Soziale Kunst

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Der Raum füllt sich mit immer mehr Besuchern, aufgeregte Stimmen sind hinter dem Vorhang zu hören, alle suchen sich einen Platz, es wird dunkel, leise und die Vorstellung beginnt. Ein erstes Musikstück ist zu hören, das sich in der Folge mit vielen anderen Stücken zu einem Musical verbindet. Kinder spielen ihre Instrumente, singen und tanzen, verlieren ihre Nervosität und dürfen schließlich im begeisterten Beifall der Zuschauer versinken. Der Erfolg hat dem wochenlangen Proben recht gegeben. Die ErzieherInnen im Kinder- und Jugendhaus haben mit den Kindern ein Stück einstudiert. Sie haben selber Texte geschrieben, Melodien komponiert, dazu gesungen, immer wieder verbessert und geprobt. Eine andere Gruppe von Kindern hat Tänze einstudiert, Kostüme entworfen und genäht, ein Bühnenbild ist entstanden und schließlich die Plakate, die zum Musical eingeladen haben. Ist die Vorstellung vorbei, ist kaum mehr nachzuvollziehen, wie viel Arbeit es war, alles auf die Beine zu stellen. Die Kinder haben auf mehreren Ebenen Dinge gelernt und erfahren, deren Tragweite sie in jungen Jahren noch nicht absehen können. Der Transporteur war die gemeinsame Kunst.

Eine umfassende Definition zu geben, was Kunst ist, fällt schwer, weil der Facettenreichtum des Begriffs kaum zu fassen ist. Einigkeit dürfte darüber herrschen, dass immer ein Prozess damit verbunden ist, der dem Kunstschaffenden die Möglichkeit gibt, Gefühle und Gedanken zu offenbaren und zum Ausdruck zu bringen. Der Kunstschaffenden gibt seine Botschaft mit seinen Ausdrucksmitteln an andere weiter und damit einen Teil von sich selbst. Unbedeutend, ob er das bewusst oder unbewusst tut, denn wie es beim Betrachter ankommt und verstanden wird, hat er nicht in der Hand. Die Möglichkeiten, die der Kunstschaffende hat, sind nahezu unbegrenzt. Kunst bricht Regeln, setzt Bekanntes und Gewohntes außer Kraft. Kunst provoziert und bedient sich endloser Fantasien. Kunst darf nahezu alles, was der Mensch in seiner Vorstellungskraft sicht- und hörbar machen kann. Die reine Kunst ist frei.

Kunst wird gerne mit dem Begriff Kultur verbunden, was sofort eine massive Einschränkung der reinen Kunst bedeutet. Kultur ist ein stets gesellschaftlich geprägtes Verständnis, dass von Zeit, Mode und Historie der jeweiligen Gesellschaft vorgegeben ist. Kultur ist, was gefällt und zeitgemäß empfunden wird. Die Gesellschaft gibt vor, welche Art der Musik, bildenden und darstellenden Kunst und der Literatur Erfolg oder eben auch nicht haben kann. Kultur verändert sich.

Kunst und Kultur setzen menschliches Handeln voraus. Setzt man nun die Begriffe Kunst mit „Prozess“ und Kultur mit „gesellschaftlicher Veränderung“ gleich, liegt der Rückschluss nicht fern, dass Kunst und Kultur auch den Kunstschaffenden selber verändert. Dieser Veränderungsprozess ist das Mittel, mit dem Kunst und Kultur in pädagogischen, psychologischen und sozialen Zusammenhängen genutzt wird. PädagogInnen, TherapeutInnen und ErzieherInnen nutzen Kunst und Kultur, um gewünschte und verändernde Inhalte bewusst zu machen.

