Unter der Mütze versteckt!

Foto: © Claudia Paulussen - Fotolia.com

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An einem Winterabend ging ich mit meinem Mann eine Straße in Berlin-Neukölln entlang. Ein Puppentheater war unser Ziel. Es war dunkel, kalt und Schneeregen fiel. Wir kamen an vielen kleinen Läden vorbei, die trotz des Wetters ihre Waren zur Straße hin präsentierten, geschützt unter Regendächern. Dazwischen immer wieder kleine Cafés, in denen meist Männer saßen, sich unterhielten und Kaffee tranken. Nach einer Weile sagte ich scherzhaft zu meinem Mann, ich wäre froh, dass ich eine Mütze auf dem Kopf tragen würde und man meine blonden Haare nicht sehen konnte. Es kam mir vor, als wenn wir in einer Stadt in einem südlichen Land wären. In diesem Viertel leben wohl vornehmlich Bürger aus anderen Nationen. Dieses Gefühl ist es, denke ich, das jemand in ähnlicher, viel bedrückender, Weise hat, der in dieses Land kommt, fremd ist und sich vollkommen neu orientieren muss.

Seit zwei/drei Wochen habe ich ein ganz anderes Gefühl – ein ziemlich schlechtes. Ich werde es nicht mehr los und habe hin und her überlegt, ob ich es beschreiben soll oder es lieber sein lasse, meinen Senf dazu zu geben. Ich habe übelst viele Beiträge über die Demonstrationen in Dresden gelesen. Was dort vor sich geht, wollte ich begreifen. Deren Thesen habe ich mir angeschaut und auch darauf geachtet, Artikel zu lesen, die aus unterschiedlichsten politischen Richtungen kommen. Es hat alles nichts genutzt. Mein Gefühl wird immer schlechter und es geht mir nicht gut damit. Heute habe ich einen Film gesehen in dem diese Demonstranten zu Wort kommen und ihre Beweggründe beschreiben auf die Straße zu gehen. Im Moment bin ich nur fassungslos.

Jeder, der sich einigermaßen in der speziell deutschen Geschichte auskennt, weiß, dass ein ähnliches Muster gar nicht all zulange her ist – und es hat in einer unmenschlichen Katastrophe geendet. Ein Stellvertreter für den allgemeinen Bürgerfrust ist gefunden. Die Masse wird von wenigen mobilisiert und instrumentalisiert ohne zu merken, was eigentlich vor sich geht. Sie wird gelenkt in dem Glauben für etwas auf die Straßen zu gehen, das sie in Wirklichkeit mit jedem Schritt zerstört. Die Zyklen der Geschichte drehen sich weiter, aber ich hätte nie geglaubt, dass sie so unglaublich kurz sind. Und dass es so unglaublich leicht ist, so viele Menschen für dumm zu verkaufen – oder sie einfach dumm.

Geradezu als Frechheit empfinde ich es, die Behauptung dieser Wenigen zu hören, sie seien das Volk. 15.000 Demonstranten behaupten das Volk zu sein. 15.000 von 80 Millionen Menschen, die hier leben. Selbst wenn man die stillen Sympathisanten noch mit einrechnen könnte, wären sie noch lange nicht das Volk. Das Volk sind hier lebende Menschen, mit oder ohne Migrationshintergrund. Das Volk sind alle Schlesier und Ostpreußen, die nach dem letzten Weltkrieg das gleiche wie heutige Flüchtlinge erlebt haben, die sich hier integrierten und einen bedeutenden Anteil an diesem Staatswesen haben. Das Volk sind Hugenotten, Holländer und Russen, die unter dem Vielvölkerstaat Preußen das Glück hatten Zuflucht zu finden. Zuflucht – hier – das sind unsere Vorfahren. Das Volk sind alle südländischen Arbeiter, die wir in den 60er Jahren brauchten um dieses Land wieder aufzubauen und alle Türken, Araber, Afrikaner und viele andere … alle die tagtäglich ihren Anteil am Gemeinwesen hier leben und dieses Land multikulturell und weltoffen machen. Weltoffen – zumindest versuchen sie es.

Sie wollen Deutschland vor der Islamisierung schützen. Eine Gefahr, die nicht existent ist. Wie kann ich mein Land vor einer Religion schützen wollen, wenn ich die eigene Christliche nicht einmal begriffen habe. Oder noch schlimmer – eine Frau sagte ins Mikrofon: „Ich bin ja nicht religiös, will Weihnachten aber auch nicht in der Moschee verbringen!“ – Gute Frau, warum feierst du überhaupt Weihnachten, wenn du nicht religiös bist und was interessiert dich dann der Islam? Wenn ich so eine Behauptung in ein Mikrofon gesprochen hätte, könnte ich mir nur noch ein Erdloch suchen und hoffen, dass mich nie wieder jemand findet.

