Holen wir sie vom Sockel?

Was in Amerika begann, zieht Kreise durch die ganze Welt. Aktivisten holen Denkmäler von den Sockel, denen eine, nach heutigem Denken, unrühmliche Geschichtsschreibung anhängt. Der bekannteste Fall ist sicherlich in Bristol passiert: Demonstranten gegen Rassismus holten die Statue von Edward Colston, eines Sklavenhändlers aus dem 17. Jahrhundert vom Sockel. Nachdem einige Demonstranten etwa 8 Minuten auf ihm knieten, landete er im Wasser. Ein klares Statement gegen Rassismus, das im Innenministerium keine Gegenliebe, beim Bürgermeister der Stadt aber Verständnis fand. Aber die Debatte ist losgetreten. Auch bei uns.

Losgetreten wurde sie durch den Afroamerikaner George Floyd, der durch einen Polizisten zu Tode kam. Seither wird auch bei uns der Rassismus, der anders als in den USA, überall vertreten ist, diskutiert. Unter dem Hashtag #wasihrnichtseht in Instagram kann man beispielsweise in vielen Posts nachlesen, wie und wo sich Alltagsrassismus zeigt. Es gibt wohl kaum einen, der sich davon freisprechen kann. Aber nicht nur der Rassismus ist in den Fokus geraten. Auch Straßen, Plätze oder Denkmäler sind im Blickfeld, deren Namen in der deutschen Geschichte eine Rolle spielten. Einige davon sind nach heutiger Denkweise und Wissenstand fragwürdig.

Uns hat diese Diskussion erfasst, als meine Mutter von der Petition „Umbenennung der U-Bahn Station Onkel-Toms-Hütte und der Onkel-Tom-Straße“ las. Moses Pölking, ein Basketballspieler, hat die Petition ins Leben gerufen. Er ist der Ansicht, dass der Name „Onkel-Toms-Hütte“ dem Buch der Autorin Harriet Beecher Stowe entnommen ist. Sie beschreibt in ihrem Roman das Schicksal der Schwarzafrikaner in den 40er-Jahren des 19. Jahrhunderts. Pölking ist der Ansicht, dass die Titelfigur sich erniedrigt, um seinem Peiniger nicht aufzufallen. Zudem sei „Onkel Tom“ ein Begriff, der in der farbigen Community jemandem beschreibt, der sich vornehmlich gegen die eigene Hautfarbe den „Weißen“ andient. Er empfindet den Namen Onkel-Tom-Straße ebenso beleidigend, wie Mohrenstraße. Auch die Mohrenstraße hat in Berlin eine U-Bahn-Station, die nach Willen der BVG nun Glinkastraße heißen soll.

In der Facebook-Gruppe Steglitz-Zehlendorf wird ein Beitrag aus dem Tagesspiegel zum Thema geteilt. Als ich das letzte Mal schaute, gab es 621 Kommentare darunter. Natürlich habe ich nicht alle gelesen, aber es wird ähnlich kontrovers diskutiert, wie in meiner Familie. Wie führt man nun diese Debatte richtig und zielführend? Darüber gibt es sehr unterschiedliche Ansichten. Fest steht: Sie ist notwendig, zeitgemäß und richtig. Doch wie erreicht man tatsächlich alle Menschen, sowohl die, die eine Änderung herbei wünschen, als auch jene, denen es relativ egal ist.

Nicht nur der Nationalsozialismus ist in unserer deutschen Geschichte ein schreckliches Kapitel. Auch die deutschen Versuche, in der Kolonialzeit eine Rolle zu spielen, hat viel Leid verursacht und so gibt es unzählige weitere Beispiele, die uns nicht mit Ruhm bedecken. Würden wir nun, nach heutiger Denkweise versuchen, alle negativen geschichtlichen Ereignisse aus dem öffentlichen Straßenbild und Bewusstsein zu löschen, hätten wir nicht nur viel zu tun, sondern keine Geschichte mehr. Auch bei den Philosophen wird es eng. So bezeichnete Emanuel Kant die Juden als ‚Vampyre der Gesellschaft‘ und fordert ‚die ‚Euthanasie des Judentums‘. Und auch der Gründer der evangelischen Religion, Martin Luther, dürfte mit seinen ‚Judenschriften‘ nicht gut wegkommen. Müssen wir nun die philosophischen Grundlagen oder selbst die evangelische Kirche aus unseren Köpfen löschen?

