Pfleger Georg


Es gibt Erfahrungen im Leben, die man nicht gerne macht und doch dankbar sein darf, dass man sie machen kann. So ist es mir passiert. Ich merkte, dass ich immer schlechter laufen konnte, auch Probleme mit dem Rücken waren zur Gewohnheit geworden. Frau wird halt älter. Würde mich ein Auto anfahren wollen, realisierte ich irgendwann auf einer Kreuzung, könnte ich nicht mal mehr weglaufen. So ging ich in ärztliche Behandlung und die Diagnose war alles andere als schön. Ein quer stehender Wirbel drückte die Nervenbahn im Rücken ab, weshalb die Beine nicht mehr wollten. Spinalkanalstenose nennt sich das im Fachjargon und die einzig erfolgversprechende Abhilfe bedeutet eine Operation an der Wirbelsäule. 

Auf jede Operation verzichte ich gerne. Diese Erfahrung brauche ich nicht, aber es gab keine Alternative. Die Nervenbahn hätte irgendwann versagt und damit die Beine. Ich war doch dankbar, etwas zu haben, was man beheben kann, wenn auch der Weg dahin mehr als unbequem erschien. Der OP-Termin war schnell gefunden, und bis dahin musste meine Umgebung viel Verständnis aufbringen, weil ich nichts anderes mehr im Sinn hatte. Google hat nicht gestreikt, wenn ich allerlei zusammenhängende Stichwörter recherchierte. Es half nichts – da musste ich durch. Gut vorbereitet und tapfer ging ich am Vortag ins Krankenhaus, erledigte alle erforderlichen Vorgespräche und Untersuchungen, lernte meine Bettnachbarin kennen, die die gleiche OP an diesem Tag hinter sich gebracht hatte und verbrachte irgendwie die Stunden bis zum frühen Abend … verstohlen beobachtend, wie sich die Nachbarin fühlt.

Gegen 17 Uhr klopfte es kurz an der Tür und ein junger Mann kam herein. „Pfleger Georg,“ stellte er sich vor, mit einem fröhlichen „Grüß Gott!“. Er erklärte uns, dass er der Pfleger für die Spätschicht sei, zuständig für die nächsten Stunden und fragte, wie es uns geht. Meine einzige Frage war, ob er schon sagen könne, um wie viel Uhr ich am nächsten Tag mit der OP an der Reihe sei. Vom Arzt wusste ich, dass zwei bis drei solche Operationen am Tag in diesem Krankenhaus gemacht werden. Pfleger Georg wollte nachsehen und mir Bescheid geben. Wieder warten im ruhigen Zimmer. Die Nachbarin, Oma Bach, frisch operiert, war nicht sehr gesprächsselig und ich fand heraus, ohne Hörgeräte noch tauber als ich. Später kamen eine Schwester und Pfleger Georg zur abendlichen Runde vorbei. Blutdruck messen, Puls, Tabletten verteilen und noch ein paar Kleinigkeiten. Und die OP-Zeit? 16.39 Uhr, antwortete Pfleger Georg.

Große Freude … 16.39 Uhr … ich sollte einen ganzen Tag wie auf heißen Kohlen warten … na klasse. Trotzdem schlief ich die Nacht recht gut. Oma Bach lang ruhig und leise, wofür ich sehr dankbar war. Am nächsten Morgen kam wieder die gleich Routine – Blutdruck messen, Puls, Tabletten verteilen und noch ein paar Kleinigkeiten mehr. Kurze Zeit später kamen die netten Schwestern, die das Frühstück verteilten. Frühstück für Frau Schmidt? Nein, die muss nüchtern bleiben. Ich mochte nicht glauben, bis nachmittags Hunger schieben zu müssen. Wenigstens eine Tasse Kaffee wollte ich aushandeln, aber auch die bekam ich nicht. Doch nicht so nette Schwestern. Ich saß doch sehr stinkig auf meinem Bett und stellte mich auf einen langen Tag mit Warten ein. Kein 10 Minuten später klopfte es an der Tür. Die nächste Schwester kam herein. Ob ich Frau Schmidt sein? Ja! Gut, es geht los. Etwas verwirrt schrieb ich schnell meiner Familie „Es geht los!“ ins Handy. Sie sollten doch wissen, was mir gerade jetzt passierte, nicht erst um 16,39 Uhr. Nicht, dass mich jemand vermisst. Auf dem Weg in den Anesthesie-Raum des Operationstraktes wurde ich viermal gefragt, wie ich heiße, wann und wo ich geboren bin, was ich arbeite und was operiert wird. Denn Sinn dahinter sollte ich erst später verstehen. Der Nachname Schmidt ist doch recht gefährlich in einem Krankenhaus. Mehr gibt es von der OP nicht zu erzählen – ich war irgendwo, jedenfalls nicht bei Bewusstsein.

