die Herstellung von Gegenständen und wissen um die Wirkung von Materialien. Sie lernen die Schaffensprozesse anderer zu respektieren. Lernen den Stellenwert der Kreativität zu schätzen, die letztlich Auswirkungen auf alle Lebensbereiche hat. Sie lernen Wertschätzung gegenüber Fähigkeiten anderer. Erfahren über Lob Anerkennung oder Förderung in einem weniger gefälligem Urteil zu erkennen. Zudem wird ihnen durch die Mutter vermittelt, dass sich neben dem Eigennutzen durch Kunst anderen helfen lässt.

Natürlich ist diese Familie ein sehr deutliches Beispiel dafür, dass das Vorleben im eigenen Tun unmittelbare Auswirkungen auf die Erziehung der Kinder hat. Nicht jedem ist es gegeben künstlerisch zu Arbeiten. Doch auch durch Sport, Literatur, durch besondere Wissensgebiete, besonderer Wertschätzung gegenüber Ernährung, Interessen in speziellen Bereichen, Reisen oder schlicht durch die Beschäftigung mit dem Kind, können Eltern eigenes Interesse und Erleben mit Erziehung verbinden. Und sei es durch die Kunst, sich immer wieder ehrlich und kritisch der Selbsterkenntnis zu stellen.   

Künstlerkontakt:
Katrin Munke, Telefon 030 29 36 86 63, E-Mail: katrin_munke[at]web.de


4. Kunstmarkt der Generationen

KmdG_logo_original2014_web

24. Juni 2017, 12.00 – 18.00 Uhr,
Schlosspark Lichterfelde am Hindenburgdamm 28, 12203 Berlin

Info/Kontakt: Manuela Kolinski
E-Mail kolinski[at]stadtteilzentrum-steglitz.de
Telefon 030 84 41 10 41


szs_mittelpunkt_februar-2017Ein Beitrag aus dem Magazin „Im Mittelpunkt“ Januar/Februar 2017 mit dem Leitthema „Eltern“
Das ganze Magazin kann als eBook oder interaktives Pdf heruntergeladen werden. Die gedruckte Version, einschließlich dem Einleger mit allen Veranstaltungen, bekommt man in den Einrichtungen des Stadtteilzentrum Steglitz e.V.

Perspektivwechsel

game-characters-pixabay

Jeder, ausnahmslos jeder, hat es früher gedacht: „Wenn ich groß bin, erziehe ich meine Kinder einmal ganz anders!“ Der Grund lag meistens darin, dass man sich von Mutter oder Vater ungerecht behandelt fühlte, etwas nicht durfte oder nicht bekam. Nur kam man aus seinem „kleinem“ Dilemma nicht heraus. Musste sich fügen und fand ganze die Welt ungerecht. Viele Jahre später – man ist inzwischen erwachsen geworden und hat eventuell eigene Kinder – stellt man an gewissen Punkten fest, dass die Eltern mit ihrer Erziehung gar nicht so verkehrt gelegen haben. Man erkennt den Sinn mancher Regeln, Grundsätze, Verbote und Gebote und gesteht sich leise ein, das ein oder andere nun doch, genau so, wie die Eltern zu handhaben. In manchen Punkten zumindest, denn auch Erziehung muss sich wandeln und den zeitlichen Gegebenheiten anpassen.

Fühlt sich ein kleiner Mensch in Kindertagen, im Idealfall, von seinen Eltern beschützt und begleitet, will sich der etwas größere Mensch in der Jugend gerade von eben diesen, oft mit Protest, abgrenzen. Die Eltern verlieren ihre Vorbildfunktion und das eigene Profil will gefunden werden. Hat er die Abgrenzung geschafft, genießt er ein paar Jahre erwachsene Freiheit um eines Tages festzustellen, dass er nun selber die Seite wechseln muss und in die Rolle des Erziehenden rutscht. Vorbereitet ist kaum einer wirklich, da Elternwerden weder zur Allgemein- noch zur Schulbildung gehört. In der Euphorie des Elternwerdens, wird oft vergessen, wie der Alltag mit Kind wirklich aussieht, welche Kraftreserven hin und wieder gefordert werden und man auf Jahre hinaus oft auf manche Freiheiten verzichten muss. Dabei wäre eine etwas nüchterne Betrachtungsweise hilfreich. Junge Eltern sollten früh wissen, nicht perfekt sein zu müssen und Hilfe beanspruchen eher ein Zeichen von Stärke ist. Die Idealfamilie, immer entspannte Eltern, einen problemlosen Alltag mit Kind gibt es nicht.

