Sie spielen immer …

annaschmidt-berlin.com_kartenspiel1Beate ist meine Nachbarin – Büronachbarin. Wir sind beide Mütter, erinnern uns gerne an die gleiche weltbeste Kita, in der unsere Kinder waren und haben mit unseren Familien und Häuschen auch so viele gemeinsame Themen. Immer mal wieder, wenn ich einen Beitrag im Blog veröffentlicht habe, kommt Beate zu mir rüber und gibt mir ihre Rückmeldungen dazu. Rückmeldungen, auf die ich nicht verzichten möchte, weil sie mich weiter bringen. Oder sie gibt mir den Denkanstoß zu einem Beitrag. Zum Beispiel fragte sie mich einmal „Was kostet ein Menschenleben!“, weshalb der Beitrag entstand. Als ich „Nur alte Familiengeschichten“ veröffentlicht hatte, dauerte es nicht lange bis sie zu mir rüber kam und meinte, sie hätte mir etwas mitgebracht. In ihrem Büro zeigte sie mir ein altes Fotoalbum der Eltern mit dem Bild der Karten spielenden Kindern in den Ruinen. Ich war sofort von diesem dem Bild fasziniert und wollte mehr darüber wissen. Das hat Beate mir dann auch erzählt … natürlich nicht im Büro. 😉

Das Foto zeigt fünf spielende Kinder in einem Haufen von Trümmern, von denen ein umgestürzter Mauerblock als Kartentisch dient. Die Kinder scheinen im Spiel versunken, als ob sie in einem ganz normalen Zimmer an einem Tisch sitzen und das Drumherum keine Rolle spielt. Die Szene könnte in jeder Zeit (seit dem es Spielkarten gibt) in jedem Kinderzimmer ablaufen, nur gab es in der Zeit keine intakten Kinderzimmer, wenn es denn überhaupt Zimmer gab. Der Ort ist die Ecke vom Hindenburgdamm zur Manteuffelstraße in Berlin Lichterfelde. Das ist für mich ebenso berührend, weil wir zwei Querstraßen weiter wohnen. Ich kenne die Ecke seit vielen Jahren. Heute erinnert nichts mehr daran, dass hier einmal alles in Trümmern lag. Wolf Hantschel, der Vater von Beate, ist der Junge ganz links. Er hatte dazu erzählt, dass die Kinder hier Karten spielten als ein Fotograf, Herr Bratke, von der Arbeit nach Hause kam. Als er die Kinder sah, fragte er, ob sie eine kleine Weile warten würden damit er seinen Fotoapparat holen könne um sie zu fotografieren. Wie wir sehen, taten die Kinder das auch. Herr Bratke wohnte damals in der gegenüberliegenden Straßenseite, allerdings war im Internet nichts mehr über ihn zu finden. Wohl aber über den Ort: Ich fragte Wolfgang Holtz, ein Heimathistoriker am Ort, der mit unglaublichen Wissen über die Geschichte des Bezirks immer wieder fasziniert. Aus seinem Archiv bekam ich zwei Bilder. Die eine Postkarte zeigt den Hindenburgdamm 1928 … ich wusste nicht, dass hier einmal eine Straßenbahn fuhr und man sieht die wunderschönen Häuser, die damals die Straße säumten. Die zweite Postkarte, am 14.8.1941 abgestempelt, zeigt genau die gegenüberliegende Ecke des Bildes mit den spielenden Kindern. Hätten die Kinder aufgeschaut, hätten sie die Gaststätte „Alt Lichterfelde“ gesehen, in dem Haus das heute noch dort steht, nur nennt die Gaststätte sich nicht mehr so. Wir gehen gerne dort hin und wieder essen.