Ich kann mich noch bruchstückhaft an den Aufwachraum erinnern. Der nächste klare Moment kam irgendwann im Laufe des Tages, den ich viel mit Schlafen verbrachte. Das Liegen war nicht so ganz gemütlich, aber es war erträglich. Oma Bach fragte von der linken Seite, wie es mir ginge. Nun waren wir beide ans Bett gefesselt und konnten auf bettebene Erfahrungen austauschen – mit Hörgeräten im Ohr. Um 17 Uhr kam wieder das gleiche Klopfen wie am Vortag und Pfleger Georg kündigte fröhlich seine Schicht an. So ging es nach der OP in die Krankenhaus-Routine über. Nach immer gleichem Muster Morgen-Untersuchung, Frühstück, Arztbesuch, Mittagessen, Kaffeetrinken, Abenduntersuchung, Abendessen, Nachtruhe. Über die Tage ging es Oma Bach und mir immer besser. Wir mussten das Bett verlassen, lernten, wie man sich mit so einem malträtierten Wirbel bewegt und versuchten das beste daraus zu machen. Dabei stellten wir fest, dass wir uns sehr gut verstanden. Oma Bach war eine sehr optimistische, nette Frau, ruhig, angenehm, sehr kultiviert und gut belesen. Wir mochten uns.

Knapp 14 Tage später kam der Abschied. Oma Bach wurde in die Reha in ein anderes Krankenhaus verlegt. Ich selber durfte nicht nach Hause, weil die Blutwerte nicht in Ordnung waren. Irgendwie war mir die ganze Zeit klar, dass ich so eine nette Nachbarin nicht mehr bekommen würde. Nach ein paar Tränchen meines Schicksals und der blöden Blutwerte wegen, stellte ich mich auf ein weiteres Wochenende im Krankenhaus ein. Oma Bach verabschiedete sich. Keine Stunde später hatte ich eine neue Nachbarin.

Schon allein dem neuen Bett sah man an, dass da ein schwierigerer Patient das Zimmer bezogen hatte. Viele Ständer und Schläuche säumten das Bett. Viele Ärzte, Schwestern und Pfleger kümmerten sich. Schnell war klar, dass die neue Bettnachbarin von der Intensivstation kam. Aus den Gesprächen erfuhr ich, dass sie der armen Frau nicht, wie bei mir, einen Wirbel fixiert hatten. Ihr hatten sie gleich mehrere Wirbel mit Schrauben verziert. Sie tat mir unheimlich leid!

Aber – Oma Kippling war wach und das sollte das größte Leid aller Schwestern und Pfleger – und mir – in den nächsten Tagen werden. Kaum eine halbe Stunde im Zimmer, klingelte Oma Kippling und bat, umgebettet zu werden. Sie wollte gerne auf der Seite liegen. Pfleger Georg erklärte ihr geduldig, wie sie das nun gemeinsam bewerkstelligen würden und legte sie routiniert auf die Seite. Alles gut. Er ging wieder, um keine 5 Minuten später wieder im Zimmer zu stehen. Oma Kippling hatte geklingelt und bat, dass ihr die Füße zugedeckt werden. Pfleger Georg ging wieder um nach kürzester Zeit und Klingeln zurückzukehren. Nun wollte sie doch noch etwas trinken und wieder auf den Rücken gelegt werden. Auf der Seite war ihr das nichts. So ging es gefühlt jede viertel Stunde weiter. Pfleger Georg kam und ging. Als es an den abendlichen Rundgang ging, stand Pfleger Georg geduldig am Bett und erklärte Oma Kippling, dass sie in den nächsten 30 Minuten nicht klingeln dürfe. Er müsse den Rundgang machen. Auf der Intensivstation sei eine Pflegekraft für 3 Patienten da, hier auf der Station hätte eine Pflegekraft 15 Patienten. Oma Kippling verstand und versprach Geduld zu haben. Pfleger Georg ging.

Ein paar Minuten Ruhe, dann rumpelte es im Nachbarbett. Irgendetwas fiel vom Nachttisch runter. Oma Kippling gab mir die klare Anweisung zu klingeln. Sie dürfe ja nicht. Ich erklärte ihr, dass die Pflegschaft doch gerade die Abendrunde mache und wir auch bald an der Reihe seien. Ach ja, hatte sie vergessen, aber sie klingelte doch wieder, um dem noch geduldigen Pfleger zu erklären, dass ihr etwas runter gefallen sei. „Nun aber – nicht mehr klingeln,“ verabschiedete er sich.

