Die letzte Mohnstolle …

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Ich sah aus dem Augenwinkel, dass eine E-Mail von der Mutter ankam, worüber ich mich immer freue. Als ich sie las, war ich gar nicht mehr so freudig. Ich wusste nicht, wie ich sie einschätzen sollte. Es war die Ankündigung an meine Geschwister und mich, dass unsere Weihnachtspäckchen unterwegs seien. Das bedeutet in der Regel, bald gibt’s Mohnstollen, den sie jedes Jahr für uns backt – so lecker! Also eigentlich etwas, was Freude bei mir auslösen sollte. Aber in der Mail stand auch der Satz: „Genießt den Kuchen, denn ab jetzt könnt Ihr nur noch das Rezept von mir bekommen.“ Schon schlugen die Gefühle Purzelbaum – richtig auf’s Päckchen freuen wollte ich mich nicht mehr. Natürlich antwortet ich fröhlich, dass sie mir sicherheitshalber das Rezept schicken solle, falls ich sie im nächsten Jahr nicht mehr überreden könne, wieder eine Stolle zu backen.

Was mich so „unfreudig“ gestimmt hatte war die Tatsache, dass sich meine Mutter bester Gesundheit erfreut. Sie ist aber auch ein sehr klar denkender Mensch, der Tatsachen anspricht und ehrlich damit umgeht. Also auch, dass sie älter wird und manche Dinge ihr nicht mehr von der Hand gehen wie früher. So auch das Backen der Stollen für fünf „Kinder“ zu Weihnachten. Unterschwellig war aber auch eine andere Botschaft damit verbunden, die sich für mich durch dieses ganze Jahr zieht. Ich muss bereit sein mich von Menschen zu verabschieden. Akzeptieren, dass Menschen sich auf die letzte Lebensphase vorbereiten. Damit verbunden auch annehmen, dass dieses Thema für mich persönlich näher kommt. Ein sehr unbequemes Thema, wenn man eigentlich Mitten im Leben steht.

Im Juni haben wir die Schwiegermutter auf andere Weise verloren. Sie ist in die Demenz gefallen, das hatte ich in diesem Beitrag schon einmal beschrieben. Die ersten Wochen und Monate waren sehr schwer und wir mussten lernen damit umzugehen. Demenz muss man erleben, sonst kann man sich schwer vorstellen, wie sich die betroffenen Menschen verändern. Dabei haben wir es noch relativ gut getroffen, da sie zweihundert Meter weiter im Seniorenheim sehr gut untergebracht ist. Es fällt uns dennoch immer schwer sie zu besuchen. Ein Teil in uns möchte, dass es wieder so wie früher wird und der andere Teil beobachtet sehr realistisch, dass sich diese einst starke Frau immer weiter von uns entfernt. Sie wird kleiner, transparenter, leiser, zärtlicher, dankbarer … weniger!

Ich habe ihr eine kleine Nikolaustüte gepackt. Ein Schokoladen-Nikolaus, ein Schoko-Glückskäfer (den sie uns immer schenkte) und dann noch jeweils eine Klappdose mit Bonbons und eine mit kandiertem Ingwer. Ich war gespannt und diesmal fiel es mir nicht so schwer sie zu besuchen, hoffte ich doch, dass sie diese Dinge erkennt und sich freut. Normale Tüten zu öffnen und schließen geht mit ihren Fingern nicht mehr. Ich zeigte ihr, wie sie die erste Dose auf bekommt. Auf die Frage, ob sie weiß, was es ist, meinte sie: „Na diese Bonbons, diese Ca… , diese mit Lakritz.“ und ich sagte „Ja, Cachou-Bonbons!“ Sie nahm ganz schnell die zweite Dose in die Hand, die sie selber öffnete. „Ach, Ingwer!“ und schon war der erste in ihrem Mund. Ihr Lächeln war mehr als 1000 Goldstücke wert. Nach einem schönen Spaziergang mit ihr, ging ich einigermaßen zufrieden nach Hause. Nur einigermaßen zufrieden, weil sie mir im Gespräch wieder gesagt hatte, dass sie manchmal nicht mehr aufwachen möchte. Das tut weh. Zufrieden, weil ich gesehen habe, dass sie sich über Kleinigkeiten freut und ich aktiv etwas tun kann. Cachou-Bonbons und Ingwer, die sie immer liebte, sind offensichtlich noch in ihrer Erinnerung wach. Wer weiß, wie lange noch.

