Der Mensch neben uns …

Foto: © blvdone Fotolia.com

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Im Supermarkt vor der Kasse steht eine Frau, legt ihren Einkauf aber nicht auf’s Band und wartet. Hinter ihr kommt ein junger Mann mit zwei Gegenständen in der Hand. Obwohl er sehr abweisend und mürrisch schaut, fragt die Frau ihn, ob er vorgehen möchte. Die Kassiererin ist noch lange mit dem Einkauf, der schon auf dem Band liegt, beschäftigt. Nach einer Weile kommt die Tochter der Frau dazu und gemeinsam beginnen sie auch ihren Einkauf auf’s Band zu legen. Die Frau fragt den jungen Mann schüchtern, ob sie einen Stopper bekommen könnte. Erst da verwandelt sich sein Gesicht in ein strahlendes Lächeln und er meint, dass er sich schon wunderte, warum die Frau so einen großen Abstand zu ihm hielt. Sie unterhielten sich ein paar Sätze in sehr sympathischer Art und Weise bis jeder seiner Wege ging.

Auf dem Weg zum Auto erzählt die Frau ihrer Tochter, wie sehr sie sich in dem jungen Mann getäuscht hatte. Sie hielt ihn für den Prototypen eines Jugendlichen, der sich in arroganter Weise nicht für seine Umgebung interessiert. Dabei stellte er sich als offen, höflich und nett heraus. Sie musste noch lange darüber nachdenken, wie sie sich durch das Äußere des Mannes hatte täuschen lassen. Solche Situationen passieren oft und jedem von uns. Wir sitzen beispielsweise in einem Bus, jeder mit seinen Gedanken beschäftigt und beobachten die anderen Leute um uns herum. Manche Menschen bemerken wir kaum, andere interessieren uns, wieder anderer finden wir vielleicht unsympathisch und bei manchen versuchen wir möglichst unbemerkt zu bleiben. Bei vielen stellen wir uns vor, aus welchen Verhältnissen sie kommen, ob sie alleine leben, Arbeit haben, in ihren Familien glücklich sind. Die tatsächlichen Umstände der Lebensart der anderen gehen jedoch in der Anonymität der Großstadt unter und sind spätestens an unserer nächsten Haltestelle für immer vergessen.

Die Stadt, in der wir leben, stellt die Menschen vor eine Anonymität, die sie selber durchbrechen müssen. In Berlin sind es 3,5 Millionen Menschen und täglich werden es mehr. Man kann die Masse an Menschen wahrnehmen und sich ohnmächtig vor dieser Zahl beugen. Oder man macht sich bewusst, dass dies auch 3,5 Millionen einzelne Geschichten, Schicksale und Lebenswege sind. 3,5 Millionen mal könnte man ein Buch über einen Menschen schreiben und jedes Buch hätte einen eigenen individuellen Inhalt. Man stelle sich diese große Bibliothek vor. 300.000 Tausend dieser Menschen leben in Steglitz-Zehlendorf und auch in diesem Bezirk werden es täglich mehr. Es ist immer noch eine enorm große Zahl, aber es wird greifbarer, wenn man weiter in die Ortsteile hineingeht, die sich hier aus Lichterfelde, Steglitz, Zehlendorf, Lankwitz, Nikolassee, Dahlem und Wannsee zusammensetzen. Und auch die Ortsteile lassen sich weiter gliedern wie beispielsweise Lichterfelde, Ost, West oder Süd. So kommen wir immer weiter dem Ort näher, an dem wir selber leben, dessen Umfeld wir kennen und wo wir beginnen, den Menschen zu begegnen, die ein bekanntes Gesicht oder einen Namen tragen. Hier sind wir keine Zahl von 3,5 Millionen mehr, hier sind wir Nachbarn, Bekannte oder Freunde.

Und hier bekommt die Individualität der Menschen eine tragende Rolle, durch die jeder einzelne von uns zum Gemeinwesen beiträgt. Es sind Merkmale wie Nationalität, Religion, Alter, Geschlecht, Beruf, Interessen, Bildung und viele andere Dinge mehr, die uns einzigartig machen. Dabei spielen Hierarchien keine Rolle, ob der eine Arzt, der andere Müllmann, die eine Chefsekretärin und die andere Putzfrau ist. Alle gemeinsam machen eine funktionierende Gemeinschaft aus, jeder einzelne wird in dieser Gemeinschaft gebraucht und erfüllt seine Aufgabe. Je stärker, toleranter, offener und emphatischer diese Gemeinschaft ist, desto besser ist sie bei Problemen oder Widrigkeiten aufgestellt, die das gemeinschaftliche Leben nun einmal in sich birgt. Die Großfamilie der letzten Jahrhunderte gibt es nicht mehr. An ihre Stelle ist das soziale Leben in Gemeinden und Städten getreten, das in vielseitiger Form in Schulen, Vereinen, sozialen Trägern, kulturelle Begegnungsstätten, sportlichen Vereinigungen, Interessengemeinschaften und anderem ausgelebt wird. Der einzelne Mensch kann ohne Gemeinschaft nicht leben und jeder einzelne macht die Gemeinschaft aus.

