Redet drüber … Sucht!

Es ist fast wie eine alte Gewohnheit: Wenn ich in einer Zeitung oder in sozialen Netzwerken einen Artikel finde, der „Sucht“ zum Thema hat, muss ich ihn lesen. Ich lese diese Artikel immer sehr kritisch. Wenige schaffen es, mir neue Erkenntnisse aufzuzeigen, selten finde ich etwas, was mich fesselt und zu Ende lesen lässt. Kürzlich hat mich meine Schwester auf einen Bericht aufmerksam gemacht, der mich nicht nur sehr ansprach, sondern der sowohl meine Erfahrungen deckte, als auch einen anderen Weg im Umgang mit Sucht offenbarte. Die Headline des Beitrags im Business Insider Deutschland lautet: „Studie zeigt eine unbequeme Wahrheit über Sucht“. Der Beitrag beginnt mit dem Satz: „Das Wort Sucht – … – ist negativ konnotiert. Wir bezeichnen Sucht als eine Störung und Betroffenen wird von der Gesellschaft ein Problem zugesprochen.“

Die Gesellschaft jedoch ist, nach meiner Ansicht, ein großer Teil des Problems, wenn es bei uns um das Thema Sucht geht. Süchtige stehen außerhalb der Norm. Was nicht die Norm erfüllt, gehört geächtet. Die Form der Sucht spielt dabei keine Rolle. Sucht ist nicht gesellschaftsfähig. Wer süchtig ist, wird abschätzig betrachtet, möglichst totgeschwiegen, aus den eigenen Reihen verwiesen. Über Sucht wird nicht gesprochen, jedenfalls nicht öffentlich, weil es ja vermuten ließe, dass man selbst Betroffener ist, als Angehöriger oder Süchtiger. Betroffen sein bedeutet Schwäche, deutet auf ungelöste Probleme hin, falsche Erziehung und lässt Fehler in der Lebensführung oder im Miteinander vermuten. Zu gerne wird negiert, dass es einen selbst treffen könnte. Zu gerne vergessen, dass Sucht keinen sozialen Status kennt und zu gerne übersehen, dass Sucht überall in unserer Gesellschaft präsent ist.

Ich bin betroffen und damit auch meine Familie. Ich könnte auch sagen „Ich war betroffen“, aber auch dafür hat die Gesellschaft eine Form gefunden, die mich sozusagen lebenslang „ächtet“. Ich bin, wenn es nach der Gesellschaft geht, eine „trockene Alkoholikerin“. Ich verabscheue den Begriff, denn ich bin weder „trocken“, noch „Alkoholikerin“. Ich habe vor 20 Jahren geschafft, meinem Leben die entscheidende Wende zu geben und für mich beschlossen, das Alkohol keine Rolle mehr in meiner Lebensführung spielen wird. Den Entschluss fasste ich selber, den nötigen Rückhalt dafür gab mir meine Familie und mein Freundeskreis. Wer jetzt erwartet, dass ich hier von dem Grauen der Sucht und dem elendigen Weg daraus erzähle, braucht nicht weiterlesen. Das werde ich nicht tun, denn seither ist jeder Tag für mich besser gewesen als die Tage davor. Ich genieße mein Leben, ich lebe bewusst und bin die Summe dessen, was ich erlebt habe, wozu auch sehr düstere Tage gehören. Aber ich bin nicht bereit, ein lebenslanges Stigma zu tragen, nur weil unsere Gesellschaft Sucht nicht offen bespricht. Jeder anderen Krankheit wird mit Betroffenheit begegnet, aber Sucht nicht als Krankheit anerkannt, sondern als Makel empfunden.

Natürlich gab es Gründe für meine Sucht, trotz dessen, dass ich eine glückliche Kindheit und eine große Familie hatte und habe. Nur spielt es hier keine Rolle, welche Gründe dazu führten, die vielfältigster Art sein können. Ich kann nur versichern, dass es tatsächlich jeden treffen kann, sei man sich auch noch so sicher gefeit zu sein. Entscheidend, wenn man denn in die „Falle“ getappt ist, ist die eigene Erkenntnis und der Wille sich zu befreien. Das passiert im Kopf und so bezeichne ich es immer als „Kopfsache“. Die körperlichen Symptome bekommt man je nach Substanz recht schnell in den Griff. Viel schwieriger ist es, den eigenen Geist zu überzeugen, dass das Ende der Sucht als lebensrettender Entschluss zu sehen ist. Wir verlieren nichts, sondern können nur gewinnen!

