So schnell geht das!

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Wir saßen auf dem kleinen Bootssteg im Garten der Schwiegermutter und genossen den Blick auf den See. Die eineinhalb-jährige Tochter schlief ruhig im Kinderwagen auf der Wiese, während wir uns über Zukunft und Pläne im Allgemeinen unterhielten. In dieser Unterhaltung fassten wir den Entschluss, ein zweites gemeinsames Kind zu bekommen und zehn Monate später wurden wir eine vierköpfige Familie – das zweite Kind war da. Alle Eltern können sich die bewegten Jahre vorstellen, die wir fortan mit Kita, Spielplätzen, Schule, Sportverein, Elternabenden, Ausflügen und vielem anderen verbrachten, die heimischen Entwicklungen mit eingerechnet. Intensiv bemüht bauten wir ein Gesamtkunstwerk auf, das den schlichten Namen „Erziehung“ trug. Je nach Tagesform und Stimmung es als Kunstwerk oder pädagogisches Experiment bezeichneten. Einen gefühlten Augenaufschlag später war das alles vorbei. Das Kind aus früher gefasstem Entschluss ist volljährig geworden und seine Eltern vom Erziehungsauftrag befreit. So schnell geht das!

Ich habe letzte Woche eine Entschuldigung geschrieben: „Lieber Herr Soundso, ich bitte das Fehlen meiner Tochter zu entschuldigen …“ und war mir vollkommen bewusst, dass es die letzte Entschuldigung für meine Kinder war. Ich unterschrieb eine Einwilligung beim Arzt und wusste, dass die nächste ihre eigene Unterschrift trägt. Ab jetzt bekomme ich keine Auskunft mehr über irgendwelche Steuernummern meiner Kinder und muss künftig bei verschiedenen Dingen belegen, dass unsere volljährigen Kinder noch vollständig auf unsere Kosten leben. Schülerausweis und Studienausweis haben nun einen gehobenen Stellenwert bekommen. Für die ein oder andere Erledigung werden wir eine Vollmacht ausstellen müssen. Das sind administrative Dinge, die einem am Anfang zwar befremdlich vorkommen, aber man gewöhnt sich daran. Der jahrelang gelebte Automatismus des elterlichen Kümmerns und Tuns hat ein Ende. Es hat ja eine sehr angenehme Seite, wenn Eltern einmal sagen können: „Nö, das musst du von jetzt an selber machen!“ Bleiben doch noch genügend hausinterne Aufträge übrig, die Eltern sehr wohl, trotz Volljährigkeit, für ihre Kinder weiterhin leisten dürfen.

Etwas schwerer als die administrative Seite ist die emotionale Seite. Hier muss ich zugeben, dass es mir sehr viel schwerer fällt. Eigentlich kenne ich es ja schon – es ist die zweite Tochter, die wir ins Erwachsenen-Leben entlassen. Aber diesmal ist es erstens die Jüngere und zweitens die letzte Tochter, die sich auf eigene Wege macht. Die Mutterrolle in bisheriger Form ist unwiederbringlich vorbei. Emotional werden wir wohl noch eine ganze Weile an dem richtigen Maß von Interesse und Kümmern herumdoktern. Letzte Woche fragte die Tochter mich, ob sie bei einer Freundin schlafen darf. Ich schaute sie an und fragte nur, ob sie mich das nächste Woche auch noch fragt. Vorgestern sagte ich zu ihr um 23 Uhr, dass sie langsam schlafen gehen sollte. Postwendend kam die Anmerkung, dass sie wohl alt genug sei, dies selber einzuschätzen. Wir werden uns also beide je nach Situation und Laune, die Dinge so zurechtlegen, wie wir sie gerade brauchen. Frage ich sie morgens, ob sie ihren Schlüssel dabei hat, bekomme ich eine genervte Antwort. Ruft sie mich mittags im Büro an, weil sie Zuhause nicht rein kommt, da der Schlüssel verschwunden ist, bekommt sie eine genervte Antwort. Für solche Dinge gibt es unzählige Beispiele in denen das „schon groß genug“ oder „noch nicht erwachsen genug“ harte Auslegungssache sein wird. Eltern werden ja mit volljährig – früher oder später … und lernen!