In einer Kita wird ein Märchen vorgelesen, das Stück mit den Kindern geprobt, vertont und auf einer CD verewigt. Die Kinder lernten eine Geschichte in eigenen Worten wieder zu geben, wie Geräusche entstehen und welche Arbeit in einer CD steckt. In einer Schülerbetreuung wird ein Papierprojekt durchgeführt, um den Kindern bewusst zu machen, welche Umweltressourcen genutzt und verbraucht werden, um Papier zu erzeugen. Die dabei entstehenden künstlerischen Arbeiten sind Mittel zum Zweck, die letztlich viel Stolz vermitteln und im Gedächtnis haften bleiben. Jugendliche werden animiert, aus altem Zeitungspapier ihre Trauminsel zu bauen, und machen so die ganz neue Erfahrung, dass auch sie sehr kreativ sein können. Zahllos sind die Beispiele, bei denen etwas mit Kindern zusammen gebaut, gemalt, geprobt oder gespielt wird. Sinn ist es, immer die freie Fantasie zu nutzen und deren Potential zu entfalten. Bewusst ist dabei, dass Menschen mit viel Fantasie Zusammenhänge neu kombinieren und gewohnte Muster aufbrechen können. Neue Lösungen entstehen, die einen gewünschten Fortschritt erzielen können. Ein Kind, das mit Behinderungen lebt, malt mit einem Pinsel nicht nur, es macht Sinneserfahrungen und kann sich selber wahrnehmen. Schüchterne Kinder legen im Theaterspiel ihre Scheu ab und stärken das Selbstbewusstsein. Junge Erwachsene, die den Kunstunterricht immer langweilig fanden, machen in der Gruppe die Erfahrung, wie viel Kreativität in ihnen steckt.

Die künstlerischen Prozesse, die im pädagogischen Zusammenhang genutzt werden, sind frei von Bewertung und Talent. Es geht um den Prozess an sich selbst und nicht darum ein Kunstwerk zu schaffen. Natürlich kommt es immer wieder vor, dass ein Talent entdeckt wird, das dann in gezielte Förderung vermittelt werden muss. Bewertet werden kann nur, ob ein Projekt oder Prozess erfolgreich war und angenommen wurde. Ob ein Bild, das von einem Jugendlichen gemalt wurde, schön ist, ist nicht von Bedeutung. Wichtig ist, dass es gemalt wurde. Ist es schön geworden, umso besser, weil er oder sie dann weiter machen.

So ist es nicht weiter verwunderlich, dass gerade in sozialen Einrichtungen zahlreiche Angebote zu finden sind, die Kunst und Kultur zum Inhalt haben. Malgruppen für Erwachsene, Tanz- und Theatergruppen, Literaturkreise oder Musikangebote stehen immer dort auf dem Programm, wo Menschen zusammen kommen. Austausch und Kommunikation stehen hier im Fokus. In der Gruppe können Menschen etwas bewerkstelligen und die Stillen in etwas einbezogen werden, was sie sonst als Zuschauer betrachten würden. Kunst und Kultur in sozialen Einrichtungen bewegt und verbindet. Die KünstlerInnen, die hier zu sehen sind, sind nicht die der großen Bühnen und Öffentlichkeit. Es sind die Senioren, die nicht allein sein wollen, Geflüchtete, die ihrem Erlebten Ausdruck vermitteln möchten und Menschen aus der Nachbarschaft, die in der Gruppe Dinge mitmachen, zu denen ihnen alleine der Antrieb fehlt. Kunst in sozialen Einrichtungen verbindet – der begeisterte Beifall aller Beteiligten heißt dabei jeden willkommen.