Wer bei diesen Demonstrationen mitläuft, hat ganz andere Probleme als die mit dem Islam. Und was immer das auch für Probleme sind, lassen sie sich in einem Schmelztiegel von Gleichgesinnten leichter ertragen. Diese Probleme sind existent und in unseren derzeitigen sozialen und wirtschaftlichen Verhältnissen sicherlich zu finden. Das berechtigt aber noch lange niemanden, dafür fremde Menschen verantwortlich zu machen, nur weil sie einen anderen Ursprung haben. Manche, die etwas ändern könnten, denken nur bis zur nächsten Wahl und gehen vorsichtig auf Kuschelkurs mit diesen Demonstranten – nur nicht zu viele Wähler vergraulen … Viele, die etwas ändern könnten, halten aus Bequemlichkeit den Mund.

Ich bin keine Expertin in der Soziologie und Politik dieses Landes. Mein Gefühl ist im Aufruhr und falsche Gefühle gibt es nicht. Ich bin enttäuscht, weil ich in den letzten Jahren glaubte, dieses Land öffnet sich weiter den fremden Nationen. Jetzt zeigt sich, dass der Rassismus selbstbewusster geworden ist, sich traut auf die Straße zu gehen, Gesicht zu zeigen … und die Unverschämtheit besitzt im Namen des Volkes zu sprechen. Parolen aus anderen Zusammenhängen klaut, Menschen diskriminiert, massenhafte Volksverblödung betreibt. Es macht mir Angst, dass sich diese Bewegung unter dem Deckmäntelchen des braven Bürgers versteckt, dem ich tagtäglich überall begegnen könnte. Welch eine grausige Vorstellung.

Und eine große Sorge macht sich in mir breit. Im nächsten Jahr wird mein Neffe geboren. Wir freuen uns alle ungemein auf dieses Kind. Er wird in Deutschland geboren, wird unsere Sprache sprechen, wird einen deutschen Namen haben, ist mit mir in direkter Linie blutsverwandt … und er wird höchstwahrscheinlich eine dunkle Hautfarbe haben. Seine Mutter ist Kenianerin. In was für eine Zeit wird er hineingeboren, in der Fremdenfeindlichkeit wieder auf die Straße geht. Was muss er einmal erleben, wie muss er sich als Deutscher behaupten, welche Gegenden von Deutschland sollte er meiden, welche Vorbehalte muss er ertragen. Er wird sich keine Mütze auf den Kopf setzen können, aber ich werde für meinen Anteil eingestehen, damit er mit einem guten Gefühl durch alle unsere Straßen laufen kann.

Wenn das Kind nicht zur Schule passt!

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Wer ein Kind aufzieht, steht irgendwann unweigerlich vor diesem einen Tag, dem „Erster Schultag“. Bis dahin konnte sich das Kind meist frei und ungebeugt in der Familie und im Kindergarten bewegen und entwickeln. Nun macht es die Bekanntschaft mit einer Institution, der Schule, die seine künftige Entwicklung vehement beeinflussen wird. Dieser erste Schultag wird gefeiert, vom Kind, das jetzt zu den Großen gehört, und den Eltern, die aus irgendeinem Grund stolz darauf sind. Danach gibt es zwei Möglichkeiten: Die erste ist eine meist problemlose, undramatische Schullaufbahn und ein dem Apparat angepasstes Kind. Die zweite Möglichkeit ein jahrelanges Kämpfen um Motivation, Lernerfolg, Anerkennung und einen am Ende hoffentlich noch weltoffenen jungen Menschen. Im ersten Fall kann man sich glücklich schätzen. Im zweiten Fall kommt der Moment, in dem man sich fragt, warum man eigentlich diesen ersten Schultag gefeiert hat. Hätte man doch damals schon gewusst …

Wir durften beide Fälle kennenlernen. Fall eins ist mit dem Abitur abgeschlossen. Fall zwei ist voll im Gange, beschäftigt uns tagtäglich und das seit dem 23. August 2003, dem Tag der Einschulung unserer jüngeren Tochter. Damals gab es noch die Vorklassen, eine wunderbare Möglichkeit die Kinder vor Beginn der eigentlichen Schulzeit mit dem Schulalltag bekannt zu machen. Auch unsere Tochter durfte ein schönes harmonisches Jahr dort erleben. Im darauf folgenden Jahr kam sie in die erste Klasse und wir begrüßten, dass die neue Lehrerin im Ruf stand gut durchgreifen zu können und die Klassen im Griff zu haben. Wir haben eins der Kinder, die immer neugierig, immer unterwegs und immer abzulenken sind.