Die Geschichte, aus der sich unsere heutige Gesellschaft entwickelt hat, kann nicht verleugnet werden. Sie ist nun mal passiert. Aber sie kann weitergeschrieben werden, sich weiter entwickeln und verändern, wenn man tatsächlich Ehrlichkeit und Mut dazu aufbringt. Dazu gehört es unbedingt, die Diskussion in die Bevölkerung zu bringen. Die Aktivisten, die die Statuen von den Sockeln holen, sind mutige Menschen, die sich beherzt für eine gute Sache einsetzen. Doch die Wahl der Mittel schreckt den Normalbürger ab. Die Statue im Wasser steht kurz in den Schlagzeilen und regt die Gemüter auf. Tatsächlich eine nachhaltige Sinnesänderung schafft sie nicht.

Ein guter Akt wäre beispielsweise dem Schulfach Geschichte wieder eine tragende Rolle zu geben. Zu sehr wurde es als Nebenfach degradiert und aus der Allgemeinbildung gedrängt. Wie sollen Kinder und Jugendliche heutige politische und zwischenmenschliche Vorgänge der Weltgeschichte verstehen, wenn ihnen der Hintergrund unbekannt ist. Wie kann ich heutige Handlungen nachvollziehen, wenn mir das Wissen fehlt, wie sie entstanden sind. Heutige Handlungen kann man nur aus dem Kontext der Vergangenheit verstehen und sie sinnvoll weiterentwickeln.

Auch die Wahl der Quellen gehört dazu. Kritikpunkt bei der Petition zu „Onkel-Toms-Hütte“ ist beispielsweise, dass die Autorin der Buches erklärte Gegnerin der Rassismus war und auf die Missstände aufmerksam machen wollte. Sie hat mit dem Buch eine veränderte Denkweise angeregt. Es kommt dazu, dass diese Petition deutschlandweit geführt wird. Also ein Bruchteil der Unterzeichner tatsächlich den Ort kennen. Nicht zuletzt gibt es eine andere Quelle der Namensgebung. Die Bezirksgeschichtsschreiber schrieben 1885 dazu: „Die Siedlung Onkel Toms Hütte oder Waldsiedlung Zehlendorf, oft auch als Onkel-Tom-Siedlung oder Papageiensiedlung bezeichnet, liegt im Berliner Ortsteil Zehlendorf am Rande des Grunewaldes. Namensgebend war das 1885 eröffnete benachbarte Ausflugslokal, dessen Besitzer Thomas seine Gaststätte in Anlehnung an Harriet Beecher Stowes Roman Onkel Toms Hütte benannt hatte.“ Der Lokalbesitzer verehrte die Autorin, aber war nun das Buch oder der Thomas namensgebend?

Auch die Mohrenstraße, Mohrengasse, Mohrenapotheke muss sich einen genaueren Blick gefallen lassen. War tatsächlich ein „Mohr“ im heutigen Sinne gemeint oder nicht doch der heilige Mauritius, der seiner Geschichte wegen durchaus auf einem Podest stehen könnte? Es ist also immer fraglich, wie man eine Umbenennung oder eine entfernte Statue begründet, wenn man tatsächlich alle Quellen erwägt. Nur darf man nicht unsere heutigen Werte und Überzeugungen einfach überstülpen. Wichtig ist die tatsächliche Auseinandersetzung, die den Fortschritt für heutige Werte und Überzeugungen bringt. Die Statue im Museum nutzt nur den wenigen, die eine Affinität zu Museumsbesuchen haben. Die Statue auf der Straße mit einer Informationstafel kann mehr Menschen erreichen.

Unsere Geschichte ist nicht wirklich vorbei und wir sind ein Produkt daraus. Heutiges Denken muss sensibilisiert werden und sich weiter entwickeln. Das kann aber nur geschehen, wenn man den Hintergrund und die Gründe dafür versteht. Reiner Aktionismus ist dabei ein schlechter Berater.