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Dies ist einer von vielen schönen Beiträgen zum Thema „Integration durch Kunst und Kultur“ und zu finden sind sie alle im Magazin „Im Mittelpunkt“ des Stadtteilzentrum Steglitz e.V. oder hier:

Als eBook – eine epub-Datei, als interaktives Pdf und den Einleger „Mittendrin“ mit Veranstaltungen und Ferientipps des Stadtteilzentrum im Juli und August.

http://www.stadtteilzentrum-steglitz.de/ebook/MagazinImMittelpunktJuliAugust2016.epub – 230 MB

http://www.stadtteilzentrum-steglitz.de/ebook/MagazinImMittelpunktJuliAugust2016.pdf – 230 MB

http://www.stadtteilzentrum-steglitz.de/ebook/VeranstaltungenSzSMittendrinJuliAugust2016online.pdf – 640 KB

Die lieben KollegInnen

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Zweimal in der Woche pflege ich Leitartikel in unsere Homepage ein. Das sind Berichte aus der Arbeit, Fachbeiträge oder auch Geschichten – alles was zu sozialer Arbeit passt. Ich kopiere die Texte ins System ein, bearbeite sie, setze Links hinzu, verknüpfe Videos, stelle Bilder oder ganze Fotogalerien ein. Das wird mit Schlagworten versehen, der Erscheinungstermin festgelegt und fertig ist alles. Beim letzten Beitrag bin ich hängen geblieben, weil er mich sehr beeindruckt hatte. Es ging um ein Video zum Thema „Tod und Trauer„, dass ein Kollege mit einer Schulklasse gedreht hatte. Dazu hatte er einen Text geschrieben, der in seiner persönlichen Art sehr passend war und alles ein stimmiges Bild wurde. Ich musste über diesen Kollegen nachdenken, der es wieder einmal geschafft hatte, etwas in mir zu bewegen. Seinetwegen kamen mir noch viele andere KollegInnen in den Sinn.

Wenn man das Glück hat lange Zeit für den gleichen Arbeitgeber zu arbeiten, hat man ebenso das Glück mit vielen KollegInnen einen langen Weg gemeinsam zu gehen. Manchmal geht einer einen anderen Weg, aber die meisten bleiben und jüngere KollegInnen kommen hinzu. Mit der Zeit verändern sich unsere Aufgabengebiete, neue kommen hinzu, Prioritäten werden verschoben und mit diesen Entwicklungen, die die Arbeit mit Menschen von uns abfordert, entwickeln sich auch die KollegInnen. Dies wird besonders deutlich, wenn junge KollegInnen ihre Positionen einnehmen, sich anfangs scheu einarbeiten und immer mehr an Sicherheit und Selbstbewusstsein gewinnen. Nicht selten konnten wir schon erleben, wie sich diese jungen KollegInnen von ErzieherInnen zu ProjektleiterInnen entwickelten und heute diejenigen sind, die andere von ihren Ideen begeistern. Kaum einer der älteren MitarbeiterInnen tut heute noch das, was in den ersten Jahren gefordert war, sondern hat sich Bereiche erschlossen, die immer wieder ein Umdenken und eine Anpassung an die aktuellen Gegebenheiten einfordert. Viele KollegInnen nutzen das stets offene Angebot zu Fortbildungen, die nicht nur persönlich bereichern, sondern immer ein Gewinn für die jeweilige Einrichtung und somit für den Arbeitgeber, den sozialen Verein, werden.

Den oben genannten Kollegen kenne ich etwa 13 Jahre. In den ersten Jahren hatten wir weniger miteinander zu tun. Aufgefallen ist mir aber schon sehr früh, dass er eine unglaubliche Affinität zu Kinofilmen hat. Ich glaube, er weiß alles darüber – Regisseure, Titel, Erscheinungsjahr, Mitspieler, Oskar-Verleihungen … weiterhin ist er mir durch eine bemerkenswerte Allgemeinbildung aufgefallen und mit der Zeit wurde er mein Lieblingsatheist, da er nach Möglichkeit seine Meinung bezüglich Kirche und Glauben kund tut. Mir hat immer gefallen, das er seine Fähigkeiten und Interessen in Bezug zu seiner Arbeit einsetzt und als Leiter eines Kinder- und Jugendhauses versteht, Kinder und Jugendliche zu Denkprozessen zu ermutigen und Dinge zu hinterfragen. Er leitet seit Jahren eine Hausaufgabenbetreuung, die ein großer Erfolg ist, er spielt mit den Kindern Theater und … hat es schließlich irgendwann geschafft dem Arbeitgeber eine Kamera für den Gebrauch in seiner Einrichtung zu entlocken. Seither begeistert er nicht nur die Kinder, mit denen er schon viele Video-Projekte durchgeführt hat, sondern auch alle Kolleginnen und viele andere Erwachsen, die diese Filme sehen dürfen. In diese Profession, die er mittlerweile für den ganzen Verein nutzt, ist viel private Zeit eingeflossen – ein geniales Beispiel dafür, wie fruchtbar privates Interesse oder Hobby für pädagogisch fundierte Arbeit genutzt werden kann.

