Zum Leben zu müde, zum Sterben zu schwach …

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Sie hebt ihre Hände hoch, schaut auf den kleinen Schlauch an ihrem Handgelenk und fragt, für was der ist. Ich erkläre ihr, dass darüber Flüssigkeit in ihren Körper kommt, weil sie krank ist und sie wieder gesund werden muss. Dafür bekommen ich einen verständnislosen Blick. Um die Situation zu überspielen, erkläre ich ihr weiter, dass es jetzt Frühling wird. Erzähle ihr, dass alle Vögel zurück kommen und sie im Frühling doch so gerne draußen ist. Dann wird ihr Blick wieder milde und wandert weiter … Das machten wir seit fast 5 Stunden und alle paar Minuten fragte sie mich wieder, für was der Schlauch an ihrem Handgelenk ist.

Wir freuten uns auf ein ruhiges Wochenende. Ohne Verpflichtungen und ohne Kinder, die zu einem Hockeyturnier gefahren waren. Es kam anders. Gegen Mittag kommt ein Anruf aus dem Seniorenheim, dass es der Schwiegermutter nicht gut ginge und man sie in ein Krankenhaus bringen wollte. Nach fünf Minuten, wir wohnen 200 Meter entfernt, waren wir dort. Sie schlief, aber selbst der schlafenden Frau war anzusehen, dass es nicht gut stand. Beim Transport wurde sie teilweise wach, ob sie uns wirklich erkannte ist unsicher. Auch später als wir warten mussten dauerte es recht lange, bis sie wirklich realisierte, dass wir anwesend und bei ihr waren. Nach relativ kurzer Zeit holte uns ein Arzt zur Untersuchung, ließ sich die Umstände erzählen, fragte nach Verfügungen und Vollmachten und begann mit der ersten Untersuchung. Wieder einmal waren wir froh, dass wir spontan die Papiere mitgenommen hatten. Schließlich erklärte er uns die weiteren Untersuchungen, die notwendig waren. Dann stellte er das erste Mal die belastende Frage, welche lebenserhaltende Maßnahmen gemacht werden sollten. Mein Mann und ich schauten uns kurz an, bis er antwortete „Keine!“ Der Arzt ließ aber nicht locker, fragte, ob ein Infekt behandelt werden dürfe, was mit Herzbehandlungen wäre und einiges andere, bis er zufrieden war. Schließlich mussten wir auf weitere Untersuchungen warten.

Wir waren beide in Gedanken, immer mit dem Blick auf die ruhende Patientin. Waren in Gedanken bei der gesunden Frau, die sie noch vor einem Jahr war, wanderten zu dem Tag ihres Infarkts, zu der Reha, zu der Erkenntnis, dass sie nicht mehr alleine lebensfähig war. Zum letzten gemeinsamen Tag in ihrem Haus, zu der Zeit in der sie sich im Seniorenheim zurechtfinden und wir uns mit Demenz auseinander setzen mussten. Die ersten Wochen waren schwer, aber auch an Demenz, an gemeinsame kleine Spaziergänge und an Unterhaltungen in einer Endlosschleife, kann man sich gewöhnen. An immer wieder gleiche Fragen, kleine Rituale und Begebenheiten, die einem doch ein liebevolles Lächeln entlocken. Und trotzdem schaut man zu, wie ein geliebter Mensch immer weniger, zarter, kleiner, transparenter wird. Und weil man nicht weiß, wie lange dieser Zustand dauern wird, schwankt man ständig zwischen der Dankbarkeit, gemeinsame Zeit verbringen zu können und dem Wunsch, es möge doch wieder wie früher sein. Es wird nie mehr wie früher.

Es wird schwieriger und nun kommen andere Krankheitssymptome hinzu. Wir haben gesehen, dass sie zerbrechlicher wurde. Haben bemerkt, dass der Kopf immer weniger leisten konnte, dass ihre Erinnerungen schwächer und entfernter waren. Und wenn sie für wenige Momente einmal im Jetzt war, haben wir ihre Befürchtung, was sie für eine Belastung für uns wäre, entkräftet. Immer öfter hat sie geäußert, dass es doch besser wäre, wenn sie sterben würde. Das haben wir versucht zu ignorieren, aber das sagt sie nun auch im Krankenbett, wenn sie für einen kurzen Moment bei uns ist. Sie will einfach nicht mehr, ist des Lebens müde, möchte Ruhe und ihren Frieden haben. Und wir – wir sind nun soweit, dass wir ihr wünschen, ihr Wunsch möge erfüllt werden.