In Bristol wurde es doch zu einer guten Entwicklung geführt: Die gestützte Statue wird im Museum mit dem Plakat der Aktionisten „Black lives matter“ ausgestellt. Was letztlich auf den leeren Sockel kommt, wird demokratisch entschieden. Und genau das bedeutet, dass eine weitere Auseinandersetzung damit stattfindet, die viele Menschen erreicht. Die Debatte wird dort seit Jahren geführt. Bei uns fängt sie hoffentlich richtig an.

Immer wieder … zuhören, laut werden, voneinander lernen!

WhatsApp meldet sich: Es ist meine Schwägerin, die mir einen Link zu einem Gastbeitrag im Magazin Bento schickt. Der Beitrag ist von Aminata Touré, der Vizepräsidentin des schleswig-holsteinischen Landtages. Gleich in der Headline sagt sie: „Es fehlt nicht an Schwarzen, die sprechen, sondern an Weißen, die zuhören.“ Ich stimme zu, aber ergänze im Kopf: „… sondern an Weißen, die zuhören und sprechen.“ Meine Schwägerin und Aminata Touré sind dunkelhäutig, also per Geburt mit dem Thema Rassismus verflochten. In meiner Familie sind alle entsetzt, was George Floyd passiert ist und welche Entwicklung daraus entstand. Meine Tochter kauft sich ein T-Shirt mit der Aufschrift: „No place for hate, sexism, racism, homophobia, anti-semitism.“ Meine Mutter positioniert sich in Facebook und Instagram. Meine Schwester äußert sich sehr besorgt. Ich bekomme aber auch andere Stimmungen mit. Schon wieder Rassismus in nicht endender Debatte? Was geht uns Amerika an?

Es geht uns sehr viel an und wenn wir – Weiße – wollten, würden wir Rassismus tagtäglich und mitten unter uns bemerken. Der Tod von George Floyd ist nur der Auslöser einer lange fälligen Debatte und Forderungen nach allgemein gültiger Menschenwürde und Gleichstellung. Alleine die Frage an einen andersfarbigen Menschen, welche Nationalität seine Ursprungsfamilie hat, ist rassistisch. Das erstaunte Gesicht einer Fleischverkäuferin, wenn ihre farbige Kundin Hochdeutsch spricht. Die Frage des Kellners, ob der dunkelhäutige Gast etwas anderes isst als die Tischnachbarn. Aber es betrifft nicht nur die dunkelhäutigen Menschen. Betroffen sind alle Ethnien, die sich von unserem Allgemeinbild unterscheiden. Die Gründe sind vielfältig und meist durch Angst vor Unbekanntem begleitet. Der Alltagsrassismus ist real, alltäglich, dabei oft unauffällig und unerträglich. Doch kann sich kaum jemand davon freisprechen. Auch ich nicht.

Auf der Internetseite der Bundeszentrale für politische Bildung steht: „Rassen? Gibts doch gar nicht!“ und wir lesen im Beitrag: „… Die Einteilung der Menschen in „Rassen“ hat nach heutiger Erkenntnis keine wissenschaftlich begründete Grundlage. Und doch existieren „Menschenrassen“ tatsächlich. Nicht als biologische Fakten, sondern als – unbewusste – Denkstrukturen und Urteile in unseren Köpfen. …“ Zitat Ende.

Es gibt ebenso keine allgemein akzeptierte Definition für Rassismus. Mir sagt die Beschreibung von Albert Memmi, tunesisch-französischer Schriftsteller und Soziologe, zu: „Der Rassismus ist die verallgemeinerte und verabsolutierte Wertung tatsächlicher oder fiktiver Unterschiede zum Nutzen des Anklägers und zum Schaden seines Opfers, mit der seine Privilegien oder seine Aggressionen gerechtfertigt werden sollen.“ Entstanden ist Rassismus in der Zeit des europäischen Kolonialismus und Imperialismus. Menschen wurden in Rassen eingeteilt, die unter anderem den Kolonialismus und Sklaverei rechtfertigen sollten. Wenig bekannt dabei ist, dass die wissenschaftlichen Errungenschaften des 17. und 18. Jahrhunderts eng mit der Sklaverei verbunden sind. Körperliche, ethnische oder kulturelle Merkmale einer Gruppe wurden und werden genutzt, um diese im Pseudovergleich mit dem eigenen Standpunkt herabzusetzen. Colette Guillaumin, französische Soziologin und Feministin, hat gesagt „ ,Rassen‘ existieren nicht, aber Rassismus tötet.“

