So schnell geht das!

annaschmidt-berlin.com_18

Wir saßen auf dem kleinen Bootssteg im Garten der Schwiegermutter und genossen den Blick auf den See. Die eineinhalb-jährige Tochter schlief ruhig im Kinderwagen auf der Wiese, während wir uns über Zukunft und Pläne im Allgemeinen unterhielten. In dieser Unterhaltung fassten wir den Entschluss, ein zweites gemeinsames Kind zu bekommen und zehn Monate später wurden wir eine vierköpfige Familie – das zweite Kind war da. Alle Eltern können sich die bewegten Jahre vorstellen, die wir fortan mit Kita, Spielplätzen, Schule, Sportverein, Elternabenden, Ausflügen und vielem anderen verbrachten, die heimischen Entwicklungen mit eingerechnet. Intensiv bemüht bauten wir ein Gesamtkunstwerk auf, das den schlichten Namen „Erziehung“ trug. Je nach Tagesform und Stimmung es als Kunstwerk oder pädagogisches Experiment bezeichneten. Einen gefühlten Augenaufschlag später war das alles vorbei. Das Kind aus früher gefasstem Entschluss ist volljährig geworden und seine Eltern vom Erziehungsauftrag befreit. So schnell geht das!

Ich habe letzte Woche eine Entschuldigung geschrieben: „Lieber Herr Soundso, ich bitte das Fehlen meiner Tochter zu entschuldigen …“ und war mir vollkommen bewusst, dass es die letzte Entschuldigung für meine Kinder war. Ich unterschrieb eine Einwilligung beim Arzt und wusste, dass die nächste ihre eigene Unterschrift trägt. Ab jetzt bekomme ich keine Auskunft mehr über irgendwelche Steuernummern meiner Kinder und muss künftig bei verschiedenen Dingen belegen, dass unsere volljährigen Kinder noch vollständig auf unsere Kosten leben. Schülerausweis und Studienausweis haben nun einen gehobenen Stellenwert bekommen. Für die ein oder andere Erledigung werden wir eine Vollmacht ausstellen müssen. Das sind administrative Dinge, die einem am Anfang zwar befremdlich vorkommen, aber man gewöhnt sich daran. Der jahrelang gelebte Automatismus des elterlichen Kümmerns und Tuns hat ein Ende. Es hat ja eine sehr angenehme Seite, wenn Eltern einmal sagen können: „Nö, das musst du von jetzt an selber machen!“ Bleiben doch noch genügend hausinterne Aufträge übrig, die Eltern sehr wohl, trotz Volljährigkeit, für ihre Kinder weiterhin leisten dürfen.

Etwas schwerer als die administrative Seite ist die emotionale Seite. Hier muss ich zugeben, dass es mir sehr viel schwerer fällt. Eigentlich kenne ich es ja schon – es ist die zweite Tochter, die wir ins Erwachsenen-Leben entlassen. Aber diesmal ist es erstens die Jüngere und zweitens die letzte Tochter, die sich auf eigene Wege macht. Die Mutterrolle in bisheriger Form ist unwiederbringlich vorbei. Emotional werden wir wohl noch eine ganze Weile an dem richtigen Maß von Interesse und Kümmern herumdoktern. Letzte Woche fragte die Tochter mich, ob sie bei einer Freundin schlafen darf. Ich schaute sie an und fragte nur, ob sie mich das nächste Woche auch noch fragt. Vorgestern sagte ich zu ihr um 23 Uhr, dass sie langsam schlafen gehen sollte. Postwendend kam die Anmerkung, dass sie wohl alt genug sei, dies selber einzuschätzen. Wir werden uns also beide je nach Situation und Laune, die Dinge so zurechtlegen, wie wir sie gerade brauchen. Frage ich sie morgens, ob sie ihren Schlüssel dabei hat, bekomme ich eine genervte Antwort. Ruft sie mich mittags im Büro an, weil sie Zuhause nicht rein kommt, da der Schlüssel verschwunden ist, bekommt sie eine genervte Antwort. Für solche Dinge gibt es unzählige Beispiele in denen das „schon groß genug“ oder „noch nicht erwachsen genug“ harte Auslegungssache sein wird. Eltern werden ja mit volljährig – früher oder später … und lernen!

Der eigentliche Erziehungsauftrag ist in Wirklichkeit schon lange vor der Volljährigkeit der Sprösslinge abgeschlossen. Spätestens mit einsetzen der Pubertät werden die jungen Leute erziehung-resistent. Jeder Elternteil erlebt den Moment, in dem er den Nachwuchs beobachtet und in Kleinigkeiten feststellt, dass das eben Gesagte, die Mimik oder Geste von einem selber hätte sein können. Peu à peu wird einem klar, dass die Bagage kopiert – den eigenen Tonfall, der Ausdruck, die Art und Weise das Frühstücksei aufzuschlagen oder einen Brief aufzureißen. Schlimm ist dabei, dass sie natürlich nicht nur unser vorbildliches Verhalten kopieren, sondern eben auch alle unbewussten Unarten und uns so auf unangenehmste Weise vor einen schmerzhaften Spiegel stellen. Allerspätestens das ist der Moment, in dem wir begreifen müssen, dass erziehen von nun an zwecklos ist, sondern Vorleben der eigentliche Erziehungsinhalt sein sollte. Blöd ist nur, dass wir den Erfolg des Vorlebens erst viele Jahre später, wenn denn überhaupt, auskosten dürfen. Also auch nie wirklich sicher sein können, dass wir es richtig machen.