Belastend ist die Frage der Ärzte, was für Maßnahmen noch getroffen werden sollen, damit sie wieder gesund werden kann. Ein Harnwegsinfekt, eine Lungenentzündung und ein Schlaganfall stehen zur Auswahl. Es ist die eine Sache, alle Vorsorgepapiere auszufüllen, die Kreuze an die richtige Stelle zu machen und zu verfügen, dass ein anderer Mensch entscheiden soll, welche lebensverlängernde Maßnahmen getroffen werden sollen oder eben auch nicht. Diese Papiere haben uns immer sehr geholfen, entscheiden zu können. Eine ganz andere Sache ist es vor einem Arzt zu stehen und diese Entscheidung zu treffen. Zum Glück ist es in unserem Fall eindeutig und oft kommuniziert. Sie selber hat es verfügt, festgeschrieben und uns oft gesagt, das sie alles ablehnt, was sie künstlich am Leben hält.

Aber sie ist nun mal die Mutter, die Schwester, die Schwiegermutter, die Oma. Wir möchten festhalten – wissen aber, dass dies nicht mehr richtig ist. Der Wunsch, dass sich ihr Wille erfüllt und sie Frieden findet, wird immer stärker. Wir reden viel miteinander, müssen diese Situation gemeinsam bewältigen, kämpfen mit der inneren Zerrissenheit und wissen doch, dass es so kommen wird. Und wann? In Stunden, Tagen oder Monaten? Er kommt – der Frieden, den sie sich wünscht – bis dahin werden wir weiter machen … Leben, Arbeiten, Reden, Nachdenken – aber auch Lachen, Freude empfinden, das Miteinander genießen und erinnern uns an die vielen gemeinsamen Jahre – mit einer einst starken Frau.

Am nächsten Tag ein weiterer Anruf. Sie ist aus dem Krankenhaus entlassen worden und wieder im Seniorenheim. Innerhalb kürzester Zeit sind wir bei ihr – fassungslos, dass so eine schnelle Wende möglich sein soll. Gestern noch zum Sterben bereit und heute wieder entlassen. Sie liegt wieder in ihrem Bett, erkennt uns sofort, setzt sich mit Hilfe auf und redet mit uns … immer die gleichen Fragen. Sie sieht immer noch nicht gut aus, ihr Atem rasselt, aber es ist möglich ihr ein Lächeln zu entlocken. Im Schwesternzimmer lasse ich mir den Entlassungsbericht geben. Unter vielem anderen steht dort: „Auf Wunsch der Patientin erfolgt eine rasche Rückverlegung in die gewohnte Umgebung der Pflegeeinrichtung!“ … wir sind sprachlos. Wie kann man einen dementen Patienten auf eigenen Wunsch entlassen, der zwei Minuten später davon nichts mehr weiß? Will sie nun leben oder sterben? Wir sind durcheinander.

Gut, alles geht wieder seinen gewohnten Lauf … wir werden sie beobachten, besuchen, unterstützen, betreuen … alle Auf und Ab’s mit ihr durchleben, ihre Fragen beantworten und mit ihr lachen, wenn es geht. Wir sind dankbar für unseren Alltag, die Arbeit, die Kinder, die uns ablenken. An ihrem Handgelenk trägt sie immer noch das Plastik-Armband aus der Klinik mit ihrem Namen drauf … es sieht aus wie das bei der Geburt eines Kindes … das ist der Lebenskreislauf. Und das Leben fragt nicht, wie es uns geht, es geht immer weiter – dafür bin ich besonders dankbar!

11 Kommentare zu “Zum Leben zu müde, zum Sterben zu schwach …

  1. maribey sagt:

    Bewegende Zeilen, liebe Anna, wie gut, dass sie euch in der Nähe hat und wir ihr das gemeinsam meistert!

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  2. merlanne sagt:

    Liebe Anna,
    Emotionsgeladen lese ich Deine Zeilen, es kommen Erinnerungen auf, an Erlebtes mit meinen beiden Großmüttern und auch die an meine im Sommer verschiedene Schwiegermutter. Der Lauf der Dinge ist fast immer gleich, die Fragen und Ängste dieselben, entscheiden muss man selber. Doch ich denke jede Entscheidung, die verhindert, dass ein lieber Mensch lange, sehr lange leiden muss, ist gut. Wie ich schlussendlich einmal entscheiden werde, sollte ich es müssen, weiß ich jedoch nicht.
    Ich wünsche Euch weiterhin Mut und Kraft.
    Liebe Grüsse,
    Claudine

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  3. Die Schwiegermutter kann sehr glücklich sein, euch zu haben.

