Wir gehen davon aus, dass wir die Welt verändern können!

20-Jahre_SzS20 Jahre Stadtteilzentrum Steglitz e.V.

Es passiert alles gleichzeitig: Die Tür öffnet sich und eine Frau kommt mit einem Brief in der Hand herein. Im hinteren Raum der Einrichtung sitzt eine Gruppe Senioren und frühstückt gemeinsam. An der nächsten Bushaltestelle steigt eine Gruppe Kinder in den Bus um einen Ausflug zu machen. Als alle im Bus sind steigen noch eine ältere Frau und ein Mann mit ein. Zwei Häuserblocks weiter sammeln sich viele MitbürgerInnen um ihre Solidarität in einer Kundgebung zu zeigen. So unterschiedlich diese Situationen sind, haben sie alle einen gemeinsamen Nenner – alle Situationen passieren im Rahmen der Nachbarschaftsarbeit. Nachbarschafts- und generationsübergreifende Arbeit, Stadtteilarbeit, sozial-kulturelle Arbeit sind aus dem Stadtbild der Bezirke nicht mehr wegzudenken. In Steglitz-Zehlendorf wird der nachbarschaftliche Gedanke unter anderem durch das Stadtteilzentrum Steglitz e.V. getragen, das im November 2015 seinen 20. Geburtstag feiert.

Mehr als 50 Nachbarschaftsvereine und Stadtteilzentren sind in den Berliner Bezirken aktiv. Das ganze Stadtgebiet wird von freien Trägern abgedeckt, die den Mittelpunkt ihrer Arbeit auf die individuelle Betrachtung des einzelnen Menschen und ihrer nachbarschaftlichen Vernetzung und gegenseitiger Hilfsangebote setzen. Begonnen hat diese Entwicklung Ende des 19. Jahrhunderts in England, wo 1884 die Toynbee-Hall in London als eines der ersten Nachbarschaftshäuser gegründet wurde, das heute noch aktiv ist. Der Grundgedanke dieser Gründung war Bildungs- und Begegnungsangebote sowie gegenseitige Hilfemöglichkeiten in die Bevölkerung zu tragen. Nachbarschaftliche Arbeit sollte der Überwindung von Klassenunterschieden dienen und fürsorgliche Aufgaben übernehmen – dort wo der Staat nicht mehr hinkommt. In der weiteren geschichtlichen Entwicklung sind diese freien Träger und Nachbarschaftsheime starke sozialen Träger der Gesellschaft geworden. Dort, wo Behörden die Hände gebunden sind, schaffen Nachbarschaftsvereine die Nähe zum Menschen und können weit unkonventioneller und mit mehr menschlicher Nähe arbeiten.

Die Arbeitsbereiche der Träger und Vereine sind vielfältig: Kindertagesstätten, Kinder- und Jugendliche, Familien, Senioren, pflegerische Tätigkeiten, Beratungen in akuten oder präventiven Angelegenheiten, Betreuungen, schulische Unterstützungen und auch Freizeit und Kultur sowie Stadtteilarbeit steht in den Arbeitsbeschreibungen. Die Arbeit wird von Fachkräften geleistet, die nicht selten besondere Ausbildungen und Zusatzqualifikationen mit sich bringen. Zudem zeichnen sie sich dadurch aus, dass sie persönliche Interessen, wie beispielsweise musikalisch und künstlerische Talente und Fähigkeiten, in ihre Arbeit mit einbringen. Nicht zu unterschätzen ist die starke Verwurzelung und Vernetzung der Träger und Vereine in ihren Stadtteilen und Bezirken, die schnelles und bedarfsorientiertes Handeln möglich machen. Ein Aspekt, der nicht zuletzt auf Senatsebene bei der Bewältigung der Flüchtlingsarbeit erkannt wurde.