Es gibt kaum einen künstlerischen Bereich, der nicht mit einer Kollegin oder Kollegen besetzt werden könnte. Die Kreativitäts- und Kunsttherapeutin leitet eine Kreativität-AG, die Theaterpädagogin stellt ihre Begabung und Profession in Projekten zur Verfügung, der Musiker begeistert Kinder- und Jugendlichen, indem er ihnen vermittelt, was sie mit seiner Hilfe auf die Beine stellen können. Ein Kollege fesselte auf einem Kunstmarkt mit ein paar Trommeln und ein paar Kindern sein Publikum – eine Vorstellung, von der wir heute noch begeistert erzählen. Einer hat über die Jahre Musicals mit Kindern und Jugendlichen auf die Beine gestellt. Immer wieder entstehen Lieder, die zu den jeweiligen Projekten passend, die Kinder mit einem Gefühl von Stolz und „Ich-kann-was!“ wachsen lassen. Ein anderer fesselt mit Gaffitis die Jugendlichen seiner Schule an der er als Projektleiter der Ergänzenden Förderung und Betreuung (Hort) tätig ist. Gaffiti ist dabei das Medium, dass den Kontakt zur Jugend erleichtert und oft Mittler seiner Botschaften wird. Alle diese Kolleginnen nutzen mit Spaß und Talent ihre Fähigkeiten im Sinne der pädagogischen Arbeit – und es macht Spaß zu beobachten, was über die Jahre daraus entstanden ist und wie sich die KollegInnen mit jedem erfolgreichen Projekt weiter entwickeln.

Es dauert natürlich nicht lange, bis man weiß, wer was kann und auf diese Weise sind schon viele übergreifende Projekte entstanden. Dazu kommt eine gewachsene Vertrautheit, weil man das Vermögen und die Arbeitsweise des anderen kennt. Natürlich sitzen auch wir nicht auf einem rosa Wölkchen – wo viele Menschen zusammen arbeiten, müssen auch mal die Funken fliegen. Die Kunst dabei ist, die Funken aufzufangen und daraus ein weisendes Licht zu machen. Dieses Licht muss nicht aus einem besonderen Talent entstehen, auch die Alltäglichkeiten, die die KollegInnen erleben, sind erzählenswert. Manchmal pflege ich Beiträge in die Homepage ein, in denen KollegInnen von den Essgepflogenheiten ihrer Einrichtungen erzählen, manchmal Berichte über schlimme Wörter, über das Miteinander-Reden oder einfach auch wie man jemandem helfen kann, der einen schlechten Tagesbeginn hatte.

Nun könnte man natürlich sagen, dass alle diese Menschen ihren Job tun und man diesen Einsatz von ihnen erwarten kann. Ich denke aber, dass man ruhig einmal erzählen sollte, wie gut so viele unterschiedliche Menschen, Talente und Fähigkeiten im Sinn einer Sache zusammenarbeiten können, sich über ein normales Maß einbringen und viel Energie dafür aufwenden. In vielen Arbeitsbereichen grenzt unsere Tätigkeit in ehrenamtliche Bereiche, in denen immer KollegInnen zu finden sind. Und dazu gehören nicht nur die KollegInnen mit den besonderen Talenten, auch die stillen MitarbeiterInnen, auf die immer Verlass ist, die Verwaltungsangestellte, die immer für den richtigen Überblick sorgt, die Küchenkraft, die Teller und Gläser sauber hält, der Hausmeister, der alles heile macht.