So ging es gefühlt den ganzen Freitag, Samstag und Sonntag weiter, wobei Oma Kippling auch die Nächte gut füllen und die Belegschaft in Bewegung halten konnte. Als ich einmal etwas genervt im Flur sitzend Ruhe suchte, leuchtete die rote Lampe unseres Zimmers besonders oft. Nach ein paar Mal, setzte sich die gescheuchte Schwester auf den Stuhl neben mich und klagte ihr Leid. Kein Wort über die Oma, doch allgemein, dass es hier manchmal nicht zu schaffen ist. Es brauchte nicht viel Einfühlungsvermögen, das zu erkennen. Mehr als alles andere sehnte ich den Montag herbei. Ich war geneigt, mich selbst zu entlassen, was dann zum Glück nicht notwendig war. Die Blutwerte waren gut und die Tochter konnte mich nach Hause holen. Wie es mit Oma Kippling weiter ging, kann ich natürlich nicht sagen. Ja, auch nach drei Tagen tat sie mir noch leid, aber es war gut, dass sich die Wege trennten – nett ausgedrückt. Mein Kontingent an Geduld mit der Bettnachbarin war erschöpft.

Unabhängig der Freude nach Hause zu können, war es mir ein Bedürfnis Pfleger Georg am letzten Abend zu sagen, wie sehr ich seine Arbeit und die der KollegInnen bewundere. Wir kamen auf den Beruf Pfleger zu sprechen und er beklagte etwas, dass Leute im Privaten immer glauben, er würde nur Patienten waschen und Bettpfannen verteilen. Dabei tut er weit mehr.

Pfleger Georg und alle seine KollegInnen und Kollegen gehören zu dem Heer von Menschen, die in so einem Krankenhaus einen enormen Dienst leisten. Pfleger und Schwestern unterstützen die Patienten und pflegebedürftige Menschen. Dabei bewegen sie sich immer innerhalb der Gratwanderung, den Patienten zu unterstützen und ihm doch ein höchstmögliches Maß an Selbstbestimmung und eigenem Handeln zu lassen. Sie stellen die Hygiene und Ernährung während des Krankenaufenthalts sicher. Sie überwachen die Genesung, dokumentieren den Verlauf, organisieren Therapien und medikamentöse Unterstützung. Dabei haben sie immer den Patienten im Blick, der oder die ein höchstmögliches Maß an Freundlichkeit und Wertschätzung erwarten darf und bekommt.

Auch Oma Kippling … zweifelsohne eine sehr intensive und Zeit fordernde Patientin. Auch sie wurde immer wertschätzend und höflich behandelt und gepflegt. Ich habe die Pflegekräfte bewundert … alle!

Mein Wirbel heilt nun still vor sich hin. Ein Korsett (modern Orthese) hilft mir dabei. Ich bewundere jede Frau, die gerne ein Korsett trägt. Es sind viele Erfahrungen, die durch diese Geschichte zusammen kommen. Am prägendsten ist für mich allerdings die Erfahrung mit Pfleger Georg, der immer freundlich, nett und humorvoll war. Für den Beruf muss man viele Fähigkeiten mitbringen und ein hohes Maß an Engagement und Empathie aufbringen, ohne dabei selber zu zerbrechen. Sie müssen Menschen lieben, gleich ob es welche wie Oma Bach oder Oma Kippling sind, deren Namen im Übrigen geändert sind … ein bisschen was von beiden steckt wohl in jedem von uns drin. Oder? 😉

Zentimeter für Zentimeter …

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Versetzten Sie sich in eine Szene in einem Café. An den Tischen sitzen die Gäste bei Kaffee und Kuchen, unterhalten sich und vertreiben angenehm die Zeit. Einzig auffällig ist ein Hund, der brav neben seiner Besitzerin liegt. Hunde dürften eigentlich nicht hier sein. Sonst gibt es keine Besonderheit. Bis Maria und ihre Begleitung beschließen das Café zu verlassen. In dem Moment schauen alle. Sehen einen normal großen Erwachsenen und eine Frau, die von der Größe her ein Kind sein könnte, aber doch eindeutig erwachsen ist. Verwirrung entsteht in den Köpfen der Betrachter – eine Verwirrung, die Maria jeden Tag erlebt.