Ich fasste meinen Entschluss vor 20 Jahren auf dem Weg in ein Krankenhaus. Im Zuge der anschließenden Therapie wurden Patienten verpflichtet die verschiedenen Gruppen kennenzulernen, die Alkoholsucht zum Thema hatten. So saß ich an einem Abend in einem recht dunklen Raum, in dem die Gruppenmitglieder um einen Tisch saßen. Es waren die Anonymen Alkoholiker, bei deren Begrüßungsritual jeder Teilnehmer sagt: „Ich heiße Soundso, bin seit … anonymer Alkoholiker …“ und fügt dann noch ein/zwei Sätze zur aktuellen Verfassung an.  Irgendwann war Ingrid an der Reihe und sagte: „Ich heiße Ingrid, ich bin seit 7 Jahren anonyme Alkoholikerin und ich leide seit 7 Jahren unter meiner Sucht!“ Das war aus meiner heutigen Sicht der Moment in meinem Leben, in dem ich Optimist wurde. Ich saß mit großen Augen dort, hörte die anderen kaum mehr und dachte für mich, dass ich mich nicht der ganzen Mühe unterwerfe meine Sucht zu besiegen um den Rest meines Lebens zu leiden. Ich wollte leben, bewusst und jeden kommenden Tag genießen.

Das gelang natürlich nicht sofort, aber es wurde immer besser. Meine Familie und Freunde mussten wieder Vertrauen in mich gewinnen. Ich musste die Ernsthaftigkeit zeigen, mein Leben zu stabilisieren. Ich wurde stärker, physisch, wie psychisch und gewann meine frühere Persönlichkeit nicht nur zurück, sondern gewann eine veränderte, selbstbewusstere hinzu. Etwa zwei Jahre nach der Therapie hatte ich hin und wieder noch das Gefühl, dass mir „Alkoholikerin“ auf der Stirn geschrieben steht. Doch irgendwann merkte ich, dass es außer mir selbst, niemanden mehr interessierte. Die Menschen um mich herum bewerteten mich nach dem, wie sie mich aktuell erlebten. Natürlich habe ich nicht jedem gleich erzählt, was ich erlebt hatte, aber hin und wieder ergab es sich doch aus Gesprächen. Niemals in den vergangenen Jahren erlebte ich dadurch Ablehnung. Immer Anerkennung und oft die gegenseitige Öffnung, dass mein Gegenüber ähnliche Erfahrungen gemacht hatte. Diese anderen waren immer starke, in sich ruhende Menschen, die ihr Leben im Griff hatten und genau wussten, was sie nicht mehr wollten. Es kann tatsächlich jeden treffen und wenn man aufmerksam zuhört, ist es erstaunlich, wie viele Menschen betroffen sind.

Wäre es nach der gesellschaftlichen Meinung gegangen, hätte ich damals „erst mal in der Gosse landen müssen“, hätte mein Umfeld verlassen müssen um, eine Chance zu haben, hätte mich später still und ohne Stressfaktoren bewegen müssen. „Einmal ‚Suchti‘, immer ‚Suchti‘“ ist die gängige Meinung. Hin und wieder hörte ich Gespräche mit Leuten, die diese Meinungen vertraten. Ich habe nichts dazu gesagt, sondern sie nur still für mich zu den Dummen stellt.

Ich habe nichts von dem getan, was in der Allgemeinheit für richtig gehalten wird, um einen Weg aus der Sucht zu finden. Ich habe mich nicht verkrochen, sondern den Weg in den Beruf wiedergefunden. Ich blieb in genau dem Umfeld, welches ich vorher hatte. Ich habe Alkohol nicht aus meinem Leben verbannt, sondern kann jedem Gast ein Glas Wein anbieten oder eingießen und gönne es ihm von Herzen. Ich habe keinen Psychologen konsultiert oder eine Gruppe besucht, die mich auf Jahre an eine schwache Lebensphase erinnert. Ich ging meinen – glücklichen – Weg.