Die Arbeitsweise der sozialen Arbeit stellt sich vornehmlich aus drei Grundsäulen zusammen: Die Einzelfallhilfe, die Gruppenarbeit und letztlich die Gemeinwesenarbeit. Alle drei Bereiche greifen unmittelbar ineinander und bilden eine Einheit, die alle Bevölkerungs-Schichten und -Gruppen erreicht. In der Einzelfallhilfe kommen wir zu der Frau, die mit einem Brief in der Hand in die Einrichtung kommt. Sie hat einen Antrag für Kinderbetreuung vom Amt bekommen und versteht alleine nicht, was sie ausfüllen muss. In der Einrichtung findet sie AnsprechpartnerInnen für ihr Anliegen. Entweder wird ihr Hilfe geboten, den Antrag zu verstehen und selber auszufüllen oder sie bekommt die Adresse einer Stelle, die ihr fachkompetent weiterhelfen kann. Die ältere Frau, die mit dem Mann in den Bus steigt, ist eine geschulte ehrenamtliche Helferin, die den Mann begleitet um sich erstmalig bei der Meldestelle vorzustellen. In beiden Fällen wird individuell geschaut, was das Anliegen ist, ob es alleine bewältigt werden kann und schließlich, wie es gelöst wird. Ungeachtet des sozialpädagogischen Ansatzes passiert dies in persönlicher und menschlicher Ansprache, die dem jeweiligen Bedürfnis des Hilfesuchenden gerecht wird. Sein persönliches Anliegen wird mit den Hilfsquellen der Gemeinschaft verbunden und so das Umfeld des Einzelnen gestärkt und verbessert.

Gruppenarbeit geht in allen Altersgruppen vonstatten, auch wenn es manchmal vordergründig nicht wie Gruppen-Arbeit aussieht. Die Senioren, die gemeinsam in der Einrichtung frühstücken, erleben einen lebendigen und geselligen Vormittag. Ziel ist es der Vereinsamung älterer Menschen entgegenzuwirken, sie miteinander bekannt zu machen und Kontakte herzustellen, die über dieses Frühstück hinaus Aktivitäten entstehen lassen. Die Kinder, die gemeinsam in den Bus steigen erleben vielfältige Ansätze der pädagogischen Arbeit. Sie lernen Gemeinschaft, das Kennenlernen der Stadt über ihr Umfeld hinaus, lernen sich mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu bewegen und vieles mehr. Gruppenangebote sind für allen Altersklassen, für alle Interessensgebiete und für alle persönlichen Belange zu finden. Eine Gruppe dient immer der Bildung, der Reife und dem Wachstum, der Heilung oder Eingliederung eines Einzelnen in eine Gemeinschaft. Soziale Kompetenzen der Einzelnen werden in einer Gruppe durch vorher festgelegte Inhalte oder Ziele gestärkt.

Die Gemeinwesenarbeit dient im Allgemeinen der Verbesserung des unmittelbaren Wohnumfeldes. Das Stadtteilzentrum Steglitz e.V. hat beispielsweise dem Leitbild des Vereins einen prägenden Satz vorangestellt: „Wir gehen davon aus, dass wir die Welt verändern können!“ und proklamiert weiter: „Wir sind bereit Verantwortung für Aufgaben und Prozesse im Bezirk zu übernehmen. Zu wichtigen Themen melden wir uns zu Wort und mischen uns ein.“ Die Mitbürger, die sich zu einer Kundgebung versammeln, um Solidarität gegenüber Geflüchteten zu zeigen, folgten einem Aufruf des Trägers zur Gegendemo. Dabei geht es nicht darum, politische Ziele oder Richtungen zu verfolgen, sondern schlicht, die Haltung der Bevölkerung für individuelle Schicksale zu sensibilisieren und eine klare und offene Haltung gegenüber fremden Menschen zu zeigen. Vertreter sozialer Träger und Vereine sitzen in den Gremien des Bezirks, in Arbeitsgruppen und Fach-Foren. Sie beobachten gesellschaftliche Entwicklungen und melden sich zu Wort. Beispielsweise werden viele Runde Tische von sozialen Trägern gefördert, die wiederum mittels Präventionsbeirat Gehör bei Bezirksstadträten und Bürgermeister finden. Gemeinschaftliches Leben wird mit gestaltet, verändert und zum besseren für den einzelnen Bürger verändert.