Ganz falsch scheinen wir dennoch nicht gelegen zu haben, denn – der Nachwuchs klebt nach wie vor am heimischen Herd und macht nicht die geringsten Anstalten eigene Wege zu suchen. Ich gehe hier mal optimistisch davon aus, die Ursache dafür nicht nur in der Kostenersparnis und dem stets vollen Kühlschrank zu finden. Der immer erreichbare Fahrdienst fällt wohl auch ins Gewicht. Erkläre ich heute noch großspurig, dass Hotel Mama für uns nicht in Frage kommt, bin ich wahrscheinlich – wenn es dann soweit ist – ein Häufchen Elend, dass dem Ende der Welt nahe zu sein scheint. Ein Haus ohne Kinder ist noch unvorstellbar – oder doch? Nun – bis dahin ist noch viel Zeit – oder ist doch nur ein Augenblick, so wie wir ihn gerade erlebt haben – die letzten 18 Jahre?

Manchmal gibt es sie – Momente in denen mein Gatte und ich beim Spaziergang auf einer Bank sitzen und uns vorstellen, wie das später sein wird. Nur er und ich – allein – mit Hund und Katze, mit von morgens bis abends aufgeräumtem Haus. Mit Kühlschrank, in dem man nie etwas sucht, dass plötzlich verschwunden ist. Mit Scheren, die immer am richtigen Ort liegen oder Toilettenpapier-Rollen, die nie leer sind. Schuhe, die nur an den Füßen oder im Schuhregal zu finden sind. Ladekabel, die außer das eigene Handy keiner gebrauchen kann. Eine langweilige Küche in der nie etwas rumsteht, dass man in den Geschirrspüler stellen kann. Wie gesagt, noch sind dies Momente – kleine Traum-Sequenzen, von denen ich heute noch nicht sicher bin, ob ich mich auf sie freue oder sie fürchte. Die Realität holt uns immer ziemlich schnell wieder ein, wenn mein Handy piept … Nachricht vom Nachwuchs, der fragt, was der Abendbrot-Tisch zu bieten hat. Spaziergang beendet!

Der springende Punkt, ist alles in allem, das Loslassen. Gelassenheit aufbauen und die Kinder ihren Weg gehen lassen, den ich nicht aufhalten werde. Mehr noch den je, sie ihre eigenen Erfahrungen machen lassen. Da sein, wenn sie mich brauchen. Unterstützen, wo sie es möchten, aber stets im Hintergrund bleiben um ihrer Entwicklung nicht im Wege zu stehen. Sie werden ihren Weg machen, dessen Grundlagen wir gestaltet haben und ich muss vertrauen, dass sie ihre Möglichkeiten nutzen. Ihnen zuliebe loslassen und meinen eigenen Plan, im Einklang mit dem Gatten, neu definieren und Begeisterung aufbauen für neues, das jenseits der Kindererziehung liegt. Alte Vorlieben, die viele Jahre im Hintergrund warteten, wiederbeleben. Bewusst, neugierig und frei Dinge erleben, die erstmalig seit etwa 20 Jahren nicht die Kinder im Fokus haben. Schaffe ich das, werden auch meine Kinder entspannt die nächsten Schritte der jungen Erwachsenen durch Ausbildung, Berufsleben, Partnersuchen und später eventueller Familiengründung gehen … und – wiederkommen – immer wenn sie es brauchen.

Spätestens dann werden der Gatte und ich wieder auf einer Bank sitzen, uns liebevoll daran erinnern, wie es war als die beiden kleine Kinder waren. Uns vorstellen, wie es sein wird, wenn die Enkel am Wochenende erneut das Haus erobern, den Kühlschrank plündern, die Scheren verlegen, Toilettenrollen leer zurücklassen, Schuhe verteilen, Ladekabel umstecken, die Küche verwüsten … und uns freuen, dass es ‚nur‘ ein Wochenende ist, an dem wir auch noch jegliche elterliche Erziehung aushebeln dürfen! 🙂

Früher war alles viel besser!

Foto: © S.Kobold - Fotolia.com

Foto: © S.Kobold – Fotolia.com

Es gibt Sätze, die sind so nützlich wie ein Kühlschrank in der Antarktis oder wie ein Solarium in der Sahara. Generationen von Kindern und Jugendlichen regen sich über sie auf oder lassen sie mit stoischer Gelassenheit über sich ergehen, um sie dann Jahre später ihrem eigenen  Nachwuchs zu präsentieren. Nämlich immer dann, wenn man nicht weiter weiß oder eben keine Lust hat mit den Jüngeren zu diskutieren.