Der eigentliche Erziehungsauftrag ist in Wirklichkeit schon lange vor der Volljährigkeit der Sprösslinge abgeschlossen. Spätestens mit einsetzen der Pubertät werden die jungen Leute erziehung-resistent. Jeder Elternteil erlebt den Moment, in dem er den Nachwuchs beobachtet und in Kleinigkeiten feststellt, dass das eben Gesagte, die Mimik oder Geste von einem selber hätte sein können. Peu à peu wird einem klar, dass die Bagage kopiert – den eigenen Tonfall, der Ausdruck, die Art und Weise das Frühstücksei aufzuschlagen oder einen Brief aufzureißen. Schlimm ist dabei, dass sie natürlich nicht nur unser vorbildliches Verhalten kopieren, sondern eben auch alle unbewussten Unarten und uns so auf unangenehmste Weise vor einen schmerzhaften Spiegel stellen. Allerspätestens das ist der Moment, in dem wir begreifen müssen, dass erziehen von nun an zwecklos ist, sondern Vorleben der eigentliche Erziehungsinhalt sein sollte. Blöd ist nur, dass wir den Erfolg des Vorlebens erst viele Jahre später, wenn denn überhaupt, auskosten dürfen. Also auch nie wirklich sicher sein können, dass wir es richtig machen.

Ganz falsch scheinen wir dennoch nicht gelegen zu haben, denn – der Nachwuchs klebt nach wie vor am heimischen Herd und macht nicht die geringsten Anstalten eigene Wege zu suchen. Ich gehe hier mal optimistisch davon aus, die Ursache dafür nicht nur in der Kostenersparnis und dem stets vollen Kühlschrank zu finden. Der immer erreichbare Fahrdienst fällt wohl auch ins Gewicht. Erkläre ich heute noch großspurig, dass Hotel Mama für uns nicht in Frage kommt, bin ich wahrscheinlich – wenn es dann soweit ist – ein Häufchen Elend, dass dem Ende der Welt nahe zu sein scheint. Ein Haus ohne Kinder ist noch unvorstellbar – oder doch? Nun – bis dahin ist noch viel Zeit – oder ist doch nur ein Augenblick, so wie wir ihn gerade erlebt haben – die letzten 18 Jahre?

Manchmal gibt es sie – Momente in denen mein Gatte und ich beim Spaziergang auf einer Bank sitzen und uns vorstellen, wie das später sein wird. Nur er und ich – allein – mit Hund und Katze, mit von morgens bis abends aufgeräumtem Haus. Mit Kühlschrank, in dem man nie etwas sucht, dass plötzlich verschwunden ist. Mit Scheren, die immer am richtigen Ort liegen oder Toilettenpapier-Rollen, die nie leer sind. Schuhe, die nur an den Füßen oder im Schuhregal zu finden sind. Ladekabel, die außer das eigene Handy keiner gebrauchen kann. Eine langweilige Küche in der nie etwas rumsteht, dass man in den Geschirrspüler stellen kann. Wie gesagt, noch sind dies Momente – kleine Traum-Sequenzen, von denen ich heute noch nicht sicher bin, ob ich mich auf sie freue oder sie fürchte. Die Realität holt uns immer ziemlich schnell wieder ein, wenn mein Handy piept … Nachricht vom Nachwuchs, der fragt, was der Abendbrot-Tisch zu bieten hat. Spaziergang beendet!

Der springende Punkt, ist alles in allem, das Loslassen. Gelassenheit aufbauen und die Kinder ihren Weg gehen lassen, den ich nicht aufhalten werde. Mehr noch den je, sie ihre eigenen Erfahrungen machen lassen. Da sein, wenn sie mich brauchen. Unterstützen, wo sie es möchten, aber stets im Hintergrund bleiben um ihrer Entwicklung nicht im Wege zu stehen. Sie werden ihren Weg machen, dessen Grundlagen wir gestaltet haben und ich muss vertrauen, dass sie ihre Möglichkeiten nutzen. Ihnen zuliebe loslassen und meinen eigenen Plan, im Einklang mit dem Gatten, neu definieren und Begeisterung aufbauen für neues, das jenseits der Kindererziehung liegt. Alte Vorlieben, die viele Jahre im Hintergrund warteten, wiederbeleben. Bewusst, neugierig und frei Dinge erleben, die erstmalig seit etwa 20 Jahren nicht die Kinder im Fokus haben. Schaffe ich das, werden auch meine Kinder entspannt die nächsten Schritte der jungen Erwachsenen durch Ausbildung, Berufsleben, Partnersuchen und später eventueller Familiengründung gehen … und – wiederkommen – immer wenn sie es brauchen.

Spätestens dann werden der Gatte und ich wieder auf einer Bank sitzen, uns liebevoll daran erinnern, wie es war als die beiden kleine Kinder waren. Uns vorstellen, wie es sein wird, wenn die Enkel am Wochenende erneut das Haus erobern, den Kühlschrank plündern, die Scheren verlegen, Toilettenrollen leer zurücklassen, Schuhe verteilen, Ladekabel umstecken, die Küche verwüsten … und uns freuen, dass es ‚nur‘ ein Wochenende ist, an dem wir auch noch jegliche elterliche Erziehung aushebeln dürfen! 🙂

21 Kommentare zu “So schnell geht das!

  1. mmuenzl sagt:

    Hat dies auf mmuenzl rebloggt.

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  2. Elisabeth Berger sagt:

    Du hast mir ganz aus dem Herzen gesprochen, mit jedem Wort!
    Unsere beiden sind jetzt schon ein paar Jahre aus dem Haus. Sie haben nach dem Studium schnell Arbeit gefunden, mußten aber aufgrund der Entfernung vom Heimatort eigene Wohnungen nehmen. Am Anfang konnte ich mir das Weinen nicht verkneifen, als sie nach den Wochenendbesuchen wieder abfuhren. Jetzt ist es so, daß ich mich wieder auf meinen lieben Mann konzentriere, der die ganzen Jahre nur die dritte Geige spielte. Der Nachwuchs war immer im Vordergrund. Wenn die beiden jetzt nach den Wochenendbesuchen wieder fahren, versorgt sind mit Fressalien und sauberer Wäsche, winken wir Ihnen nach. Und dann gehen wir wieder ins Haus und legen uns ein Stündlein auf die Couch und finden die Ruhe gar nicht so schlecht :-))
    Danke für deine schönen Berichte!

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    • So stelle ich mir das auch vor: Erstmal ein bisschen mit dem Schicksal hadern und weinen, was das Zeug hält und dann mit der Zeit feststellen, dass es durchaus schön ist, wenn wieder Ruhe im Haus ist! 😉 Naja, ein kleines bisschen haben wir die beiden ja noch bei uns. Zum Glück ist auch diese Abnabelung ein Prozess, der nicht von heute auf morgen kommt. Nach den vielen Jahren in der zweiten Reihe haben sich die Herrlichkeiten unsere volle Aufmerksamkeit ja auch verdient! 😀 Liebe Grüße!

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      • Elisabeth Berger sagt:

        ……sehr lieben Gruß von der Herrlichkeit, der deine Zeilen sehr begrüßt hat😉
        Ja, wenn ihr eure beiden noch ein bißchen da habt, könnt ihr es schön langsam angehen lassen – das ist prima😊
        Lieber Gruß💐

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  3. merlanne sagt:

    Nun, unsere Kinder sind noch nicht so weit, flügge zu werden und doch finde ich mich in Deinen Zeilen wieder, wenn es um erziehungsresistente Pubertierende geht oder um das in jeder Lebensphase so schwierige Loslassen. Ich glaube das Loslassen und die neu gewonnene Freiheit mit Leben zu füllen, den Blick nach vorne nicht zu verlieren, das ist eine der schwierigsten Aufgaben, die wir so als Eltern zu meistern haben (neben vielen anderen während des Aufbaus des „Gesamtkunstwerkes“). Ich geniesse momentan den Blick auf die Entwicklung unserer beiden vom Kleinkind zum Jugendlichen und muss, neben dem „Pubertätsärger“, immer wieder mit Erstaunen feststellen, welch interessante Persönlichkeiten sich hier entfalten.
    Liebe Grüsse,
    Claudine

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    • Und hier finde mich in deinen Zeilen wieder, denn der Prozess des Loslassens setzt ja tatsächlich mit der Geburt ein. Aber – wenn man verinnerlicht, dass diese Schätze schon mit der Geburt Persönlichkeit entwickeln, kann der weitere Weg auch kaum schief laufen. Ich genieße bis heute jede Phase ihrer Entwicklung und empfinde es tatsächlich als mein größtes Geschenk, dass ich die Wege meiner Kinder begleiten darf! Liebe Grüße zum Wochenende! 😀

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  4. Nacho sagt:

    Ja, das Loslassen fällt nicht leicht! Das haben wir bei unseren Beiden auch zum Teil schmerzhaft erfahren müssen. Inzwischen freuen wir uns sehr über Anrufe wie „Papa, kannst du bitte mal…“ oder „Mama, weißt du, wie…“. Dann weiß man/frau, dass man/frau doch noch gebraucht wird! 😀
    Nachos Leinenhalter Achim

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    • Lieber Achim, ich durfte letzte Woche sogar die „Große“ mit ihren 20 Jahren noch in einer Situation „retten“ … und es ist ein schönes Gefühl, dass man durch das „richtige“ Loslassen eigentlich doch mehr Nähe erreicht. (Auch wenn’s an manchen Stellen doch kneift!) 😀

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  5. Flowermaid sagt:

    Sie gehen…
    und für alle beginnt etwas Neues… 😀

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  6. Anna-Lena sagt:

    Das hast du wunderbar reflektiert und ich bin sicher, du wirst auch voller Liebe loslassen können, wenn es soweit ist. Sicher wird das eine Umstellung für euch, aber du bist scheinbar jemand, für den es das Wort Langeweile nicht gibt. Und das Leben hat auch ohne Kinder am Rockzipfel so viele Herausforderungen bereit.

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  7. Ich wage zu sagen, die wahre Volljährigkeit beginnt, wenn die eigenen 4 Wände bezogen werden. Aus der eigenen Tasche das Leben finanziert. Bis dahin noch ein langer Weg sein kann. Die Zeit der Wehmut somit schmerzlich lange. Wenn es dann soweit ist. Man ewig Mutter bleibt. Gebraucht wird. Einfach auf eine andere Art. Ich rede aus Erfahrung. Aus der Sicht eines volljährigen Kindes.

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  8. Suse sagt:

    Ich habe noch ein bißchen hin, aber es wird sicher hart, wenn Eine nach der Anderen das Haus verlassen wird.
    Viele Grüße
    Suse

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  9. Andrea Bentele sagt:

    Du hast Recht. Loslassen ist nicht so einfach. Gerade beim „letzten“ Kind nicht. Unser Sohn ( 7 Jahre älter als seine Schwester) lebt jetzt schon seit 4 Jahren nicht mehr zu Hause. Erst hat er in Berlin studiert und jetzt hier. Es ist mir damals relativ leicht gefallen, ihn ziehen zu lassen (auch wenn ich hin und wieder ein Tränchen verdrückt habe). Das mag aber auch daran gelegen haben, dass wir ja noch eine „Kleine“ zu Hause hatten. Die ist jetzt aber seit August für ein Schuljahr in den USA und *peng*, das hat mich umgehauen. Auf einmal waren nur noch wir hier und die Situation wieder völlig neu und ungewohnt. Der Gatte ist eigentlich immer der häuslichere und fürsorglichere Teil von uns gewesen und manchmal kommt es mir so vor, als würde er die Fürsorge, die jetzt ja kein kindliches Ziel mehr hat, auf mich übertragen (pass auf, dass du nicht stolperst :))
    Aber, es ist auch sehr schön einfach mal wieder zu zweit alleine zu sein, Urlaube ohne Rücksicht auf irgendwelche Ferien planen zu können und sich einfach mal völlig unvorbildhaft gehen lassen zu können, wenn einem danach ist.
    Gleichwohl sehne ich den 17.06.2016 herbei. An diesem Tag wird meine dann 17 Jahre alte „Kleine“ wieder bei uns sein.

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    • Auweia … die häusliche Fürsorge des Gatten habe ich ja noch gar nicht bedacht! 😉 Da muss ich wohl schwer aufpassen! Ich habe mitbekommen, wie meine Schwester gelitten hat, als ihr Sohn 1 Jahr Australien unsicher gemacht hat, aber auch den Stolz in ihren Augen gesehen, als er wieder da war. Es hat hat alles zwei Seiten … Mama allein Zuhause – bleibt keinem von uns erspart – früher oder später! 😉

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