Ratgeber für Eltern gibt es zahlreich. In Buchform oder Internetseiten zu allen Themen die Eltern bewegen. Nur wird dort oft erst gesucht, wenn ein Problem schon gegeben ist. Ratgeber in Form von Älteren, die die Erziehung hinter sich gelassen haben, oft eine Rückschau der eigenen Erlebnisse geben und weniger den objektiven Blick auf das Problem legen. Soziale Einrichtungen, Ämter und Selbsthilfegruppen bieten Hilfe, was voraussetzt, sich ein Problem vor Fremden einzugestehen. Es ist nicht leicht, in der Realität der Elternwelt anzukommen und festzustellen, dass die Bilderbuch-Familie nur in den wettbewerbsfähigen Müttergesprächen auf dem Spielplatz oder auf der Mattscheibe besteht.

Der beste Ratgeber von allen ist und bleibt das eigene Bauchgefühl und der ehrliche Umgang mit sich selber. Was dem Kind nicht möglich ist, kann der Erwachsene bewusst für seine Erziehung nutzen. Das Kind kann nicht in die Zukunft blicken oder sich die Gedankenwelt der Eltern vorstellen. Der Erwachsene hingegen ist in der Lage zurückzublicken und die Aussage „Wenn ich groß bin, erziehe ich meine Kinder einmal ganz anders!“ für sich umzukehren. Was wollten wir damals anders machen? Was hat uns an den Eltern gestört und was hätten wir uns gewünscht. Der Trick ist, sich auf die Augenhöhe des Kindes zu begeben, die Perspektive zu wechseln und versuchen zu verstehen, wie unsere Vorgaben auf das Kind wirken. Wir können die Perspektive wechseln – das Kind nicht.

Am Beispiel erklärt: Die Kinder kommen nach Hause, schmeißen die Jacken auf die Haken und die Schuhe verlassen die Füße dort, wo sie gerade sind. Die Mutter kommt nach Hause, vollzieht einen Balanceakt, bis sie erst einmal an den Kleiderhaken ankommt, um dann ihre Schuhe akkurat in das leere Schuhregal zu stellen. Dicke Luft ist im Haus. Die Mutter ärgert das Chaos, die Kinder verziehen das Gesicht – wäre doch noch Platz für weitere Schuhpaare in dem Flur gewesen. Viele Jahre später trägt eins der Schuhchaos-Kinder das Enkelkind nachts im Dunkel die Treppe herunter. Auf der vorletzten Stufe stolpert es über ein Paar Schuhe. Im Bemühen, das Enkelkind zu schützen, zieht es sich eine schmerzende Zerrung zu – und die Erkenntnis, dass es der Mutter damals nicht um das Chaos, sondern um dem sicheren Weg durch den Flur ging. Natürlich ist die Erkenntnis kein Heilmittel gegen Schuhchaos, aber doch die Möglichkeit, dem Kind zu erklären, warum man Ordnung im Flur möchte und kein Schuh mitten im Gehweg stehen sollte.

Noch ein Beispiel: Der Vater arbeitet, zuhause und im Büro – immer. Das Kind möchte ihm erzählen, was es erlebt hat, was es für Sorgen hat und seine Meinung hören. Der Vater sagt: „Jetzt nicht!“ Das ist es immer, was das Kind hört und das „Jetzt nicht!“ prägt sich dem Kind ein. Es weiß nichts von dem Bemühen des Vaters gute Arbeit zu machen um die Existenzgrundlage der Familie zu sichern. Es weiß nichts vom Zeitdruck, dem der Vater unterliegt oder von den Hindernissen, die der Vater bewältigen muss. Hier wäre es besser, der Vater würde sich die Zeit nehmen, dem Kind zu erklären, was es mit dem Arbeiten auf sich hat und feste Gesprächszeiten mit dem Kind aushandeln. Der Vater kann sich in die Bedürfnisse des Kindes hineindenken. Das Kind in die des Vaters nicht.