Abschied hat immer etwas Schweres in sich, ob plötzlich oder langsam, spielt keine große Rolle dabei. Man kann etwas nicht wieder zurückholen, es ist endgültig und die Angst, was diese Veränderung mit sich bringt und die verbundene Ungewissheit doch groß. Ein Kollege hat kürzlich seine Mutter verloren. Sie war friedlich eingeschlafen, was sicherlich tröstlich war, aber damit ist für ihn die ganze Elterngeneration weggebrochen. Er hat am Tag der Beerdigung einen sehr schönen, ergreifenden Nachruf an seine Eltern veröffentlicht. Ich habe ihn sehr bewundert dafür, weil er offen über seine Trauer sprach, dennoch seine Dankbarkeit zu Ausdruck brachte und seine Verbundenheit und Liebe zeigen konnte. So hat er seinen Söhnen vermittelt, was er selber an Erziehung erfahren hat, was er an Erziehung den Söhnen weitergeben wollte und die Söhne dies in ihre Kinder weitergeben können. Trotz aller Trauer hat er einen Weg aufgezeigt, wie seine Eltern weiterleben in der Erinnerung und der Erziehung der Kinder in dieser Familie.

Es geht immer weiter – anders halt, aber es geht! Manchmal schwer, manchmal leichter … mir ist bewusst, dass ich die Veränderungen nicht aufhalten kann. Will ich auch nicht, genauso wenig wie ständig daran denken. Oder durch so eine Mail mit einer Mohnstolle daran erinnert werden. Lieber konzentriere ich mich auf das Jetzt. Überlege, wie ich die Zeit, die ich z.B. mit der Schwiegermutter noch habe, nutzen kann. Wie ich mich auf Veränderungen vorbereiten und wappnen kann. Genauso wie ich bereit sein muss, mich von Menschen zu verabschieden, muss ich bereit sein, Menschen in meinem Leben zu begrüßen. Was steht mir noch mit meinen Kindern bevor? Ich bin so dankbar, dass ich sie um mich habe, sind sie doch ein entscheidender Motor für mein Leben. Ich freue mich auf neues Leben, denn sicherlich werde ich in vielen Jahren auch einmal Oma sein. Erst einmal werde ich Tante – im nächsten Mai bekomme ich eine Nichte oder einen Neffen. Mein jüngster Bruder wird das erste Mal Vater und die Familie wächst weiter. Ein absoluter Grund für Optimismus – so eine große Freude für uns alle.

In diesem Jahr genieße ich die letzte, von der Mutter gebackene, Mohnstolle, denn das Päckchen ist angekommen. Im nächsten Jahr … backe ich sicherheitshalber schon mal selber … oder schaffe es doch noch, sie wieder zu überreden! 🙂 Denn es gibt einfach Gerichte und Gebackenes, die bei aller Mühe nicht so schmecken wollen, wie es zuhause einmal war!

 

 

 

22 Kommentare zu “Die letzte Mohnstolle …

  1. w8screens sagt:

    Ein schönes Wochenende und einen geruhsamen 4.Advent wünsch ich… 😉

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  2. minibares sagt:

    Eine wehmütige, ja fast verzweifelte Geschichte.
    Dass unsere Eltern erheblich älter sind, sollte klar sein. Wenn deine Mutter weiter weg wohnt, bekommst du also auch ihren Alltag nicht so richtig mit. Wer weiß, wie es ihr wirklich geht.
    Sehr gut, dass es so persönlich niedergeschrieben hast. Allein das kann schon helfen.
    Meine Mutter litt auch an Demenz. Wir besuchten sie im Krankenhaus. Unsere Tochter hatte einen blauen Pullover an mit weißem Rand. Da meinte sie, das Hemd guckt raus.
    Unsere Tochter gab ich den Montschi in die Hände, sie ließ ihn nicht mehr los. Aber unsere Kleine wollte ihren Montschi nicht abgeben. Im Auto hatten wir noch einen Steiff-Elefanten. Den holte mein Mann, den gaben wir ihr, so gab sie auch den Montschi wieder ab.
    Nach ihrem Tod ließen wir den schönen weichen Elefanten da. Denn wir wissen dadurch, dass sie gern was in den Händen haben, was weiches.
    Ganz liebe Grüße Bärbel

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    • Liebe Bärbel, deine Worte haben mich sehr berührt und nachdenklich gemacht. Das passt so gut zu unserem Bild. Die Idee mit dem Elefanten hat mir so gut gefallen. Wir haben einen Retriever, den meine Schwiegermutter sehr liebt. Auf ihrem Rollator klebt ein Bild von unserem Hund, damit sie den Rollator nicht bei den vielen anderen im Altersheim verwechselt. Das klappt sehr gut. Jetzt habe ich, durch dich inspiriert, eines Stofftier gefunden, das wie ein Retriever aussieht. Den werden wir ihn zu Weihnachten schenken. Ich bin sehr gespannt auf ihre Reaktion. Lieben Dank für diese Anregung! Herzliche Grüße von Anna

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  3. Sehr berührend, was du da schreibst. Als junger Mensch kann man sich ja kaum vorstellen, einmal vom Leben satt zu sein. Aber eigentlich ist es doch tröstlich und gut, wenn es in hohem Alter so kommt. Bereit zu sein für den nächsten Schritt und nicht damit zu hadern zeigt doch, dass man mit sich im Einklang ist, oder empfinde ich da etwas Falsches?