Möglich wurde das, weil meine große Familie, meine Freunde und mein Ehemann im entscheidenden Moment erkannten, dass es mir ernst war. Auch vorher ließen sie mich nicht fallen, sondern zeigten mir ihre Grenzen auf, bekräftigten immer wieder die Möglichkeiten mir zu helfen, aber gaben mir trotz Abhängigkeit, das Gefühl nicht alleine zu sein. Mit meinem Mann habe ich zwei wunderbare Kinder aufgezogen. Natürlich interessierten die sich im gewissen Alter für Alkohol. So haben wir frühst möglich mit ihnen meine Problematik kommuniziert und sie ihre Erfahrungen mit Alkohol machen lassen. Einen heilsamen „Kater“ hatten beide, den die Mutter half auszukurieren.

Ich bin nicht stolz auf das, was ich erlebt habe, aber stolz darauf, was ich daraus gemacht habe. Es gehört zu mir und hat mein Wesen verändert. Ich wurde aufgefangen, bekam Grenzen aufgezeigt, bekam Halt und Zuneigung als ich sie am dringendsten brauchte. Ich habe gelernt Hilfe annehmen zu können. Das Wunderbare ist, dass ich heute in der Lage bin, das was ich bekam, weiterzugeben. Ich helfe, wem ich helfen kann, und sei es nur dadurch, dass ich eine positive Lebenseinstellung teile. Dabei ist mir vollkommen klar, dass ich ideale Bedingungen und die richtigen Menschen um mich hatte, um das zu schaffen. Nicht selten endet Sucht in hilfloser Ohnmacht und Tod.

Sucht ist kein Makel. Eine Krankheit allemal und eine Falle, in so vielfacher Form, dass man sich hüten sollte, sich sicher zu fühlen. Ich bin dankbar, dass ich ihr entkommen bin und Menschen hatte, die mich begleiteten, unglaubliche Kraft mobilisierten mich zu stützen, mit mir redeten, mir meine Chance gaben und bis heute bei mir sind. Es sind die Menschen, die praktiziert haben, was im letzten Satz des oben erwähnten Beitrags steht: „Anstatt Süchtige zu hassen und sie zu isolieren, sollten wir eine warmherzigere Gesellschaft aufbauen.
Wenn wir die Art und Weise anpassen, wie wir uns miteinander verbinden und Menschen helfen können, durch ihr normales Leben erfüllt zu werden, kann Sucht in Zukunft ein geringeres Problem werden.“

Redet drüber!

 

17 Kommentare zu “Redet drüber … Sucht!

  1. Xeniana sagt:

    Ich würde mich freuen hier noch viele Beiträge zu lesen

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  2. Mari sagt:

    Toller Post und ich würde wünschen, dass ihn viele alkoholkranke Menschen und deren Familien und Freunde ihn lesen. Die Alkoholsucht wird oft nicht als Krankheit gesehen, was für die Betroffenen fatal ist. Sie werden in eine Ecke gestellt, in die sie nicht hingehören. Es gibt ja auch noch viele andere Süchte, die eben nicht so auffallen, aber deswegen nicht weniger zerstörend für die betroffenen Personen sind. Ich finde deine Offenheit mutig und möge dein Post etwas bewirken. Und zwar nicht nur bei den Menschen mit Suchtproblem, sondern auch bei jedem anderen in seinem Denken über Menschen, die in diesem Sumpf feststecken.

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    • Vielen Dank für deinen schönen Kommentar. Ja … die Hoffnung, den ein oder anderen zum Denken anzuregen war meine Grundlage es hier zu beschreiben. Es gibt ihn eben … den Weg zum Glück! 🙂 Herzliche Grüße!

