Der Hartz4-Nazi … war einmal

Foto: Pixabay

 

Selten, ganz selten lese ich Kommentare, die irgendwelche Nutzer in sozialen Netzwerken unter Beiträge schreiben. Sie sind oft abstoßend und selten werden konstruktive, differenzierte Meinungen geäußert. Es ist so leicht, so anonym zu hetzen. Aus irgendeinem Grund blieb ich bei einem Artikel doch an den Kommentaren hängen und lese: „Hartz4-Nazi“. … Ich überlege, was ein Hartz4-Nazi ist. Ich google, aber finde keine richtige Antwort. Das Wort ist eine Beschimpfung, eine Beleidigung, ein Vorurteil und in sich völlig bescheuert. Natürlich weiß ich, was vordergründig gemeint ist. Doch um es richtig zu verstehen, muss ich wohl erst verstehen, was ein Nazi ist. Genau da liegt mein Problem – ein Versuch:

Ich mache eine kleine Liste mit Begriffen, die mir einfallen, wenn ich mir einen Nazi vorstelle. Schon allein das ist schwer, weil natürlich der Springerstiefel-Typ als Erstes in den Sinn kommt. Die Sache ist jedoch viel subtiler, versteckt sich doch so mancher Nazi im Küchenkittel oder Nadelstreifen-Anzug. Und sich vorzustellen, was der Nazi im Kopf hat … ähm … Also:

Eins der häufigsten Probleme, dass Menschen mit dieser Gesinnung haben müssen, ist der Wohlstandsverlust und daraus bedingte Existenzangst. Immer wieder lese ich, dass die bösen Flüchtlinge viel mehr Geld bekommen, als einheimische Bedürftige. Dass dies schlicht und einfach falsch ist und jeglicher Grundlage entbehrt, spielt keine Rolle. Wenn der eine es behauptet, glaubt es der nächste, angebliche Rechenbeispiele werden aus dem Zusammenhang gerissen, falsche widerlegte Zahlen trotzdem in den Netzwerken geteilt – es tut ja so gut, wenn man weiß wer der böse ist. Wenn einer schreit, applaudieren zwei andere und schon tut’s nicht mehr so weh. Ich behaupte mal, dass keine alleinerziehende Mutter, keine Oma im Rentenalter, kein arbeitsloser Mann je einen Euro zu wenig bekommen hat, weil die bösen Flüchtlinge da sind. Wir leben mit einem der besten Sozialsysteme der Welt und trotzdem ist Alters- sowie Kinderarmut ein sehr ernstes Thema bei uns … aber das sind ganz andere Töpfe und gehen den Flüchtling nichts an!

Mangelndes Geschichtsbewusstsein möchte ich fast gleichsetzen mit Realitätsverlust. Geschichte ist nicht zu ändern und die Welt in der wir leben ist bunt. Speziell Deutschland war immer ein Durch- und Einwanderungsland. Die Deutschen sind nicht erst seit den beiden letzten Weltkriegen, der Einwanderungswelle von Türken und Italienern der Nachkriegszeit, der Aufnahme von Menschen aus den Jugoslawienkriegen, Spätheimkehrern, Sudetendeutschen und vieles mehr, vollkommen gemischt und von anderen Völkern durchsetzt. Keine Familie und kein Freundeskreis kann behaupten rein Deutsch zu sein, falls es das überhaupt gibt. Gäbe es ein „Rein Deutsch“ wären wir sehr wahrscheinlich ein degenerierter Haufen von Menschlein, die in der Welt keine Rolle spielten und noch in den Höhlen der Urzeiten vor sich hin vegetierten. Was bei uns in den Landstrichen passiert, die von Durchmischen anderer Nationen ausgeschlossen waren oder sind, kann man fast täglich in der (Lüge-)Presse lesen.

Womit der gemeine Nazi im meinen Augen auch die seinen vor den Zusammenhängen der Länder der Welt verschließt. Ein Staat kann heute nur im Verbund mit anderen Nationen und im offenen Transfer existieren. Verschließen wir uns, verkümmern wir, machen Handel, Wirtschaft und Fortschritt zunichte. Grenzen zu schließen bedeutet Kriege und Allianzen zu fördern, die Vernichtung nach sich ziehen.

Die Empathielosigkeit vor dieser Vernichtung ist ein weiteres Merkmal, dass in der Liste auftaucht. Via Internet erleben wir die Kriege in der Welt als fänden sie im eigenen Wohnzimmer statt. Wir sehen Bilder von Menschen, die unerträgliches Leid erfahren und wollen diesen Menschen einen sicheren Platz bei uns verwehren? Der Gedanke tut mir fast körperlich weh. Ich erlebe Menschen, die über Flüchtlinge schimpfen, sie an Grenzen erschießen lassen wollen, Asylbetrüger in jedem sehen, der nicht ins Bild passt … und gleichzeitig die Todesstrafe für Tierquäler fordern. Jedem Hund und jeder Katze mehr Wohlstand und fettere Bäuche gönnen, als Menschen, die vorm Verhungern flüchten.