Es ist hin und wieder recht hilfreich, sich selber klar zu machen, in welch einem Geflecht von Menschen wir leben und in welchen Abhängigkeiten, im positiven Sinne, wir zu ihm stehen. Jeder einzelne möchte akzeptiert, toleriert, in seiner einzigartigen Art und Weise angenommen sein. So sollte es nur recht sein, dass wir das, was wir für uns selber einfordern, auch bereit sind, anderen zuzugestehen. Anderen den Raum zu geben, sich zu entfalten, den wir auch selber für ein zufriedenes Leben benötigen. Anderen mit Interesse und Neugierde begegnen, die wir uns selber wünschen. Dem Bekannten, dem Freund und Fremden die Wertschätzung schenken, die wir selber erfahren möchten. Und ganz besonders auch schwächere Menschen unterstützen, wo ein Mangel offensichtlich wird. „Eine Kette ist nur so stark, wie ihr schwächstes Glied!“, heißt ein geflügeltes Wort. Ein Gedanke, den man vielleicht nicht nur zur Weihnachtszeit überdenken sollte. Stärkt man die Schwachen der eigenen Gemeinschaft, stärkt man auch die Gemeinschaft und letztlich sich selber.

Den Menschen neben uns wahrnehmen, mutig und für Gespräche bereit sein, über unsere eigenen Grenzen steigen, sind Möglichkeiten, die Anonymität aufheben und kleiner machen. Das hilfreichste und einfachste Mittel ist dabei ein offenes Lächeln, das – noch ein geflügeltes Wort – in jeder Sprache verstanden wird. Wenn wir vielleicht das nächste Mal an der Kasse zurückblicken und aufmerksam sind, uns nicht vom Äußeren täuschen lassen … geben wir den Menschen um uns herum genau das, was wir uns von ihnen wünschen. Dann wird selbst eine große Stadt sehr klein!

Leitartikel der Stadtteilzeitung Steglitz-Zehlendorf
Dezember 2015 – Januar 2016

zeit1215

5 Kommentare zu “Der Mensch neben uns …

  1. Flowermaid sagt:

    In einer Großstadt ist Lächeln mit Sicherheit ein positives Signal und so eine Art Herzenstüröffner… ein schöner Artikel darüber stehts neugierig auf Menschen zu bleiben. Liebe Grüße Rita 🙂

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  2. Anna-Lena sagt:

    Ich bin ab 14 Jahren in der Gropiusstadt aufgewachsen, meine Studentenbude war in Neukölln und später habe ich fast zwanzig Jahre in Charlottenburg gelebt. Trotz der Großstadt drumherum habe ich überall meinen kleinen Kiez gehabt, in dem ich mich auch wohl gefühlt habe. Den aber zu erreichen hat sehr lange gedauert.

    Nun lebe ich vor den Toren Berlins, wo alles etwas kleiner, familiärer und auch offener ist. Auch das hat seinen Reiz.

    Man kann den Menschen immer nur vor den Kopf schauen, um das „Dahinter“ sollte man sich täglich neu bemühen.

    LG Anna-Lena

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  3. martamam sagt:

    Hallo, ich mag Deinen Artikel sehr. Danke dafür. Zugegebenermaßen weiß ich die Anonymität in der Großstadt sehr zu schätzen. Ich stamme aus einer kleinen Stadt und fand es eher erschreckend, wie bekannt jeder meiner Schritte schnell war und wie sehr zB meine Großmutter ihr Leben lang darauf bedacht war, nur niemanden zu verärgern. Sie hat dabei auch ein großes Stück von ihrer Individualität aufgegeben. Das wollte ich nicht, deshalb führte mich mein Weg in eine Großstadt, in der ich jetzt sehr glücklich bin. Aber, und darauf passt Dein Beitrag jetzt sehr gut, ich lebe natürlich auch hier nicht gänzlich allein. Schon gar nicht mehr, seitdem ich Kinder habe. Wir haben viele Menschen um uns herum, die auf uns achten, die wir sehr mögen, denen wir helfen und die uns ebenso unterstützen und uns schätzen. Und das macht wieder die Großstadt aus, ich habe hier viele Chancen, Menschen zu finden, die mit uns auf einer Wellenlänge liegen und mit denen wir uns gerne umgeben. Dabei ist mir auch klar, wie schnell wir uns mal in jemandem täuschen können und daher unser Bild von jemandem eher vorsichtig entwickeln sollten. Das versuche ich auch, meinen Kindern mit auf den Weg zu geben. Ich mache mir aber keine Sorgen, denn sie werden so selbstverständlich mit vielen verschiedenen Denkweisen und Nationalitäten groß, wie es mir selbst in meiner Kindheit nicht vergönnt war. 🙂

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  4. nixe sagt:

    Mit großem Interesse habe ich deinen Artikel gelesen und spontan an die Sommerzeit gedacht, als man Kaffee trinkend vor einem Cafe saß und mit Blicken die Passanten taxierte. Wie vorschnell sortiert man die Menschen gern in Schubladen, in die sie gar nicht hineingehören, weil man kein Wort mit ihnen wechselt, und weil schon die ablehnende Mimik uns abschreckt.
    Der kleine innerliche Ruck, den man sich geben sollte, sich ein wenig zu öffnen, kostet lediglich ein Lächeln und räumt so manch Vorurteile
    aus.
    Ich wünsche dir einen fröhlichen Tag.
    Liebe Grüße von der NIxe

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  5. Elisabeth Berger sagt:

    ……ein schöner Artikel!
    Was wäre diese Welt für ein friedlicher Ort, wenn jeder Mensch so denken und handeln würde. Seinen Mitmenschen mit positiven Gedanken gegenüber treten zu können, ohne sofort zu werten, ist eine gute Sache. Oft scheitert man und ist enttäuscht, aber es lohnt immer, es versucht zu haben😊
    Interessant ist auch, wie oft doch ein Lächeln von wildfremden Menschen erwidert wird. Ich bin zwar auch wieder ein bißchen traurig, wenn ich dann nur einen mürrischen, bockigen Blick zurück bekomme. Aber diejenigen, die zurück lächeln, machen mir einen guten Tag☺️

    LG Elisabeth

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