Maria gehört zu den geschätzten 100 000 Menschen in Deutschland, die kleinwüchsig sind. Für Kleinwüchsigkeit gibt es verschiedene Ursachen, die genetische, hormonelle und auch psychosoziale Gründe haben kann. In Marias Fall heißt es Achondroplasie. Früher galt die Bezeichnung: Chondrodystrophie (chondros = Knorpel, dystroph = fehlernährt). Personen mit einer Achondroplasie leben mit Einschränkung des Längenwachstums vor allem der Arme und Beine. (Quelle: www.kleinwuchs.de).

Ein bedauerndes Gefühl wäre jetzt fehl am Platz, denn wenn man eines in einer Unterhaltung mit ihr erfährt, dann die Tatsache, wie unauffällig ihr Leben ist. Maria ist verheiratet, geht arbeiten, hat Hobbys und einen Führerschein, trifft sich mit Freunden, ist Vorstandsmitglied im Verein Hunde für Handicaps e.V., engagiert sich in einer Bürgerrunde am Runden Tisch … alles Dinge, die auf jeden anderen Erwachsenen ebenso zutreffen könnten. Nur die paar fehlenden Zentimeter, die machen ihr Leben doch zu einer besonderen Herausforderung. Damit hat sie jedoch gelernt zu leben und zu meistern, was ihr auf ihrem Weg begegnet. Ihre Mutter hat im Säuglingsalter noch vor den Ärzten gemerkt, dass etwas anders war bei diesem Kind und mit der Zeit sollte es sich bestätigen. Dennoch hat die gelernte Krankenschwester Maria nicht in Watte gepackt. Trotz der Diagnose der Ärzte und der Einschätzung, dass sie nie laufen können würde, stand sie im Alter von zwei Jahren und lief in ihr Leben hinein.

Eine besondere Hilfe war ihr dabei der enge Familienverbund und die Selbstverständlichkeit mit der ihre Familie mit ihr umging. Die Mutter erwartete, dass sie alles ausprobiert, was auch die Geschwister machten. Selbst Ski fahren habe sie gelernt, was aber durch eine Operation der Ober- und Unterschenkel nicht mehr möglich war. Mit neun Jahren beschloss die Familie eine Knochenverlängerung der Ober- und Unterschenkelschenkel-Knochen bei Maria durchzuführen. Eine sehr zeitaufwändige Methode, bei der die lebenslange Fähigkeit des Knochens zu wachsen zunutze gemacht wird. Diese Kallusdistraktion, wie das Fachwort heißt, hat Maria vier Jahre lang durchlebt. Eine Zeit in der sie oft im Krankenhaus war, vornehmlich liegen musste und natürlich auch keine Schule besuchen konnte. Das Lernen in den Hauptfächern musste am Krankenbett stattfinden. Das hat ihr 17 Zentimeter in der Höhe gebracht. Später gab es Überlegungen, auch mit den Armen eine Knochenverlängerung durchzuführen. Da sie aber in der Beweglichkeit alles machen kann, hat sie sich doch dagegen entschieden. Sie kam auf eine Schule mit dem sonderpädagogischen Förderschwerpunkt „körperliche und motorische Entwicklung“, die sie erfolgreich abschließen konnte. Danach, sagt sie, wollte sie nur noch unter „normalen“ Menschen sein und führte ihre Ausbildung auf dem regulären Arbeitsmarkt durch. Auf die Pubertät angesprochen, schleicht sich ein Grinsen in ihr Gesicht ein – Pubertät ist offensichtlich nicht in Zentimetern zu messen. Sie wollte sich in der Zeit nicht mehr mit der Problematik der Behinderungen auseinandersetzen, hat rebelliert, wie jeder andere Jugendlicher auch, um schließlich doch ins Berufs- und Erwachsenenleben zu finden.