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  4. wederwill sagt:

    Liebevolle Worte über einen geliebten Menschen! Und wie schön, wenn man sie über die Schwiegermutter sagen kann. Meine Schwiegermutter ist sehr plötzlich verstorben und ich denke voll Dankbarkeit und oft und gern an sie.
    Hertliche Abendgrüße sendet
    Marlis

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    • Liebe Marlis, ich habe eine sehr bewegte Geschichte mit ihr und durfte sehr viel von ihr lernen. Außerdem war sie immer eine fantastische Oma … schon allein dafür verdient sie es, dass wir jetzt unser Bestes in ihrem Sinne geben! 🙂 Herzliche Grüße!

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  5. Elvira sagt:

    Ich musste vor einigen Jahren ad hoc eine Entscheidung treffen. Meine Mutter, 80 Jahre, war eine sehr selbständige und schicke Frau. Sie lebte alleine und liebte ganz besonders ihren Garten, in dem sie mit den Blumen um die Wette zu blühen schien. Nach Weihnachten rief sie mich nachts gegen drei Uhr an. Sie hatte so schlimme Kopfschmerzen, ob ich nicht ein starkes Schmerzmittel rüberbringen könne. Mein Mann lag zu der Zeit mit einer Herzmuskelentzündung im Krankenhaus. Als ich meine Mutter auf dem Sofa sah, wusste ich, dass es keine normale Kopfschmerzen sein konnten. Sie konnte nicht mehr aufstehen. Ich rief die Feuerwehr, ging in meine Wohnung zurück, nachdem meine Mutter fort war und verständigte Nachbarn, damit sie sich um meinen Hund kümmern könnten. Noch während dieser Zeit rief mich die diensthabende Ärztin aus der Rettungsstelle an und fragte, ob meine Mutter eine Patientenverfügung habe. Nein, hatte sie nicht. Ob ich wüsste, wie sie entschieden hätte. Ich fragte, was meine Mutter überhaupt hätte. Sie hatte ein geplatztes Aneurysma, war bereits komatös im Krankenhaus eingetroffen. Außerdem wäre sie vom Alter aus dem Zeitfenster einer OP heraus (dieser Satz hat sich in mein Gedächtnis eingebrannt!). Man könne sie jetzt an lebenserhaltene Apparate anschließen, aufwachen würde sie aber nicht mehr. Ich netschied mich gegen die Apparate, rief ein Taxi und fuhr ins Krankenhaus. Ca zwei Stunden saß ich noch an ihrem Bett, habe ihre Hand gehalten und mit ihr geredet. Dann hörte sie auf zu Atmen.
    Mein Mann und ich haben alle Verfügungen in doppelter und dreifacher Ausführung. Unsere Kinder haben alle Vollmachten. Was wir ihnen an Entscheidungshilfen an die Hand geben konnten, haben wir gemacht. Dennoch wird ihnen sicherlich die allerletzte Entscheidung schwerfallen.
    Liebe Grüße,
    Elvira

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    • Liebe Elvira, solch ein Erlebnis wünscht man wirklich niemanden – wenigstens konntest du Abschied nehmen. Wir haben auch alle Papiere für uns gegenseitig fertig und bereit und mit den Kindern besprochen. Ich kann es nur empfehlen. Es tröstet ja nicht, aber hilft ungemein so wie Anna-Lena schreibt im entscheidenden Moment die richtige Entscheidung treffen zu können … sonst tun andere das für einen. Herzliche Grüße!

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  6. Anna-Lena sagt:

    Wir hatten ähnliches mit meiner Schwiegermutter im Dezember. Als wir ins Krankenhaus kamen, war ich überzeugt, sie übersteht die Nacht nicht. Lungenentzündung, Wasser im linken Lungenflügel, dazu diverse andere Dinge und fast 94.
    Nach ihrer Entlassung haben wir sie ins Pflegeheim gebracht, da will sie mal sterben und dann wieder leben, es ist ein Auf und Ab.
    Auch wir haben ihre Patientenverfügung.

    So lange jemand nicht unnötig leiden muss und Schmerzen hat, sollte man ihm die Chance geben, sich vom eigenen Leben zu verabschieden.

    Ich wünsche euch viel Kraft und Mut, im entscheidenden Moment die richtige Entscheidung – ganz in ihrem Sinn – zu treffen.

    LG Anna-Lena

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    • Liebe Anna-Lena, gerade im letzten Satz sprichst du genau das aus, was wohl die größte Verunsicherung auslöst. Völlige Gewissheit wird man wohl nie haben … Hoffen, dass es das Richtige ist. Lieben Dank!

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