Übersteigertes Selbstbewusstsein und Bildungsresistenz möchte ich in einem Satz nennen, gehört es für mich doch sehr zusammen. Der normale Nazi ist nämlich nicht von der ungebildeten Sorte und müsste eigentlich, wenn er einen rein logischen Denkprozess einsetzen würde, wissen, dass seine Thesen und Behauptungen haltlos, selbstsüchtig und veraltet sind. Es gibt für mich bis heute keinen einzigen Grund aus dem sich ein Mensch einem anderen gegenüber als höherwertig stellen kann – der Nazi tut’s … also kann er ja nur so selbstverliebt sein, … oder … ich vermute fast … so wenig von sich selber halten, dass es in übersteigertes Selbstbewusstsein umschlägt. Wäre das nicht so fürchterlich, müsste man fast mit Mitleid kämpfen …

Machtwille steht als letztes in meiner Liste und das ist ein sehr trauriger Punkt. Beobachtet man die politische Entwicklung im Land, stellt man fest, wie einige wenige mit viel Polemik, mit gemachter Angst und Populismus, eine Masse lenken, die Lämmer-gleich und ohne Hinterfragen nachplappert, schreit und brüllt. Das „Hatten-wir-schon-mal!“ bleibt bewusst ungehört und jeglicher Wille aus der Geschichte zu lernen fehlt. Die Lämmer merken nichts … mäh!

Der Nazi ist – unbelehrbar – da … und er war immer da! Die rechte Gesinnung wird – wieder – gesellschaftsfähig. Das ist der Punkt, der mir Angst und mich nachdenklich macht. Er wird wieder so gesellschaftsfähig, dass in den Netzwerken schon eine Art Ranking unter den Nazis beginnt. Der Hartz4- und Springerstiefel-Nazi ist böse und dumm. Bleiben ja noch genug andere, die den politischen Entwicklungen gedankt, sich frei und offen unter uns bewegen. Als wären sie befreit, ihre Parolen endlich wieder in die Gesellschaft zu tragen. Wir geben ihnen Raum in Talkshows, auf der politischen Bühne und in der Nachbarschaft. Wir empören uns ein bisschen, wenn ein Polizist einer rechten Veranstaltung ein gutes Gelingen wünscht. Entschuldigen es damit, dass es ja in dem bestimmten Bundesland passiert. Unsere Politiker halten die Klappe, weil nach der Wahl vor der Wahl ist, hoffend, dass nicht zu viele Stimmen wegwandern.

Sie waren immer da und fanden Unterschlupf in den etablierten Parteien, die ihr Profil mehr und mehr einbüßen. Jetzt ist es nicht mehr unfein besorgt, rechts, gegen Werte zu sein – denn – und das kann ich nicht mehr hören – so ist nun mal Demokratie. Was ein Nazi ist, verstehe ich wohl. Warum er jetzt in offener Weise mein Nachbar, mein Kollege, der Mann im Bus sein könnte – das verstehe ich nicht und nicht, dass wir – die Nicht-Nazis – nicht viel lauter schreien. Ich kann nicht nachvollziehen und will auch nicht verstehen, wie ein Nazi denkt. Brauche ich auch nicht – denn er besinnt sich neuer Namen … besorgter Bürger oder Mitglied der Partei, die eben keine Alternative ist. Der Hartz4-Nazi war einmal … jetzt kommen andere.

19 Kommentare zu “Der Hartz4-Nazi … war einmal

  1. Ilanah sagt:

    Hat dies auf Das Leben – bunt wie ein Regenbogen rebloggt und kommentierte:
    Tja, sehe ich ganz genauso.

    Gefällt 1 Person

  2. Ilanah sagt:

    Sehr gut!!!! Danke dir, liebe Anna.

    Gefällt 1 Person

  3. einestimmesuchtandere sagt:

    liebe anna, vielen dank für deine gedanken, vielen dank

    ich hab mit meinem sohn diskutiert, die wähler, die damals die nazis an die macht brachten, waren ja nicht die arbeiter, dort herschte der meiste wiederstand ,
    es war die mittelschicht, der apotheker, der bäcker, der akademiker, keine horden,
    es war eine übergangszeit, die weimarer republik scheiterte, als einer der ersten versuche der demokratie,
    als nazideutschland besiegt war, (ist schon verrückt, diese nationalsozialisten, der führer brauchten ja nicht so lange, um deutschland ins unglück zu stürzen und die welt, also sehr patriotisch ist das ja nicht), wurden in beiden teilen des besiegten deutschlands ja auch aus der bedingung heraus viele nazis garnicht belangt, damit das neue system überhaupt laufen konnte, andere als die nazis waren ja geflohen, gefallen, vernichtet, vergast,
    so blieben die nazis ja in den positionen, es gab keine richtige aufarbeitung,
    siehe jetzt das beispiel die akte rosenburg,
    die schützten sich und erst jetzt kommt eine generation, die sich damit als historie auseinandersetzen und das ist gut so.
    des weiteren zitiere ich jetzt diesen satz, von dem kürzlich verstorbenen, (doof,mir fällt grad echt nicht der name ein, vielleicht weiss ihn ja einer von euch), der das kz überlebt hat und als zeuge dieser zeit in die schulen etc gegangen ist, der erzählte, dass viele jugendliche kamen, um sich dafür zu entschuldigen, und seine antwort fand ich so gross und beeindruckend,
    er antwortete,
    ihr seid nicht schuldig,
    denn ihr habt nichts getan,
    es gibt nur die verantwortung zu ziehen aus der vergangenheit in die gegenwart,