Maria sagt selber, dass sie kein Problem mit der „anderen“ oder der sogenannten „genormten“ Welt hat. Natürlich merkt sie, dass Menschen, die sie nicht kennen, Vorbehalte haben oder scheu sind. In dem Fall versucht sie Brücken zu bauen, ins Gespräch zu kommen und ein Anfangsmoment zu schaffen, der es dem Gegenüber leichter macht. Dennoch ist sie lieber im Hintergrund, aber ergänzt, dass es ja völlig normal sei – manche Menschen mögen die erste Reihe, manche halt nicht. Kontaktsituationen ergeben sich immer, wenn sie Hilfe braucht und davon gibt es viele in einer Welt, die auf Normgrößen ausgerichtet ist. Beim Einkaufen ist der Einkaufswagen zu hoch um ihn zu schieben, der Korb um die Ware abzulegen und an der Kasse wieder herauszunehmen jedoch zu tief. Auf Regale mit Waren, die ganz oben abgelegt sind, braucht man eigentlich nicht hinweisen. Stufen sind genormt und – zu hoch, Wege für die kurzen Beine meist zu lang. Oft sind Fahrstühle kaputt und an den Fahrkartenautomat braucht Maria erst gar nicht zu denken. Auch Konzertbesuchen sind eine Schwierigkeit, denn was nutzt eine Vorstellung, wenn sie in den Sitzen versinkt. Und obwohl sie diese Beispiele aufzählt ist ihr keine Verbitterung anzumerken, denn, sagt sie, wem soll man es denn recht machen.

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In ihrer Welt hat sie sich eingerichtet und versucht so normal als möglich zu leben. Mit der Zeit kennt man sehr gut die Läden in denen einem sofort geholfen wird. Man weiß, welche Situationen man vermeiden sollte, kann eigenes Vermögen sehr gut einschätzen und weiß vor allen Dingen an welchen Plätzen man ein strahlendes Lächeln bekommt. Vom Idealbild der Inklusion ist das dennoch weit entfernt. Barrierefreiheit ist und bleibt ein Wort und Zustand der weiterhin in die Köpfe gelangen und in allen Lebensbereichen umgesetzt werden muss. So ist die Arztwahl beispielsweise für Menschen mit Behinderung nicht frei. Arztpraxen können zum Teil wegen der Stufen nicht erreicht werden oder es fehlen besondere Ausbildungen. Die Wahl der Einkaufsläden richtet sich nach der Erreichbarkeit sowie der Begehbarkeit, da muss auf so manches Angebot verzichtet werden. Viele Lebensbereiche schließen sich von vornherein aus, weil sie für Menschen mit Einschränkungen nicht zu bewältigen sind. Sie mag das Wort Inklusion nicht besonders. Es sollte selbstverständlich sein, dass Menschen mit und ohne Einschränkungen füreinander denken und jeder den anderen stützt. Aber auch hier sagt sie wieder, dass dies eigentlich nichts mit Inklusion zu tun hat, sondern grundsätzlich eine Selbstverständlichkeit sein sollte. Eine kleine Frage, ob man etwas herunter reichen kann. Eine kleine Trittleiter, die immer im Laden zur Verfügung steht oder ein Tritt der im Café das Sitzen erleichtert. Das sind Dinge, die man leicht ändern kann und die Anerkennung vermitteln. Der selbstverständliche Umgang miteinander hilft allen und lässt das Miteinander im wahrsten Sinne des Wortes wachsen.

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Wir sind wieder im Café zurück, denn da war ja noch eine kleine Frage offen. Der Hund an Marias Seite ist ihre treue Begleiterin Ira. Sie ist eine ausgebildete Behinderten-Begleithündin, Wegbegleiterin, Sozialpartner, Haushaltshilfe, „Kontaktbörse“ und vieles mehr. Seit sieben Jahren hilft Ira alle möglichen Haushaltssituationen zu erleichtern. Sie holt Wäsche aus der Waschmaschine, die in der Trommel zu weit hinten liegt, hebt Schlüssel auf, hilft beim Schuhe ausziehen, sie zeigt an, dass das Telefon klingelt und holt es nach Aufforderung. Hilft bei Dingen, die Maria schwer fallen und die sie aufgrund ihrer Kleinwüchsigkeit und einer Schwerhörigkeit nicht gut kann. Besonders freut sich Maria, dass sie durch den Hund immer Kontakt bekommt. Auch wenn sie hin und wieder erklären muss, warum sie Ira an Orte mitnimmt, wo Hunde eigentlich unerwünscht sind. Einen Menschen im Rollstuhl oder mit dem Langstock würde man erst gar nicht fragen, warum er einen Begleithund braucht. Die Selbstverständlichkeit mit der Maria uns im Café über ihr Leben erzählt ist beeindruckend. Und damit wir gleich mit dem richtigen Eindruck und lachend auseinander gehen, erzählt sie auch noch einen Witz: „Was ist ein Liliputaner mit 10 Kindern? – Ein Fruchtzwerg!“ Hätten Sie sich getraut, Maria diesen Witz zu erzählen? Lachen Sie einfach – denn Lachen ist auch nicht genormt, ob mit oder ohne Einschränkung!

Stadtteilzeitung Steglitz-ZehlendorfNr. 185 • März 2015