Ich freue mich immer wieder, dass ich an der Stelle sitze, die die besonderen Berichte, die meine KollegInnen erzählen, der Öffentlichkeit vorstellen darf. Am liebsten würde ich über jeden einzelnen eine Geschichte erzählen … denn nicht selten höre ich von ihnen, dass ihnen ihre Arbeit sehr viel Spaß macht – und das finde ich großartig, weil es mich selber sehr motiviert. „Wir gehen davon aus, dass wir die Welt verändern können!“ heißt der erste Satz des Leitbildes des Vereins – mit diese KollegInnen setzen wir ihn jeden Tag um.

Wenn das Kind nicht zur Schule passt!

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Wer ein Kind aufzieht, steht irgendwann unweigerlich vor diesem einen Tag, dem „Erster Schultag“. Bis dahin konnte sich das Kind meist frei und ungebeugt in der Familie und im Kindergarten bewegen und entwickeln. Nun macht es die Bekanntschaft mit einer Institution, der Schule, die seine künftige Entwicklung vehement beeinflussen wird. Dieser erste Schultag wird gefeiert, vom Kind, das jetzt zu den Großen gehört, und den Eltern, die aus irgendeinem Grund stolz darauf sind. Danach gibt es zwei Möglichkeiten: Die erste ist eine meist problemlose, undramatische Schullaufbahn und ein dem Apparat angepasstes Kind. Die zweite Möglichkeit ein jahrelanges Kämpfen um Motivation, Lernerfolg, Anerkennung und einen am Ende hoffentlich noch weltoffenen jungen Menschen. Im ersten Fall kann man sich glücklich schätzen. Im zweiten Fall kommt der Moment, in dem man sich fragt, warum man eigentlich diesen ersten Schultag gefeiert hat. Hätte man doch damals schon gewusst …

Wir durften beide Fälle kennenlernen. Fall eins ist mit dem Abitur abgeschlossen. Fall zwei ist voll im Gange, beschäftigt uns tagtäglich und das seit dem 23. August 2003, dem Tag der Einschulung unserer jüngeren Tochter. Damals gab es noch die Vorklassen, eine wunderbare Möglichkeit die Kinder vor Beginn der eigentlichen Schulzeit mit dem Schulalltag bekannt zu machen. Auch unsere Tochter durfte ein schönes harmonisches Jahr dort erleben. Im darauf folgenden Jahr kam sie in die erste Klasse und wir begrüßten, dass die neue Lehrerin im Ruf stand gut durchgreifen zu können und die Klassen im Griff zu haben. Wir haben eins der Kinder, die immer neugierig, immer unterwegs und immer abzulenken sind.

Was dann kam hätten wir nicht für möglich gehalten. Unsere Tochter hörte auf zu Lachen und zu Singen. Wir fürchteten jeden Tag den Schulschluss und die damit verbundene Nachrichten der von ihr erlebten Katastrophen. Sie wurde krank und die einzige Lösung konnte nur in der Umschulung liegen, denn einem halben Jahr Drill, Abwertung und Gleichmacherei war sie nicht gewachsen. In der neuen Schule wurde es etwas besser, zumindest waren alle freundlich und wir konnten aufatmen – glaubten wir. In der Folge erlebte ihre Klasse einen permanenten Klassenlehrer-Wechsel. Dies hatte zur Folge, dass die Kinder der Klassengemeinschaft sich selber sozialisierten. Unsere Tochter gehörte nicht dazu, hat sie doch immer ihre Meinung vertreten, gerne mit Jungen gespielt und sich für Dinge interessiert, die nicht konform waren. Wir führten unzählige LehrerInnengespräche mit immer wieder neuen LehrerInnen. Uns wurde zum einen vermittelten, dass es das Kind nicht weit bringen würde und sie zum anderen sowieso viel besser wüssten, wie die Psyche und das Verhalten unseres Kindes zu deuten sei. Das Ergebnis eines Vorfalls in der sechsten Klasse war ein Krankenaufenthalt, bei dem ausschließlich psychische Ursachen festgestellt werden konnten. Infolge dessen begann eine 5 1/2jährige Gesprächstherapie. Die Tochter war kaum mehr zu bewegen in die Schule zu gehen, geschweige denn ihr irgendwelche positiven Aspekte des Ganzen erklärlich zu machen. Die bevorstehende Wahl der Oberschule machte uns große Sorgen.