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  3. Ich war lange Jahre Vieltrinkerin, und habe mich selbst als Alkoholikerin gesehen. Meine Hausärztin und meine Psychotherapeutin haben da aber jedesmal abgewiegelt und gemeint, ich sei zwar gefährdet, aber noch keine Suchtkranke – aber halt nahe dran. Ich praktizierte das Einsamkeitstrinken, mit einer Flasche Wein oder Sekt, oder auch mal härteren Getränken ist das – sehr vorübergehend! – nicht mehr so schwer, wenn man sich alleine durchs Leben kämpfen muss. Auch die Traumen der Vergangenheit lassen sich mit Alkohol leichter unter den Teppich kehren – bis zu einem gewissen Pegelstand, danach wiegen sie noch weitaus schwerer als nüchtern.
    Mittlerweile kann ich sehr gut ohne alkoholische Getränke leben. Sehe das aber recht entspannt und locker. Wenn ich Lust auf ein kühles Bier oder ein feines Glas Wein etc. verspüre, dann gönne ich mir das auch. Ich kann mir jetzt sehr gut Grenzen setzen und sagen: „Okay, das reicht jetzt, so schlecht wird der Rest in der Flasche nicht schlecht, da kannst du noch ein paar Tage davon zehren.“ 😉
    Ich wünsche dir einen ganz wunderbaren Sonntag, liebe Anna. ❤

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    • So schnell wird der Rest in der Flasche nicht schlecht, sollte es eigentlich heissen. 😉

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    • Liebe Martha, ich denke, jede Suchtgeschichte ist so individuell, wie der Mensch, der dahinter steht. Wichtig finde ich ganz besonders den Bewussten Umgang mit Alkohol. Gut, wenn man sich selber kennt, einschätzen kann und sozial stabil ist. Ich habe viele ehrlich Menschen erlebt, die zugaben, dass ihr Konsum grenzwertig ist. Aber wie Gudrun schon schrieb, oft eckt man an, wenn man eben nicht mitmacht … was ich zugegebener Maßen nie erlebt habe.

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  4. Gudrun sagt:

    Respekt,Anna, dass du deinen Weg konsequent gegangen bist und dass du darüber schreibst und redest. Mein Bruder war Alkoholiker. Er hat es nicht geschafft, sich aus den Fängen der Sucht zu befreien. Sein Tod war für mich Anlass, den Alkohol aus meinem Leben zu verbannen. Das war nicht schwer, denn gebraucht habe ich ihn nie und geschmeckt hat es mir auch nicht. Aber, was musste ich mir alles anhören: „Du Arme, du kannst ja nun gar nicht mehr lustig sein.“ oder „Ich bin aber beleidigt, wenn du nicht mal mit mir anstößt.“ Es hat mich erschreckt, wie sehr Alkohol in der Gesellschaft verankert ist. Es war eine gute Entscheidung damals. Ich vermisse nichts und lustig sein kann ich natürlich auch.
    Dir, liebe Anna, wünsche ich viel Glück auf deinem weiteren Weg.

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    • Liebe Gudrun, du hast vollkommen recht – Alkohol ist unsere Kulturdroge Nr. 1 und eben deshalb meist nicht gerne Gesprächsthema. Ich denke, die Dunkelziffer ist unglaublich hoch und darüber reden, würde manchem die Augen öffnen. Dabei ist das Leben so schön ohne dem! Dennoch gönne ich jedem, der die besonderen Getränke tatsächlich maßvoll genießen kann. Paracelsus: „Alle Dinge sind Gift, und nichts ist ohne Gift. Allein die Dosis macht, daß ein Ding kein Gift ist.“

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  5. Reiner sagt:

    Hat dies auf wupperpostille rebloggt und kommentierte:
    Lesenswert für alle, die einen kennen, der einen kennt. Oder selbst auch so ihre Schwierigkeiten haben.

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  6. Reiner sagt:

    Danke für`s teilen & gute 24 Stunden dir.
    Sei herzlich gegrüßt, Reiner, Alkoholiker, heute trocken.

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  7. Saxhida (Sonja) sagt:

    Was für ein Beitrag! Es klingt immer ein wenig komisch, wenn man als Fremde sowas schreibt, aber ich bin unglaublich stolz auf Dich und deinen Weg, den du gegangen bist. Ein sehr wichtiger Beitrag und ich freue mich, daß ich ihn lesen durfte. Dankeschön

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  8. Donnerwetter! Was für ein eindringlicher und wunderbarer Artikel über Sucht! Tausend Dank dafür!

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