    Gefällt 2 Personen

    • Ich stimme dir in allem zu – die Entnazifizierung blieb unvollendet. Aber hätte sie ohne ehrliche Geschichtsbetrachtung funktionieren können? Wenn wir unsere Elterngeneration betrachten, konnten sie kaum reden, weil sie Ruhe und ein Leben ohne Krieg leben wollten. Wir haben Krieg nicht mehr erlebt, aber eine traumatisierte Elterngeneration wahrgenommen. Frei sind tatsächlich erst die heutigen jungen Leute. Trotzdem gibt’s in allen Genrationen alte und neue Nazis, bei uns und in allen anderen Ländern um uns herum. Es war nicht nur die Mittelschicht – es waren alle, die nicht rechtzeitig halt geschrieben haben. Wie stark und tonangebend sie werden – das ist unsere Verantwortung.

      Gefällt 2 Personen

      • WoMolix sagt:

        Mit allem einverstanden, nur nicht mit der „Befreitheit“ der juingen Generation.
        Hier gibt es noch viel tradierte Traumatas!
        Ganze Berufsstände, wie z.B. die Juristen, die weitestgehend pauschal entnazifiziert wurden, gaben Jahrzehnte lang im Geiste ihrer Traumatas, ihre Gesinnung unbehelligt in der Ausbildung ihrer Nachfolger weiter und verwandelten sich selbst dabei argumentativ von Tätern zu Opfern. Nur wenige, wie der ehemalige Baden-Württembergische Landesvater Filbinger wurden nachträglich öffentlich zu ihrer Verantwortung befragt.
        Ich vermute sogar, dass vieles an dieser zweifelhaften Denkhaltung sogar die DDR überstanden hat.

        Like

  4. Anna-Lena sagt:

    Dein Artikel hat mich wieder mal sehr beeindruckt und besonders der Satz sitzt auch mir ganz schwer auf der Seele:
    „Der Nazi ist – unbelehrbar – da … und er war immer da! Die rechte Gesinnung wird – wieder – gesellschaftsfähig. Das ist der Punkt, der mir Angst und mich nachdenklich macht“

    Gefällt 2 Personen

  5. wortsonate sagt:

    Danke für deine Gedanken und offenen worte.

    Gefällt 1 Person

  6. Ulli sagt:

    Danke Anna, dass du laut bleibst und bist … du weisst, dass ich dir zustimme. Herzlichst
    Ulli

    Gefällt 1 Person

  7. ludwig sagt:

    Tja, leider hast du vollkommen recht und da ich im besagten Bundesland wohne, kann ich mich dafür nur schämen.

    Das schlimme ist, dass der Nazi sich inzwischen anders nennt. Dahinter steckt die Strategie zu verharmlosen und so den Schrecken zu nehmen. Leider mit Erfolg.

    Gefällt 3 Personen

    • Meine Tochter hat einen Freund aus Dresden, der uns besuchen kam. Einer der ersten Sätze des jungen Mannes war, dass er mit den bestimmten Leuten nichts zu tun hätte. Dafür, dass er überhaupt nicht in die Situation kommt so etwas zu sagen, sollten wir uns alle etwas tun. Es gibt wunderbare Menschen bei euch – schämen ist nicht angebracht.

      Like

  8. Klasse! Wieder einmal Danke!

    Gefällt 1 Person

  9. Ich weis nicht wer zuerst auf die Idee kam Menschen per „Nazi“ zu titulieren, es hat zugenommen, massiv zugenommen.
    Wobei sich die Frage stellt, wer von diesen Menschen mit der „guten“ Idee kann denn von sich sagen er kennt einen Nazi?
    Nazis sind äußerst selten in heutiger Zeit anzutreffen die Mehrzahl ist tot , was allein schon dem Alter geschuldet ist, die noch auffindbaren Reste sind wenigstens 85 Jahre und älter..Was soll also eine solche Titulierung?
    LG Wortgestoeber

    Like

  10. Simmis Mama sagt:

    Kann ich leider nur bestätigen. Wir begegnten den „Akademikernazos“ bei Jugendamt und Gericht, die übrigens über HarzIV Mütter ebenso herzlos richten wie über Asylsuchende.

    Like

Gedanken und Anregungen: