Ich hab’s verstanden, Frau Giese!

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„Wenn man ein Kind bekommt, steht man in den nächsten 20 Jahren in der zweiten Reihe!“ Das war immer mein Lieblingssatz bei Diskussionen, in denen es darum ging, was Mütter alles für ihren Nachwuchs tun und aufgeben. Wir sind im Schnitt 20 Jahre die Hauptversorgungsquelle für unsere Kinder. Jahre in denen wir mehr oder weniger eigene Bedürfnisse hinten anstellen (müssen). Eine Zeit in der wir alles tun, um unsere Kinder (nach unserer Vorstellung) gut zu erziehen und auf ihr eigenständiges Leben vorbereiten. Das diese 20 Jahre auch ein Ende haben, habe ich bisher nicht wirklich bedacht. Das hat mir jetzt Frau Giese klar gemacht.

Die Geschichte hat mit ganz vielen E-Mails angefangen. Das Töchterchen brauchte ein Praktikum für die Schule und die Mutter ist davon ausgegangen, dass das weiter kein Problem ist. Undenkbar, dass dieses gute Kind keinen Platz bekommen würde. Hat ja bisher immer geklappt. Bis das Kind eines Tages von der Schule nach Hause kam und verkündete, dass der Praktikumsvertrag in 1 ½ Wochen abgegeben werden müsse. Dazu sei erwähnt, dass das Kind schon viele Anfragen alleine losgeschickt hatte, leider ohne Erfolg. Nun kam die Mutter in die Spur, verfasste siegessicher einen schönen Text und bewarb das Kind bei mehreren interessanten Stellen. Das hat auch nicht geklappt – es war zu spät und die Plätze besetzt. Die E-Mails mit Absagen kamen zurück – eine nach der anderen. Doch eine dieser E-Mail-Absagen war mit einem P.S. versehen und das gab der Mutter schwer zu denken.

Frau Giese von einem sehr namhaften Berliner Kindertheater schickte eine freundliche Absage. Gut, damit hatte ich gerechnet, nicht jedoch mit dem P.S. Frau Giese schrieb: „PS: Ich verstehe, dass Schüler sehr beschäftigt sind. Trotzdem ist es wirklich sehr ungewöhnlich, dass die Eltern die Bewerbung schreiben … Mit 17 sollte Ihre Tochter in der Lage sein, sich selber zu bewerben, das tun die 13- und 14 Jährigen, die wir üblicherweise als Schülerpraktikanten haben auch immer. Seien Sie sich aber sicher, dass dies nicht der Grund der Absage ist …“ Das saß! Im ersten Moment stutzte ich, aber so ziemlich gleich danach, machte sich ein ziemlich breites Grinsen bei mir bereit. Oh ja, Frau Giese, Sie haben so recht und ich hab’s verstanden – nur habe ich mir bis zu diesem Punkt nicht wirklich bewusst gemacht, dass meine Kinder alleine laufen können!

Realistisch gesehen ist die Beziehung zwischen Mutter und Kind von Anfang an von zwei Dingen bestimmt: Das eine ist der natürliche Instinkt der Mutter von Geburt an, alles dafür zu tun, dass es dem Kind gut geht, es sich optimal entwickeln und auf sein erwachsenes Leben vorbereiten kann. Das zweite ist der Ablösungsprozess, der im Grunde genommen mit der Geburt einsetzt. Beide Vorgänge arbeiten gegengleich. Das Kind entwickelt sich in die Selbstständigkeit von der Mutter weg. Die Mutter sollte sich ebenso in Richtung Loslösung entwickeln, was in Anbetracht der jahrelangen Versorgungsrolle, die sie hat, sehr in den Hintergrund tritt. Ist der Zeitpunkt dann da, wird er oft verkannt, dies insbesondere, wenn Mütter sich nicht rechtzeitig wieder eigener Bedürfnissen und Interessen erinnern. Der Tag, der Moment in dem einem das klar wird, kommt – und wenn es in Form einer E-Mail ist.