Ausnahmslos jeder ist von der Arbeit der sozialen Träger und Vereine betroffen. Ob man seine Kinder in die Kita bringt, die Älteren in die Ergänzende Förderung und Betreuung in der Schule, die Jugendlichen nachmittags ein Kinder- und Jugendhaus besuchen, Erwachsene sich zu Gruppen oder einer Tasse Kaffee im Nachbarschaftshaus treffen oder Senioren gemeinsame Ausflüge machen – es betrifft jeden. Ehrenamtliche HelferInnen werden in allen Bereichen der Arbeit eingebunden und entsprechend ihres Vermögens eingesetzt. Bezirklich Entwicklungen werden durch diese Arbeit mit gestaltet und verändert. Damit sind noch nicht die vielen besonderen Aufgaben angesprochen, wie zum Beispiel „Frühe Hilfen“ oder SRL-Projekte, um nur zwei zu nennen. Im Mittelpunkt steht immer und besonders der einzelne Mensch – derjenige, der schon immer hier wohnte oder derjenige, der aus fremden Ländern hier integriert werden muss. Das Stadtteilzentrum Steglitz e.V. tut dies nun seit 20 Jahren in Steglitz-Zehlenndorf – mit viel Engagement, großartigen MitarbeiterInnen und vielen Menschen, die den Verein auf seinem Weg begleiten. Wir wünschen „Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag!“ – mit allen, die den Verein begleiten, mit ihm vernetzt sind, kooperieren, manchmal auch kritisch betrachten oder ganz einfach von ihm profitieren!

Ein Haus mit neuen Nachbarn

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Ende März 2013 ging ein Ruck durch die Nachbarschaft in der Klingsorstraße in Lichterfelde. In das lange leerstehende Eckhaus Klingsorstraße/Ecke Marschnerstraße zog von heute auf morgen Leben ein. Die Firma Gierso Boardinghaus Berlin hatte einen Vertrag für das Gebäude bekommen und richtete es als Wohnheim für Flüchtlinge ein. Die Nachbarschaft war unvorbereitet. Natürlich hatte man allerhand Nachrichten zum Flüchtlingsthema verfolgt, aber so nah am eigenen Heim, lies es doch anfängliche Skepsis entstehen, zumal Nachrichten aus Marzahn/Hellersdorf derzeit in aller Munde waren. Das ist fast zwei Jahre her und es hat sich gezeigt, dass sich nichts verändert hat, außer dass man hin und wieder neue Nachbarn auf dem Bürgersteig begrüßt und trifft.

Was anfänglich als Notunterkunft gedacht war hat sich mit der Zeit als Gemeinschaftsunterkunft entwickelt. 109 Menschen können hier wohnen und finden in Ein- bis Fünfbett-Zimmern Aufnahme. Wie lange sie bleiben hängt vom jeweiligen Stand ihres Asylantrages ab. Bis zur endgültigen Klärung haben sie die Möglichkeit sich im eigenen Rhythmus an das neue Land zu gewöhnen und Fuß zu fassen. In den ersten drei Monaten werden sie voll verpflegt, danach sind sie sogenannte Selbstversorger. Das bedeutet, dass Lebensmittel einkaufen und Essen kochen wieder zu ihrer täglichen Routine gehört. Finanzielle Unterstützung bekommen sie vom Landesamt für Gesundheit und Soziales (LaGeSo), was durch das Asylbewerberleistuungsgesetz (AsylbLG) geregelt ist.

Spannend wird das Zusammenleben unter dem Aspekt, dass zurzeit Menschen aus 14 unterschiedliche Nationen unter einem Dach leben. Einzelpersonen oder Familien mit vielen Kindern. Unterschiedlicher könnte die Zusammensetzung und der kulturelle Hintergrund einer Hausgemeinschaft nicht sein. So ist es nur natürlich, dass eine Hausordnung gemeinschaftliche Aspekte regelt, wie zum Beispiel die Ruhezeiten und vieles mehr. Diese Hausordnung wird von dem LaGeSo vorgegeben und steht in allen denkbaren Landessprachen zur Verfügung. Das alles gut geregelt abläuft und die Bewohner die notwendige Unterstützung finden derer sie bedürfen, wird von den Angestellten gewährleistet. So stehen die Heimleitung, die Sachbearbeiterin, die Sozialarbeiterin, eine Kinderbetreuerin und der Sicherheitsdienst neben vielen ehrenamtlichen Kräften zur Verfügung. Zudem ist das Haus in ein Netzwerk von vielen Helfern, Vereinen oder Organisationen eingebunden, wie beispielsweise den Stadtteilmüttern.