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Außer den Fakten hat Beates Vater jedoch mehr aus der Zeit erzählt und ich kann mir vorstellen, wie gerne und dankbar die Tochter ihm zuhörte. Er erzählte vom Murmelspiel bei dem ein einfaches Loch im Boden als Tor ausreichte. Er erzählte von den Fahrradspeichen, die als Reifen mit einem Stock die Straße entlang getrieben wurden. Kinder in der Nachkriegszeit mussten erfinderisch sein. Hinkelstein mit Steinen spielen war ein leichtes, Stelzen wurden selbst gebastelt. Fand sich nichts zum Spielen, wurde in den Trümmern, von denen es reichlich gab, nach brauchbaren Gegenständen gesucht. So erzählte der Vater, dass sie ein vergrabenes Bajonett und einen Säbel fanden, mit denen man wunderbar fiktive Kämpfe fechten konnte. Mussten sie nach Hause, wurden die Waffen in einer Ruine in einer Schornsteinklappe versteckt. Irgendwann hat sie aber ein anderer gefunden und mitgenommen. Langweilig wurde es trotzdem nicht. Die Kinder sammelten alte Lumpen, die sie bei Lumpenpiefchen abgeben konnte. Das wurde nach Gewicht mit ein paar Groschen entlohnt. Also beschwerten sie ihre Lumpensammlung mit Steinen, was natürlich nur funktionierte bis Lumpenpiefchen es merkte. Zu finden gab es dennoch genug und andere Einnahmequellen gab es auch. Als sie eine alte Badewanne fanden, brachten sie diese zum Schrotthändler, was ebenso belohnt wurde. Schnell war ihnen klar, dass daran mehr zu verdienen war. So holten sie die Wanne nachts wieder ab, zersägten sie und veräußerten sie bei eben dem Händler erneut. Ein anderes Ziel der Beschäftigung war der Schuhladen. Eine Freundin bat den Vater dort hinzugehen um Tante Martha’s Schuhe abzuholen. Als er im Laden danach fragte, wurde der Schuster äußerst ungnädig und der Vater fand heraus, dass er der fünfte war, den die Freundin dorthin geschickt hatte um Tante Martha’s Schuhe abzuholen. Wir können uns das Lachen der Freundin über den Vater und seine Vorgänger bestens vorstellen. Der Kreis in dem die Kinder sich bewegten, nach brauchbaren Dingen suchten und ihr Spiel ausweiteten war groß. Es gab niemanden, der fragte wo sie waren. So fanden sie am Teltowkanal eine Ente und fingen sie ein. Unter der Jacke wurde die Ente in Richtung nach Hause getragen, aber der Hunger machte den Besuch beim Bäcker notwendig. Durch ein Missgeschick konnte das Tier sich befreien, woraufhin ein kurzweiliger Wettlauf im Kreis zwischen Ente, Kindern und Bäcker entstand.

Das sind Erinnerungen vom Vater an die Tochter weitergegeben, die auch die Enkelkinder erfahren und weitergetragen werden. Erinnerungen, die uns verstehen lassen, wie es Kindern damals ergangen ist. Kinderspiele, die sich heute kaum einer noch vorstellen kann, in einer Welt, in der wir alles haben. Erinnerungen, die uns schmunzeln lassen. Und doch zeigt es nur die eine Seite der damaligen Kinderwelt. Diese Kinder auf dem Bild haben einen Krieg erlebt, sind in ihn hineingeboren worden und waren erst am Beginn eines Weges in ein einigermaßen geregeltes Leben. Sie hatten keine Eltern, die sich von morgens bis abends um sie kümmern konnten. Die Eltern waren selber mit sich und dem Überleben der Familie aus- und belastet. Bekannt ist, wie viel Munition und Waffen in den Trümmern und Ruinen lagen. Das war für Kinder natürlich ein besonderer Reiz damit zu spielen, wenn es ordentlich knallt. Auch in meiner Familie gibt es die Geschichte vom Vater der als Junge eine LKW-Ladung mit Munition unbrauchbar machte. Nur ist das nicht immer gut ausgegangen. Es gab niemanden, der Zeit hatte zu fragen, wo die Kinder sind und mit was sie sich die Zeit vertrieben. Kinder waren in der Zeit auf sich selbst gestellt – eine harte und lehrreiche Schule des Lebens.

Mich persönlich berührt das Foto sehr. Es ist nicht irgendein Bild aus der Nachkriegszeit. Es zeigt damalige Kinder, die hier in unmittelbarer Umgebung gespielt haben. In einer Straße, die ich kenne. Die eigentliche Szene des Kartenspiels ist real und gleichzeitig so unwirklich in dem Trümmerhaufen, in dem sie spielt. Schließlich zeigt sie auch die Bedingungen, in denen die Kinder von damals aufwuchsen. Weit entfernt von einer heilen Welt wie wir sie heute kennen. Automatisch gehen die Gedanken weiter, wie das Zuhause der Kinder wohl ausgesehen haben mag. Hatten sie eine Schule oder lag auch die in Trümmern. Hatten sie einen geregelten Tagesablauf? Was haben sie vorher erlebt? Waren ihre Familie noch vollständig? Was mussten sie alles verarbeiten? Was ist aus ihnen geworden und was machen sie heute? Wolf Hantschel ist Vater geworden und ist heute noch aktiver Opa, der erzählen kann! 😃