Was dann kam hätten wir nicht für möglich gehalten. Unsere Tochter hörte auf zu Lachen und zu Singen. Wir fürchteten jeden Tag den Schulschluss und die damit verbundene Nachrichten der von ihr erlebten Katastrophen. Sie wurde krank und die einzige Lösung konnte nur in der Umschulung liegen, denn einem halben Jahr Drill, Abwertung und Gleichmacherei war sie nicht gewachsen. In der neuen Schule wurde es etwas besser, zumindest waren alle freundlich und wir konnten aufatmen – glaubten wir. In der Folge erlebte ihre Klasse einen permanenten Klassenlehrer-Wechsel. Dies hatte zur Folge, dass die Kinder der Klassengemeinschaft sich selber sozialisierten. Unsere Tochter gehörte nicht dazu, hat sie doch immer ihre Meinung vertreten, gerne mit Jungen gespielt und sich für Dinge interessiert, die nicht konform waren. Wir führten unzählige LehrerInnengespräche mit immer wieder neuen LehrerInnen. Uns wurde zum einen vermittelten, dass es das Kind nicht weit bringen würde und sie zum anderen sowieso viel besser wüssten, wie die Psyche und das Verhalten unseres Kindes zu deuten sei. Das Ergebnis eines Vorfalls in der sechsten Klasse war ein Krankenaufenthalt, bei dem ausschließlich psychische Ursachen festgestellt werden konnten. Infolge dessen begann eine 5 1/2jährige Gesprächstherapie. Die Tochter war kaum mehr zu bewegen in die Schule zu gehen, geschweige denn ihr irgendwelche positiven Aspekte des Ganzen erklärlich zu machen. Die bevorstehende Wahl der Oberschule machte uns große Sorgen.

In der Zeit erzählte mir meine Nachbarin über den Gartenzaun, dass in der Nähe eine ganz neue Schulform für die Oberschule beginnen sollte. Da sie meine Tochter gut kannte, meinte sie, ich solle da aufpassen. Das tat ich und nach mehreren Tagen der offenen Tür an anderen Schulen, besuchten wir den ersten Werkstattabend in der sich gründenden Montessori Oberschule. Was uns dort begegnete, lies uns zweifeln: LehrerInnen, die überzeugend und offen wirkten, eine Schulleiterin, die uns aus der Seele sprach und SchülerInnen, die offensichtlich Spaß an der Veranstaltung hatten. Auf dem Heimweg entschied sich das Kind dort hinzugehen. Es hatte ihr gefallen. Nun begannen zuhause die Diskussionen, da wir keine Erfahrung mit Montessori-Pädagogik hatten und – sollte sie aufgenommen werden – klar war, dass der Hauptschulzweig der Schule herauswachsen müsste, was viel Umbruch und Neuerungen mit sich ziehen musste. Aber dennoch, da war etwas, was auch uns überzeugt hatte. Zum Beispiel die Aussage, dass die Schule ohne die Mitarbeit der Eltern, die Kinder überhaupt nicht unterrichten könne. Und auch das Gefühl, welche Wertschätzung den Kindern entgegengebracht wird, hatte uns überzeugt. Wir meldeten sie an, blieben aus der vorherigen Erfahrung aber skeptisch.

Wir wurden zum Einschulungsgespräch eingeladen. Für mich die reinste Tortur, da ich so gerne vom schulischen Leid meiner Tochter erzählt hätte. Die Schulleiterin unterhielt sich jedoch ausschließlich mit meiner Tochter. Ich durfte am Ende noch die faktischen Informationen geben und das war´s. Sie wurde angenommen. Die nächste Hürde kam auf uns zu, denn mit der Aufnahme der Tochter waren wir Eltern verpflichtet an einem Elternseminar über mehrere Wochen teilzunehmen. Ob wir bei diesem Seminar viel Neues lernten, kann ich gar nicht einmal sagen. Uns wurde in jedem Fall ein ganz neuer Blick auf viele Dinge in der Pädagogik geöffnet. Wir erlebten viele Wochen, in denen wir auf den nächsten Termin schon neugierig und insgesamt traurig waren, als es vorbei war. Wir hatten verstanden, wie die Schule ihren Auftrag versteht und umsetzt. Damals haben wir gesagt: „Wenn nur 70 % von dem wahr ist, was uns hier versprochen wurde, ist das die beste Schule, die wir für unser Kind finden können.“