Ich spreche mich selber nicht frei, Rassismus nicht zu erkennen oder ihn unwissentlich zu begehen. Um Rassismus tatsächlich zu begegnen, braucht es aus meiner Sicht eine weit größere Sensibilisierung, Debatte und Haltungsänderung auf allen gesellschaftlichen Ebenen als wir zurzeit haben. Wir brauchen politische Vorgaben und klare Standpunkte, Projekte und passende Bildungsvorgaben von der Kindertagesstätte an. Kinder kennen keinen Rassismus. Den erlernen sie – im Alltag und am Abendbrottisch.

Es macht mich unglaublich traurig, dass Rassismus überhaupt noch ein Thema ist. Im 21. Jahrhundert fühlen sich Menschen höherwertig als andere. Das beste Bild für mich dazu: Ein weißes, ein beiges, ein braunes Ei nebeneinander auf einer Seite. Auf der anderen Seite alle drei Eier aufgeschlagen in der Pfanne. Kein Unterschied, kein Besser oder Schlechter, kein Frisch oder Alt, kein Teuer oder Günstig … keine Wertung – alle gleich!

Alle gleich! Was für eine wunderbare Vorstellung. Es gehören tatsächlich alle dazu. Nicht nur die unterschiedlichen Hautfarben, auch sexuelle Orientierungen, religiöse Richtungen oder andere Unterschiede, die vordergründig trennen. Alle Menschen, die in der Gemeinschaft und in der Toleranz zueinander eine unglaubliche Bereicherung sind. Was für eine wunderbare Vorstellung wäre es, in einem Land zu leben, in dem tatsächlich jeder ohne Wertung so sein kann, wie er ist!

Meine Mutter zeigt mehrere Fotos aus ihrer Puppenwerkstatt. Dazu schreibt sie: „Wenn unsere Kinder schon mit ethnischer Vielfalt aufwachsen, grenzen sie im späteren Leben niemanden aus und haben keine Berührungsängste, zu Hautfarbe, Sprache und Religion.“

Was durch den Tod von George Floyd ausgelöst wurde, ist eine große Bewegung, die hoffentlich nicht vorbei ist, wenn die Medien das Interesse verlieren. So unfassbar dumme und ignorante Aussagen es dazu einerseits gibt, gibt es andererseits auch Beispiele, die Hoffnung machen: Alle vier lebenden ehemaligen amerikanischen Präsidenten stellen sich auf die Seite der Demonstranten in Amerika. Unglaublich viele Künstler*innen aller Kunstrichtungen positionieren sich für Vielfalt. Es ist für viele weiße Menschen, mich eingeschlossen, schwer, nachzuvollziehen, was andersfarbige Menschen tagtäglich an Rassismus erleben. Besonders schwer, wenn man niemanden mit anderer Hautfarbe so richtig kennt. Empfehlenswert dazu ist der Brennpunkt zum Thema „Rassismus“ von Carolin Kebekus, in dem diese Menschen zu Wort kommen und das beschreiben.

Die Debatte um Rassismus ist hoffentlich lange nicht zu Ende. Ich habe gemerkt, nachdem die Partei, die keine Alternative ist, bei uns in den Bundestag gewählt wurde, dass ich müde wurde gegen Intoleranz zu kämpfen. Ich glaubte, dass langsam auch der letzte Mensch begriffen haben müsste, dass es keine höher- oder minderwertigen Menschen gibt. Glaubte ich. Das war falsch und es ist anders: Solange es Menschen gibt, die sich aus mangelndem Selbstbewusstsein, aus Machtwillen, aus Dummheit oder anderen Gründen über andere stellen, wird es Rassismus geben. Und so lange ist es immer wieder notwendig, dass wir – alle Ethnien – nicht nur sehr sensibel zuhören und immer mehr voneinander lernen … wir müssen laut werden, sprechen, uns gegen Menschenfeindlichkeit positionieren und sie, wo immer möglich, entlarven.