In der Zeit erzählte mir meine Nachbarin über den Gartenzaun, dass in der Nähe eine ganz neue Schulform für die Oberschule beginnen sollte. Da sie meine Tochter gut kannte, meinte sie, ich solle da aufpassen. Das tat ich und nach mehreren Tagen der offenen Tür an anderen Schulen, besuchten wir den ersten Werkstattabend in der sich gründenden Montessori Oberschule. Was uns dort begegnete, lies uns zweifeln: LehrerInnen, die überzeugend und offen wirkten, eine Schulleiterin, die uns aus der Seele sprach und SchülerInnen, die offensichtlich Spaß an der Veranstaltung hatten. Auf dem Heimweg entschied sich das Kind dort hinzugehen. Es hatte ihr gefallen. Nun begannen zuhause die Diskussionen, da wir keine Erfahrung mit Montessori-Pädagogik hatten und – sollte sie aufgenommen werden – klar war, dass der Hauptschulzweig der Schule herauswachsen müsste, was viel Umbruch und Neuerungen mit sich ziehen musste. Aber dennoch, da war etwas, was auch uns überzeugt hatte. Zum Beispiel die Aussage, dass die Schule ohne die Mitarbeit der Eltern, die Kinder überhaupt nicht unterrichten könne. Und auch das Gefühl, welche Wertschätzung den Kindern entgegengebracht wird, hatte uns überzeugt. Wir meldeten sie an, blieben aus der vorherigen Erfahrung aber skeptisch.

Wir wurden zum Einschulungsgespräch eingeladen. Für mich die reinste Tortur, da ich so gerne vom schulischen Leid meiner Tochter erzählt hätte. Die Schulleiterin unterhielt sich jedoch ausschließlich mit meiner Tochter. Ich durfte am Ende noch die faktischen Informationen geben und das war´s. Sie wurde angenommen. Die nächste Hürde kam auf uns zu, denn mit der Aufnahme der Tochter waren wir Eltern verpflichtet an einem Elternseminar über mehrere Wochen teilzunehmen. Ob wir bei diesem Seminar viel Neues lernten, kann ich gar nicht einmal sagen. Uns wurde in jedem Fall ein ganz neuer Blick auf viele Dinge in der Pädagogik geöffnet. Wir erlebten viele Wochen, in denen wir auf den nächsten Termin schon neugierig und insgesamt traurig waren, als es vorbei war. Wir hatten verstanden, wie die Schule ihren Auftrag versteht und umsetzt. Damals haben wir gesagt: „Wenn nur 70 % von dem wahr ist, was uns hier versprochen wurde, ist das die beste Schule, die wir für unser Kind finden können.“

Mit dem Schulbeginn an der neuen Schule stellte sich für uns auch sehr schnell ein neues Familienleben ein. War bis dahin üblich, dass wir die ersten Stunden nach der Schule erst einmal das Kind beruhigen und auffangen mussten, kam nun ein gut gelauntes und fröhliches Kind nach Hause. Ein Kind, das plötzlich erzählte, was es in den Pausen mit anderen gemeinsam erlebt hatte. Ein Kind, das am Nachmittag etwas für die Schule vorbereiten wollte. Ein Kind, von dem uns die LehrerInnen berichteten, was es für eine Bereicherung für die Gemeinschaft wäre. Ein Kind, das völlig normal war und Freunde hatte.