Diesen Perspektivwechsel können wir für alle Bereichen, die uns Eltern wichtig sind, durchdenken. Kinder verstehen nicht erst, wenn sie erwachsen werden. Sie verstehen durchaus, kindgerecht erklärt, sehr früh, was die Eltern bewegt. Wie verhält es sich mit Anstand und Höflichkeit, Gehorsam und Gefahr, Lob und Tadel, Pflichten und Privilegien? Was hat uns an unseren Eltern gestört? Was machen wir bewusst anders und in wie vielen Bereichen geben wir ihnen – aus der heutigen Perspektive – recht? Voraussetzung ist immer, das wir bereit sind unser Familienmodel nicht als hierarchisches Gebilde, sondern als Lebensgemeinschaft mit gleichberechtigten Partnern zu sehen. Bereit sind die ehrliche Mitsprache von Kindern zuzulassen und eine Position von oben vermeiden. Regeln, Grundsätze, Verbote und Gebote lassen sich mit Kindern aushandeln.

Nicht zu vergessen ist, dass die heutige Rolle der Eltern einem Wandel unterlegen ist. Waren Eltern in früheren Zeiten meist das bestimmende Vorbild, oder eben das Gegenteil dessen, spielen heute viele andere Erziehungsfaktoren eine entscheidende Rolle. Der Einfluss der technischen Möglichkeiten und Medien beeinflusst nicht nur die Berufswelt, auch das Privatleben ist in allen Bereichen betroffen. Kinder und Jugendliche unterliegen viel früher fremden Einflüssen, die sowohl meinungsbildend als auch erzieherisch wirken. Umso erforderlicher ist es, mit den eigenen Kindern und Jugendlichen immer im Gespräch zu bleiben. Nur im Gespräch erfahren wir, was den Nachwuchs bewegt und beschäftigt. Erziehen ist heute weit mehr als gebieten und verbieten und der Erfolg hängt unter anderem von der Ehrlichkeit uns selbst gegenüber ab. Das entgegenkommende Gespräch und echte Interesse an seiner Erlebniswelt ermöglicht es uns, den Faden zu Kind und Jugend nicht zu verlieren.

Klar ist: Auch wenn wir uns auf Augenhöhe der Kinder bewegen, die Perspektive wechseln und unsere Kinder als Partner sehen, sind wir, die Erwachsen, diejenigen, die die Geschicke vorgeben. Wir bestimmen das Maß in dem wir uns auf unsere Kinder einlassen, die Zeit, die wir ihnen heute widmen und die Intensität, die unser Verhältnis bestimmt. Den Satz „Wenn ich groß bin, erziehe ich meine Kinder einmal ganz anders!“ denken unsere Kinder trotzdem wie wir damals. Denn ebenso ist klar – auch wir sind „nur“ Mensch und mit Fehlern behaftet – aber auch das können wir unseren Kindern erklären.

 

Das Thema „Eltern“ steht im Mittelpunkt des nächsten Magazins des Stadtteilzentrums. Dort sind Beiträge aus dem Bereich des Schulsozialarbeit, Beiträge über junge oder kunstvolle Eltern sowie Beiträge aus der Arbeit mit unbegleiteten Flüchtlingen zu finden.