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    • Ich gebe dir vollkommen recht. Ich komme auch besser damit klar, als wenn jemand immer jammert. Aber so ganz von dem Gedanken, dass die Mutter da ist, mag ich dennoch noch nicht lassen. Es fällt schwer. Und trotzdem hilft es mir auch, es für mich selber anzunehmen, dass auch ich eine begrenzte Zeit habe … jünger wollte ich ja auch nicht mehr sein.

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  4. Vera Komnig sagt:

    Danke fürs Erzählen.

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  5. Maren Wulf sagt:

    So nah… danke.

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  6. wederwill sagt:

    Danke für diese ziemlich wehmütige, aber doch sehr tröstlich stimmende Geschichte – für den Abschied wappnen, aber auch zu einer Begrüßung bereit sein im Leben. Und ich bin ganz sicher: der eigene Mohnstollen wird von Jahr zur Jahr immer besser gelingen und zum Schluss eine ganz eigene wunderbare Note haben!
    Herzlichst,
    Marlis

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    • Liebe Marlis – ich hoffe es – eine ganz eigene gute Note hört sich schön an … hab oben schon geschrieben, dass ich es in diesem Jahr schon versuchen werde. Ich kann ja auch ruhig schon mal anfangen mich auf „Tante“ oder „Oma“ vorzubereiten und die müssen ja so gute Sachen können, oder? 😉

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  7. sweetkoffie sagt:

    Bei uns ist das auch so. Meine Mutter ist eine leidenschaftliche Plätzchenbäckerin. Nun hat sie uns verkündet, dass sie es nicht mehr schafft. Mit 80 Jahren verständlich.
    Dieses Jahr haben meine Töchter mit ihren Kindern das Backen angefangen. Der Staffelstab ist quasi weitergeheben …

    Schönen Restadventssonntag
    Sk

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    • Ich habe jetzt sogar beschlossen, dass ich noch vor Weihnachten selber versuche diese Stolle zu backen. Meine Tochter hat diese beschriebene Stolle zur Hälfte alleine aufgegessen! Nachschub kommt nicht – also muss ich mich mit dem Ofen auseinandersetzten. Vielleicht gibt’s bald die Geschichte von der ersten Mohnstolle! 😉

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  8. Frau Doktor sagt:

    Liegt es an der Jahreszeit, ich weiß es nicht, aber genau diese Gedanken begleiten mich auch gerade. Gestern in der Zeitung die Todesanzeige eines langjährigen Nachbarn der Familie. Voriges Jahr fast zur gleichen Zeit haben wir seine Frau begleitet und jetzt er. Schon als Kinder haben seine Kinder und wir gemeinsam Geburstag gefeiert, jetzt sind schon unsere Kinder erwachsen und werden sicher in das Haus einziehen, ein komisches Gefühl. Großmutters Plätzchenrezepte backen wir jetzt schon nach, ein kleiner Weihnachtswettbewerb zwischen Mutter und den Kindern 😊
    Ja ich denke auch, Nutzen wir das Jetzt und sind auf das Morgen vorbereitet.
    Danke für diese Geschichte.
    Liebe Grüße von Frau Doktor

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    • Ich denke schon, dass es auch mit der Jahreszeit zu tun hat. Und auch unsere Nachbarschaft verändert sich durch das Alter der Bewohner. Vor nicht allzu wenig Jahren waren hier überall die Kleinen zu sehen. Jetzt sind die alle in der Oberstufe oder auf dem Weg in die Ausbildung. Hauptsache ich aber, dass wir mit der Zeit mitgehen können, denke ich. Liebe Grüße!

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  9. magguieme sagt:

    Ein offener, ehrlicher Blick, ein offenes, ehrliches Herz. Mir scheint, nebst einer liebevollen Haltung zum Jetzt ist das die beste „Wappnung“.
    Danke!

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  10. arabella50 sagt:

    Was für eine schöne Geschichte über das Leben und dessen Ende, den Tod.
    Wenn wir ihn nicht immerzu verdrängen ist er etwas leichter zu ertragen.

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