Ebenso anders war, dass wir Eltern hier willkommen waren. Waren wir an den anderen Schulen, die Unbequemen, die immer zu viel wissen wollten und in Frage stellten, war hier unsere Unterstützung willkommen. Hatte ich vorher geschworen, nie wieder Elternvertreter werden zu wollen, wurde ich hier neugierig und wollte den Aufbau der Schule mit gestalten. Hier bekamen wir als erstes die Kontaktdaten der LehrerInnen mit der direkten Aufforderung, bei jeglichen Unstimmigkeiten oder Fragen den Kontakt zu suchen. Was mich nachhaltig an dieser Schule fasziniert, ist die Tatsache, dass hier nicht so getan wird, als ob alles rund läuft. Auch an dieser Schule gibt es Probleme im Miteinander, aber diese Probleme werden besprochen, manchmal hart diskutiert und meist eine Lösung gefunden. Kinder werden nicht fallen gelassen, sondern nach Möglichkeiten gesucht, sie aufzufangen und nach ihrem Vermögen voran zu bringen. Probleme in den Klassen werden im Klassenrat besprochen. In der GEV werden Kompromisse geschlossen und so wird jedem der möchte die Möglichkeit gegeben aktiv am Schulgeschehen teilzuhaben.

Schwierig war für uns am Anfang, dass der direkte schulische Erfolg nicht messbar und mit anderen Schulen vergleichbar ist. Das bedeutet, dass wir als Eltern einen großen Vertrauensvorschub geben mussten. Da uns aber immer wieder versprochen wurde, dass die Kinder nach ihrem individuellem Stand gefördert werden und nicht über einen Kamm geschoren werden können, mussten wir uns dem fügen. Das taten wir allerdings gerne, denn viel wichtiger als jeglicher schulischer Erfolg, war für uns, dass unsere Tochter wieder über ein hohes Maß an Motivation verfügte und Spaß am Lernen gewonnen hatte – das war schon die halbe Miete!

Vor ein paar Wochen wurden wir zum Zeugnisgespräch für das erste Halbjahr der 10. Klasse eingeladen. Meine Tochter lass ihr Notenzeugnis und gab es mir hochzufrieden. Als ich es las, erlebte ich einen der bewegendsten Momente. Dort stand die Prognose, dass sie mit dem nötigen Lerneifer und Willen, die gymnasiale Oberstufe erreichen könne. Nach all den Jahren und zahllosen LehrerInnengesprächen stand dort zum ersten Mal, dass sie es kann – aus eigener Kraft, wenn man ihr den notwendigen Rahmen dafür gibt. Und wie ich gehofft hatte, hat meine Tochter für sich verstanden, dass sie es selber in der Hand hat ihr Ziel, dass sie nie aufgegeben hatte, zu erreichen.

Wir wissen nicht, was in ein paar Wochen sein wird. Wir wissen aber in jedem Fall, dass unser Kind einen erfolgreichen Weg vor sich hat. Wie er aussehen wird, wird sich zeigen. In unseren Augen wird an dieser Schule großartige Arbeit geleistet. Wer sich davon überzeugen möchte, sollte unsere Tochter kennenlernen. Eine selbstbewusste junge Frau, die sich immer selbst treu geblieben ist, immer noch offen ihre Meinung vertritt, immer noch  neugierig, unterwegs und leicht abzulenken ist. Ein weltoffener junger Mensch werden konnte – trotz Institution Schule.

Wir werden wieder feiern – ihren Schulabschluss. Egal, welcher das sein wird … glücklich darüber, dass wir es doch geschafft haben, diesem Kind Selbstvertrauen, Selbstbewusstsein und eine positive Lebenseinstellung zu erhalten!