Saed Kawash obliegt die Heimleitung in der Klingsorstraße. Der aus Jordanien stammende Palästinenser kam selber vor 13 Jahren als Student nach Deutschland um Islamwissenschaft zu studieren. Er arbeitete als Fachberater für den Nahen Osten in Mainz und kam vor einem Jahr nach Berlin. Mittels diesem Hintergrund kann er sich mit den Bewohnern in mehreren Sprachen verständigen. Er erzählt, dass gerade die arabische Sprache ihm ermöglicht einen guten Zugang zu manchen Bewohnern zu finden. Sie vertrauen ihn als einer der ihren, öffnen sich und erzählen ihre Erlebnisse, die nicht selten eine große Betroffenheit auslösen. Saed Kawash sagt aber auch, dass er lernen musste damit umzugehen, da die objektive Betrachtung von Situationen in seinem Beruf hoher Priorität bedarf.

Die Frage nach dem besonderen Reiz seiner Arbeit, beantwortet er mit der Unterschiedlichkeit der Herausforderungen und der Bedürfnisse jeden einzelnen Bewohners. Individuell muss geprüft werden, wie man helfen kann und welche spezielle Unterstützung notwendig ist. Hilfe bei Anträgen, Unterstützung bei Arztbesuchen, das Anfordern der passenden Dolmetscher, die richtige Schule für Kinder, der passende Deutschkurs, Begleitung zu Ämtern – vielfältig sind die Bedürfnisse, die im Sinne der Bewohner geregelt werden müssen. Liegt eine Aufenthaltsgenehmigung vor, fängt die Suche nach einer Arbeitsstelle an. Möchten Besucher Verwandte in einem anderen Bundesland besuchen, müssen Genehmigungen eingeholt werden. Jeder Fall ist anders, sagt Saed Kawash und mit jedem Fall lernt er neue Aspekte der Flüchtlingshilfe dazu.

Saed Kawash ist der erste Ansprechpartner und Informationsquelle für alle beteiligten Behörden, Schulen und Vereine. Alles, was im Interesse der Bewohner geregelt werden muss, wird geprüft, mit ihm abgesprochen und im Sinne guter Flüchtlingshilfe geregelt. Dabei greift er auf die Erfahrung und verschiedenen Kompetenzen seines Teams zurück, was gemeinsam den Erfolg des Hauses in Form von Akzeptanz ausmacht. Integration und Toleranz spielt bei jedem Kontakt eine große Rolle, das insbesondere in der offenen Art der Kommunikation. Von Beginn an galt die Einladung Hemmschwellen zu überwinden, das Haus mit seinen BewohnerInnen kennenzulernen und so erst gar keine Skepsis vor Fremden aufkommen zu lassen. Natürlich kann man nicht einfach so hereinspazieren. Die Menschen, die im Einwohnerheim leben haben zum Teil sehr schwere Wege hinter sich. Es ist viel Geduld und Verständnis erforderlich und ein sensibler Weg zu bewältigen, das Vertrauen dieser Menschen zu gewinnen. Wer helfen möchte, ist bei Saed Kawash an der richtigen Stelle. In einem Gespräch wird besprochen, wie zum Beispiel ein Ehrenamt aussehen könnte, ob Vorstellungen und Bedürfnisse zusammen passen. Das dies gut funktionieren kann zeigt sich in den vielen Aktivitäten, die im Haus angeboten werden. Freizeitangebote, Deutschkurse, Beratungen, Bastelkurse, Polizeiangebote für die Kinder, Kinderbuchlesungen oder die Spendenausgabe … die Palette ist vielseitig.

Bereitschaft zur Toleranz ist in der Klingsorstraße gegeben. Das Einwohnerheim hat sich in die Nachbarschaft eingefügt und stellt keine Besonderheit mehr dar. Im Gegenteil achtet man auch hier darauf, dass sich die neuen Bewohner im Kiez beteiligen. So sieht man sie bei Veranstaltungen des Runden Tisches im nahen Gutshaus Lichterfelde, sie sind Teilnehmer des Kiezfestes auf dem Ludwig-Beck-Platz oder kommen zu Veranstaltungen des Willkommensbündnisses im Rathaus Zehlendorf. Natürlich gibt es, wie in jeder normalen Nachbarschaft auch, hin und wieder das ein oder andere Problem. Aber, hier hat man verstanden, dass nur im Gespräch und Miteinander einvernehmlich für alle Ein- und Anwohner eine gute Lebensqualität gefunden werden kann.

Stadtteilzeitung Steglitz-ZehlendorfNr. 184 • Februar 2015