Eine andere kleine Erinnerung kam mir als ich das Bild sah: Als Kind wohnte ich mit meiner Familie in einer kleinen Stadt. In unmittelbarer Nähe lag ein Ruinengelände. Uns Kindern war es streng verboten dort hinzugehen, aber der Zaun hatte ein Loch. Natürlich haben wir dort Nachmittage verbracht. Einige Trümmersteine lagen so, dass sie eine wunderbare Höhle bildeten. Heute mag ich mir gar nicht vorstellen, was gewesen wäre, hätte sich ein Block verschoben. Ich kann mich aber an den Reiz und Spaß erinnern, an die Versunkenheit im Spiel mit meinen Freunden. Kinder brauchen das Spiel, brauchen die Möglichkeit in Rollen oder Welten zu versinken, die mit der Realität nichts zu tun haben. Brauchen es ganz besonders in schweren Zeiten. Kinder spielen immer … wie schön, wenn jemand da ist, der – mit oder ohne Bild – erzählen kann wie, was und wo er früher gespielt hat!

22 Kommentare zu “Sie spielen immer …

  1. Juliane Erler sagt:

    Ich wünschte, mein Ömchen würde noch leben und ich hätte noch öfter nach früher gefragt und ihre Geschichten aufgeschrieben…

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  2. Ein sehr guter Beitrag!
    Liebe Gruesse Monika

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  3. Wunderschön, und zum intensiven Nachdenken anregend, und an all die vielen Geschichten und Anekdoten erinnernd, die meine Mutter viele Jahre lang unermüdlich aus jenen Kriegs- und Nachkriegstagen erzählt hat, und immer noch erzählt (Früher hat mich das gelangweilt, heutzutage höre ich gerne ganz genau hin)…
    Herzliche Grüße!

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  4. Flowermaid sagt:

    … das Foto und die Erinnerungen zeigen, das Kinder keinen Luxus brauchen sondern Liebe und Raum für Fantasie… und der scheint mir Heute rarer denn jeh… wieder einmal ein nachdenklich machender Beitrag von dir, Anna
    Herzlichst ein Blumenkind!!!

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  5. gkazakou sagt:

    Ich hab mal deinen link „weltbeste Kita“ aufgemacht. Da steht was von Kinderläden und Aufsicht durchs Jugendamt. Das möchte ich richtig stellen. Unsere Kinder sollten lernen, sich selbst in der Gruppe zu regulieren. Wir Eltern stellten den Rahmen zur Verfügung. Das funktionierte ausgezeichnet. Das Jugendamt hatte keinerlei Aufsichtsfunktion. Das wäre auch ganz und gar gegen den Geist dieses Experiments gewesen. Mein Sohn (Jg 69) gehörte zunächst zu den Jüngsten (anderthalb) und schließlich zu den ältesten (sieben). Wir sorgten dafür, dass immer kleine Kinder hinzukamen, so wurde unser Kinderladen wohl der langlebigste von Deutschland. Eine Etage in einem besetzten ehemaligen Kinderkrankenhaus in Frankfurt-Ostend und ein Schrebergarten mit fester Blockhütte (Spende von Hochtief) waren die Räumlichkeiten (kein Laden). Es war fabelhaft. Eine sehr positive Erinnerung für alle. Aus der Zeit haben sich viele Freundschaften erhalten, sowohl zwischen Eltern als auch zwischen Kindern.

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    • Liebe Gerda, die gemeinte „weltbeste Kita“ ist kein Kinderladen und jemand vom Jugendamt habe ich dort nie gesehen. Du sprichst auf den Beitrag aus der Zeitung an, der von einer sehr rational schreibenden Redakteurin stammt, die nie in dieser Kita war. (Ich werde mal mit der Kollegin sprechen, ob wir den Beitrag nicht dort heraus nehmen). Die Kita Schlosskobolde ist bis heute sehr beliebt bei allen Müttern, die ich spreche. Meine Tochter – weltoffen, chaotisch, anders, in keine Schublade passend – hatte dort wunderbare Jahre, weil sie sich genau so entwickeln durfte und angenommen wurde, wie sie nun mal ist. Danach in der Grundschule fing ein unglaubliches Drama von „in die Schublade pressen“ an. Die vorher gelegte Basis durch das Elternhaus und die Kita war jedoch so stark, dass heute eine wunderbare junge Frau vor mir steht, woran nicht zuletzt die Montessori-Oberschule großen Anteil trägt. Meine Tochter hat mir gezeigt, dass ich sie begleiten darf – regulieren lässt sich so ein Kind nicht. So bleibt zum Schluss meine Zustimmung zu deiner Richtigstellung und die Treue zu dieser Kita! 🙂 Sei herzliche gegrüßt!