Liebe mit 70+

annaschmidt-berlin.com_mohnblumenfeld-spanien

Mohnblumenfeld in Spanien

Die Liebesgeschichte begann eigentlich mit einer Trennung, wenn auch noch Jahre vergehen mussten, bevor sie begann. Nach 40 Jahren Ehe verstarb der Ehemann und die Frau, die nie alleine gewesen war, war erstmalig alleine für ihr Leben verantwortlich. Witwe mit 58 Jahren. Das erste Kind hatte sie mit 17 Jahren bekommen, eine Kinderhochzeit zur damaligen Zeit. Vier Jahre vor der Volljährigkeit war sie verheiratet und sozusagen vom Kinderzimmer direkt in die Obhut des Ehemanns gegangen. Es war eine gute Ehe mit vielen Höhen und Tiefen. Sie wurde geschlossen aus der Verpflichtung des Kindes wegen, war aber keine Liebesheirat. Am Ende standen Vertrauen, Respekt und Wertschätzung zwischen ihnen, ganz andere Werte und fünf erwachsene Kinder sowie eine gemeinsame Lebensleistung. 

Als junges Mädchen hatte sie in Sachen Liebe ein Schlüsselerlebnis. Die Damenschneider-Werkstatt in der sie lernte, bekam hin und wieder Besuch von einer Kundin. Sie kam immer in Begleitung ihres Partners oder Ehemanns. Während der Anprobe kokettierte die Dame mit ihren üppigen Rundungen, was dem Partner offensichtlich sehr gut gefiel. Er schwärmte immer davon, wie gut sie doch aussehe. So stellte sie sich die Liebe vor, in der man noch im Alter eine Begeisterung füreinander empfindet. Diese beiden waren später die einzigen, die ihr zu der frühen Schwangerschaft gratulierten.

Sie war Witwe – das erste Mal, dass sie selber, ohne Absprache, bestimmen konnte, wie sie ihren Lebensraum gestalten will. Einen neuen Partner wollte sie in keinem Fall. Sie wollte die Freiheit genießen und sich mit Dingen beschäftigen, die ihr selber wichtig waren. Sie wollte unabhängig ihre Tage gestalten, Reisen unternehmen, Freunde besuchen, selber entscheiden, welchen Film sie anschaute und einfach nur für sich sein. Das hatte sie vorher nie gehabt. Auch das fünfte Kind zog irgendwann aus und begann seinen eigenen Weg. Dann schließlich kamen die Tage, an denen sie alleine am Frühstückstisch saß, die Wochenenden, an denen keiner vorbeikam und Stunden, in denen sie mit niemandem sprach.

Sie begann Annoncen zu lesen, Zeit war ja da, und studierte die Partnerschaftsgesuche. Also doch? Nun ja, erst mal lesen bedeutet ja nichts, ganz unverbindlich einfach mal interessieren und schauen, ob nicht doch jemand Interessantes zu finden ist. Natürlich wurde sie fündig, denn eine Anzeige gefiel ihr recht gut. Es stellte sich jedoch schnell heraus, dass es sich dabei um eine Fangannonce einer Partneragentur handelte. Dennoch traf sie sich mit ein paar Herren, doch das Ergebnis war sehr ernüchternd. Der eine Herr suchte Gesellschaft, ein anderer wollte seine Porno-Sammlung vorstellen. Ein dritter wollte mit ihr nach Australien ausreisen, lebte selber aber schon im Seniorenheim. Ein weiterer hatte im Hinterkopf, seine Pflege für die beginnende Demenz zu sichern. Allen gemeinsam war der Wunsch ihre Lebensgeschichte zu erzählen, es gibt doch so viele einsame Menschen, aber ein so richtig interessanter Mann war für sie nicht dabei. Also lies sie es sein, das Leben konnte sie besser alleine gestalten.