„So lange du deine Füße unter meinen Tisch stellst …“, „Muss ich dir alles dreimal sagen.“, „Als ich in deinem Alter war … “ sind solche Sätze. Und trotz aller moderner Erziehungsmethoden, denn wir wollen ja heute unserem Nachwuchs auf Augenhöhe begegnen, muss der ehrliche Erziehungsberechtigte zugeben, dass er diese Sätze so oder in ähnlicher Form schon verwendet hat. Immer dann, wenn der Nachwuchs unbequem wird, einem die eigenen Argumente ausgehen oder man einfach zu müde ist den pfiffigen Kleinen schlagfertig zu begegnen.

Ein anderes Beispiel: Ich gehe mit meinem Hund spazieren. Mein Hund hat heute besonders gute Laune und hüpft auf den nächsten Jogger zu, um zu signalisieren, dass er das Spiel versteht. Der Jogger aber nicht und mein schnell gerufenes „Der tut nichts!“ ist bei einem Hund von 40 cm Schulterhöhe weder beruhigend noch hilfreich oder nützlich. Es ist grottenunnötig und hilft weder dem armen Jogger, noch beruhigt es meinen Hund.

Aber es gibt noch so einen Satz. Der ist alters- und situationsunabhängig und für mich der schlimmste Satz, den man in einem Gespräch äußern kann. „Früher war alles viel besser!“ Bei diesem Satz friert in mir alles ein und ich könnte Ausschlag bekommen. Er tötet sämtliche kommunikativen Zellen in mir und lässt mich in einer Schockstarre verharren, aus der ich mich nur schwer lösen kann. „Früher war alles viel besser“ ist nicht nur grottenunnötig, sondern einfach komplett unwahr!

„Früher war alles viel besser!“ ist für mich das deutlichste Zeichen, dass mein Gegenüber vollkommen frustriert ist. Aber nicht nur das. Es signalisiert ebenso, dass er keine Lust hat mit der aktuellen Zeit mitzugehen, die Zeichen und Entwicklungen der Gegenwart versteht oder Lust hat sich damit auseinanderzusetzen. Früher war nichts besser, es war alles nur anders. Früher hatten wir Krieg – das kann keiner für besser halten. Früher hatten wir Leibeigenschaft – wünscht sich nicht wirklich jemand, oder? Früher hatten wir keine Möglichkeit, zu erfahren, was in der Welt los ist – muss recht langweilig gewesen sein. Früher hatten wir medizinische Methoden, bei denen mir schlecht wird, wenn ich daran denke – auch nicht erstrebenswert. Früher kam auf den Tisch, was der Garten zu bieten hatte – keine Bananen, Kiwis, Paprika, Kartoffeln, exotische Gewürze. Endlos, die Liste der Dinge, die früher nicht besser waren.

Besonders heftig wird mein Ausschlag bei diesem Satz, wenn er in Bezug auf die heutige Jugend geäußert wird. „Die Jugendlichen von früher …“, fängt er dann meistens an. Nein, die waren auch nicht viel besser. Die waren genauso, wie die Jugend von heute – frei, neugierig und von einem immensem Drang besessen, sich von den Älteren abzugrenzen. Heute wie damals. Nur kannten die Jugendlichen in der beginnenden Beatleszeit noch keine Handys, hatten keine Möglichkeit sich über das Internet ihre Musik anzuhören oder im Fernsehen Lieblingsfilme dreimal hintereinander anzusehen. Was hätten die Beatles oder ABBA wohl für „Like“-Zahlen oder YouTube-Klicks zustande gebracht.

„Früher war alles viel besser!“ ist für mich der hilflose Versuch, sich Respekt zu verschaffen, weil man ja eine gewisse Altersweisheit oder einen Erfahrungsvorsprung simuliert. In Wirklichkeit zeigt er mir aber die Unlust meines Gegenübers, sich mit der aktuellen Situation auseinanderzusetzen bzw. eine Zukunftsperspektive aufzubauen. Es stellt die vergebliche Mühe dar, sich in eine vergangene Wunschwelt zu flüchten, die bei näherem Hinsehen gar nicht so erstrebenswert wäre. Denn eins bleibt für immer unbestritten …

„Wir können die Zeit nicht zurückdrehen!“ – Ja … noch so ein Satz. Nein, können wir nicht, aber immerhin zeigt er, wenn auch widerwillig, die Bereitschaft meines Gegenübers sich mit dem Hier und Jetzt auseinander zu setzten. Wenn’s denn sein muss.

Früher habe ich mich über diese leeren Sätze einfach nur geärgert und nicht darüber geschrieben und mir Luft gemacht. Das war auch nicht viel besser. Aber auch ich kann die Zeit nicht zurückdrehen und beobachte weiter, wo mir solche leeren Sätze noch so begegnen. Immer mit einem schmunzelnden Auge, denn manchmal, ja manchmal bin ich auch zu faul, mich ihrer nicht zu bedienen. 🙂