Mit dem Schulbeginn an der neuen Schule stellte sich für uns auch sehr schnell ein neues Familienleben ein. War bis dahin üblich, dass wir die ersten Stunden nach der Schule erst einmal das Kind beruhigen und auffangen mussten, kam nun ein gut gelauntes und fröhliches Kind nach Hause. Ein Kind, das plötzlich erzählte, was es in den Pausen mit anderen gemeinsam erlebt hatte. Ein Kind, das am Nachmittag etwas für die Schule vorbereiten wollte. Ein Kind, von dem uns die LehrerInnen berichteten, was es für eine Bereicherung für die Gemeinschaft wäre. Ein Kind, das völlig normal war und Freunde hatte.

Ebenso anders war, dass wir Eltern hier willkommen waren. Waren wir an den anderen Schulen, die Unbequemen, die immer zu viel wissen wollten und in Frage stellten, war hier unsere Unterstützung willkommen. Hatte ich vorher geschworen, nie wieder Elternvertreter werden zu wollen, wurde ich hier neugierig und wollte den Aufbau der Schule mit gestalten. Hier bekamen wir als erstes die Kontaktdaten der LehrerInnen mit der direkten Aufforderung, bei jeglichen Unstimmigkeiten oder Fragen den Kontakt zu suchen. Was mich nachhaltig an dieser Schule fasziniert, ist die Tatsache, dass hier nicht so getan wird, als ob alles rund läuft. Auch an dieser Schule gibt es Probleme im Miteinander, aber diese Probleme werden besprochen, manchmal hart diskutiert und meist eine Lösung gefunden. Kinder werden nicht fallen gelassen, sondern nach Möglichkeiten gesucht, sie aufzufangen und nach ihrem Vermögen voran zu bringen. Probleme in den Klassen werden im Klassenrat besprochen. In der GEV werden Kompromisse geschlossen und so wird jedem der möchte die Möglichkeit gegeben aktiv am Schulgeschehen teilzuhaben.

Schwierig war für uns am Anfang, dass der direkte schulische Erfolg nicht messbar und mit anderen Schulen vergleichbar ist. Das bedeutet, dass wir als Eltern einen großen Vertrauensvorschub geben mussten. Da uns aber immer wieder versprochen wurde, dass die Kinder nach ihrem individuellem Stand gefördert werden und nicht über einen Kamm geschoren werden können, mussten wir uns dem fügen. Das taten wir allerdings gerne, denn viel wichtiger als jeglicher schulischer Erfolg, war für uns, dass unsere Tochter wieder über ein hohes Maß an Motivation verfügte und Spaß am Lernen gewonnen hatte – das war schon die halbe Miete!

Vor ein paar Wochen wurden wir zum Zeugnisgespräch für das erste Halbjahr der 10. Klasse eingeladen. Meine Tochter lass ihr Notenzeugnis und gab es mir hochzufrieden. Als ich es las, erlebte ich einen der bewegendsten Momente. Dort stand die Prognose, dass sie mit dem nötigen Lerneifer und Willen, die gymnasiale Oberstufe erreichen könne. Nach all den Jahren und zahllosen LehrerInnengesprächen stand dort zum ersten Mal, dass sie es kann – aus eigener Kraft, wenn man ihr den notwendigen Rahmen dafür gibt. Und wie ich gehofft hatte, hat meine Tochter für sich verstanden, dass sie es selber in der Hand hat ihr Ziel, dass sie nie aufgegeben hatte, zu erreichen.

Wir wissen nicht, was in ein paar Wochen sein wird. Wir wissen aber in jedem Fall, dass unser Kind einen erfolgreichen Weg vor sich hat. Wie er aussehen wird, wird sich zeigen. In unseren Augen wird an dieser Schule großartige Arbeit geleistet. Wer sich davon überzeugen möchte, sollte unsere Tochter kennenlernen. Eine selbstbewusste junge Frau, die sich immer selbst treu geblieben ist, immer noch offen ihre Meinung vertritt, immer noch  neugierig, unterwegs und leicht abzulenken ist. Ein weltoffener junger Mensch werden konnte – trotz Institution Schule.

Wir werden wieder feiern – ihren Schulabschluss. Egal, welcher das sein wird … glücklich darüber, dass wir es doch geschafft haben, diesem Kind Selbstvertrauen, Selbstbewusstsein und eine positive Lebenseinstellung zu erhalten!