Erstmal! Denn irgendwann saß sie wieder alleine beim Sonntagsfrühstück. Lass die Zeitung und landete doch wieder auf der Partnerseite. Dort lass sie eine außergewöhnliche Anzeige: Ein Glückssucher versprach kein Holzbein, keine Glatze und keine feuchten Hände zu haben. Fragte, wer Mut hätte zu schreiben. Den hatte sie, denn hier fand sie einen mit Humor. Um ein Foto bat er, dass er auch zurückschicken würde. Aussehen, Nationalität, Figur wären sekundär. Als Bild musste ein Passbildautomatenfoto reichen und schreiben konnte sie. So war die Antwort bald fertig und machte sich auf den Weg nach Spanien.

ruperts_anzeige_web

Ihre Offenheit war es, die ihn wiederum antworten lies. Unter 436 Antworten auf seine Anzeige (man stelle sich den armen Briefträger des kleinen spanischen Ortes vor), war ihr Brief aufgefallen, der vielem entsprach, was er selber empfand. Und damit begann ein reger Briefwechsel. Die erwachsenen Kinder merkten natürlich eins nach dem anderen, dass sie sich veränderte. Die Laune war eine andere, das Lachen zog wieder in ihr Leben ein, die Fröhlichkeit wurde Begleiter. Alarmglocken klingelten bei allen Kindern, als sie nach zwei Brief wechselnden Monaten erzählte, dass er sich auf den Weg von 1600 km machen würde um sie kennenzulernen. Die zaghafte Frage, nach der Unterbringung des Mannes, beantwortet sie einfach: Sie hatten kein Hotel gebucht, er könne ihr gleich an der Haustür sagen, ob sie ihm gefiele oder nicht. Er blieb – für 14 Tag. Verließ für eine kurze Reise das Haus um nach weiteren 14 Tagen wieder da zu sein. Dann reiste sie – 1600 km zu ihm nach Spanien.

Das passierte vor fünf Jahren. Bis heute sind sie ein Paar – ein Liebespaar 70+. Die Kinder mussten sich daran gewöhnen, doch er machte es ihnen leicht ihn zu mögen. Dies war eine ganz andere Geschichte als die Geschichte mit ihrem Vater. Er tat nicht so, als hätte er kein Leben vorher gehabt. Seine frühere Ehe war glücklich, aber er sei nicht zum alleine leben geschaffen. Trotzdem war es teilweise schwer für die Kinder sich, ungeachtet des Erwachsenseins, daran gewöhnen zu müssen, dass die Mutter nun einen anderen Fokus hatte und das elterliche Haus nicht mehr das Haus von früher war. Mancher Unmut musste besprochen und behoben werden. Letztendlich aber zählt etwas ganz anderes. Sie ist glücklich, sie ist gesund, sie erlebt an seiner Seite Dinge, die alleine nicht möglich gewesen wären.

Sie sagt dazu, dass diese Liebe im Alter etwas Besonderes und Schönes sei. Beide müssen sich gegenseitig nichts mehr beweisen. Akzeptieren den Partner so, wie er nun mal ist – mit all seinen Ecken und Kanten. Mit 70 kann man niemanden mehr verbiegen und Kompromisse müssen geschlossen werden. Die grauen Haare, die Falten und der Bauch gehört ebenso dazu, wie die kleinen Macken, deren einzige Berechtigung das Alter ist. Aber, sagt sie, man muss sich auch selbst akzeptieren, so wie man ist, und wenn man den Jugendwahn die kalte Schulter zeigt, lässt sich manche Unebenheit durch hübsche Kleidung kaschieren. Und beobachtet sie ältere Paare, in den Straßen oder Kaffees, wenn sie sich unterhalten, dann wirken sie immer lebendig und vermitteln das Gefühl, sich noch etwas zu sagen zu haben.

So wie damals das Paar in der Damenschneider-Werkstatt, faszinierten sie auch immer schon die Gesichter und Hände älterer Menschen aus denen man viel lesen kann. Wenn diese älteren Menschen das Glück haben, jemanden lieben zu können, sie den Geruch des anderen wahrnehmen, den Kopf an den anderen anlehnen können oder beim Aufwachen dessen Hand spüren, gibt es dafür keinen anderen Namen als „Glück“. Diese Liebe und das Leben mit ihr – wird wertvoll durch Lob, Verständnis, Anerkennung und Dankbarkeit. Das jugendliche Schlüsselerlebnis wurde wahr.

Einzig eine Sorge begleitet diese Liebe im hohen Alter: Wie sieht die nächste Trennung aus? Wer bleibt, wer muss als erster gehen!