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  6. Anna-Lena sagt:

    Ich kann mich nur anschließen, liebe Anna – deinen Beitrag habe ich mit Freude gelesen. Nicht nur, dass auch mir das Bild der Kinder gefällt, auch der Hindenburgdamm ist mir bestens bekannt.
    Kann es nicht sogar sein, dass Kinder umso erfinderischer sind, was das Spielen anbelangt, wenn sie besonders wenig haben?

    Wie oft höre ich nach Wochenenden oder nach Ferien, wie langweilig doch alles war. Die heutigen Kinder haben viel, fast alles, möchte ich fast sagen, nur kaum Fantasie, sich die Zeit sinnvoll zu vertreiben.

    Eine gute neue Woche und liebe Grüße
    Anna-Lena

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    • Liebe Anna Lena, unbedingt – ich denke auch, je weniger Kinder zur Verfügung haben, desto mehr Fantasie entwickeln sie. Meine kleine Schwester spielte an der Fensterbank immer mit Buntstiften „Familie“ – jeder Stift war eine andere Person. Mir selber hat Papier ausgereicht und alle möglichen Welten zu erschaffen. Dabei hatten wir, wenn auch wenig (im Vergleich zu heute) Spielzeug. … was richtig ist, weiß ich aber auch nicht – bestimmt sind viele Kinderzimmer zu voll.

      Ich wünsche dir eine großartige Woche – eine sonnige, schöne, fröhliche … liebe Grüße Anna

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      • Anna-Lena sagt:

        Wir Kinder (Cousinen und ein Cousin) haben immer Schule gespielt, bei einer Großtante im Schlafzimmer, wenn die anderen Erwachsenen im Wohnzimmer waren.
        Papier,Stifte, ein paar Bücher, mehr brauchten wir nicht.
        Merkwürdig, dass von uns acht Kindern drei den Lehrerberuf erwählt haben, tz tz tz…..

        Ja, wir hatten auch wenig und ich bin auch der Ansicht, viele Kinderzimmer sind zu voll. Hier gilt unbedingt: weniger ist mehr!

        Auch dir eine gute Woche.
        Herzlich,
        Anna-Lena

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  7. Ludwig Hotop sagt:

    Was für ein toller Beitrag. Auf jedem Fall sind das Dinge die der Nachwelt erhalten bleiben sollten und deshalb ist es wichtig und richtig das du es aufgeschrieben hast.

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  8. Gudrun sagt:

    Liebe Anna,
    das ist eine gute Idee. Du hast nicht nur eine wunderbare Geschichte geschrieben, du hast auch angeregt, die eigenen Geschichten nicht zu vergessen. Ich werde den Faden aufgreifen.
    Danke.
    Sonntägliche Grüße von der Gudrun

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    • Dann bin ich sehr gespannt, Gudrun. Mich faszinieren die alten Geschichten immer wieder … nicht zuletzt, weil uns auch das Heute viel bewusster wird! Sonnige Grüße zurück! 😀 Ich freu mich auf deine Geschichten ….

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  9. Übrigens haben die Kinder schon mal einen Storch gesehen, wie der auf seinen langen Stelzen über den Acker läuft?
    Ich hatte zufällig die Gelegenheit, einige zu treffen in freier Wildbahn und konnte sogar ein kurzes Video von einem machen:
    https://4alle.wordpress.com/2016/05/20/der-storch-das-unbekannte-wesen/
    Störche hab ich als Kind noch erlebt und sie faszinieren mich heute noch!!
    Schönen Sonntag!!
    LG
    PJP

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  10. Trippmadam sagt:

    Das erinnert mich wiederum an etwas, das mein Vater erzählt hat. 1939 geboren, kam er mit seiner Mutter und dem jüngeren Bruder fast sofort nach Kriegsende in das zerbombte Frankfurt zurück. Gegen Ende des ersten Nachkriegssommers blühten auf den Trümmern plötzlich leuchtend gelbe Blumen, Goldrute, in meiner Familie auch heute noch despektierlich „Trümmerflora“ genannt. Für mich sind diese Pflanzen, so wie die auf den Trümmern spielenden Kindern, Symbol für ein Leben, das weitergeht, weil es nichts anderes als Weitermachen kennt.

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    • Was für ein schönes Bild … ja, das Leben geht immer weiter … manchmal kaum zu glauben! 🙂 Ich denke, viele Sachen sind mit Kriegserinnerungen belegt. Bei uns ist das die Graupensuppe, die mein Großvater nicht mehr essen konnte, weil es sie im Krieg zu oft gab. Dabei mag ich die so gerne. Schönen Sonntag!

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  11. Guten Morgen, liebe Anna! 🙂
    Was für ein toller Beitrag, vielen Dank!
    Habe auch einen schönen Tag. ❤
    Gruß Karen

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