Ein Erlebnis, das so einen Ablösungsprozess deutlich macht, ist mir sehr in Erinnerung geblieben: Meine Kinder, zweieinhalb und fünf Jahre, hatten gemeinsam einen Brief für ihre Oma geschrieben. Der fertige Brief musste zum Briefkasten und „zu schnell“ gab ich meine Erlaubnis, dass beide alleine dorthin gehen dürfen. Es war das erste Mal, dass meine Kinder alleine und zusammen aus dem Haus gingen. Der Briefkasten ist etwa 500 Metern entfernt. Dazu mussten sie eine kleine Straße und eine riesengroße, zweispurige Kreuzung überqueren. Sie gingen fröhlich und gut gelaunt los und es wurde die schlimmste Viertelstunde in meinem bisherigen Mütterdasein. Wie krank tigerte ich zwischen Garten und Wohnzimmerfenster hin und her und fragte mich, warum sie nicht längst zurück waren. Die schlimmsten Vorstellungen und Gedanken kamen mir in den Sinn. Mein Gatte, dem mein Gejammer gehörig auf die Nerven ging, meinte nur lapidar „Dann geh doch hinterher!“ und genau das, wusste ich, durfte ich nicht tun. Sie kamen nach Hause, stolz und wunderbar gelaunt. Ich lobte und hoffte, dass sie meine Skepsis und Angst nicht gemerkt hatten.

So ging das weiter, mit Kitareisen, Reisen zu der Oma, Klassenfahrten und vielem mehr. Nicht nur die Kinder lernten, sich alleine zu bewegen und in der Welt zu behaupten. Die Mutter lernte loslassen – langsam … Dabei stellten sich die Kinder zweifelsohne besser als die Mutter an. Als ich die „Kleine“ von einem Arztbesuch abholen musste, stellte ich auf der Autobahn fest, dass eine Ausfahrt gesperrt war. Das bedeutete einen Umweg, der Pünktlichkeit unmöglich machte. Ich wusste, dass das Kind kein Handy dabei hatte. Panik machte sich wieder bei mir breit, was sie tun würde, wenn ich nicht rechtzeitig da bin und sie rette. Bis meine „Große“, die mit im Auto saß meinte, dass die „Kleine“ fragt, wo wir bleiben. Mittels IPod hatte sich die „Kleine“ in ein WLan Netz eingewählt und über ihr Musikgerät Kontakt zu uns aufgenommen. Soviel zu den hilflosen „Kleinen“, die sich mittlerweile besser im WLan-, Berliner Bus- und Bahnnetz bewegten, als ihre Mutter es jemals könnte.

Besonders schwer waren Situationen, in denen die Kinder Streit mit anderen hatten und mir verboten, einzugreifen. Sie haben so vieles gemeistert und immer wieder musste ich zugeben, dass sich Stolz bei mir einschlich, wie eigenständig und selbstbewusst sie sich in ihrer Welt bewegen. Das hat auch eine ganze Menge mit „Zutrauen“ zu tun und ich habe oft gestaunt, was sie entsprechend ihrem jeweiligen Alter schon alles konnten. Mittlerweile sind sie so weit, dass sie nach Partys nicht einmal mehr vom Vater abgeholt werden möchten, da sie das alleine sehr gut schaffen. Also nicht nur die Mutter, auch der Vater guckt in die Röhre. Sie wollen alleine und selbstständig ihre Angelegenheiten regeln. Und viele Dinge, die Organisatorisches betrifft, erledigen sich sowieso von alleine, denn mit dem 18. Lebensjahr finden Eltern kaum noch Gehör oder Verständnis bei öffentlichen Stellen. Oder Frau Giese!

Aber es ist auch gut so, denn gerade in dieser Phase zeigt sich ja, ob Mutter „ganze Arbeit“ geleistet hat. Ist der Nachwuchs selbstbewusst und selbstständig, können wir uns getrost zurücklehnen und sie ihr Ding machen lassen. Das heißt ja noch lange nicht, dass wir abgeschrieben und nicht mehr um Rat gefragt sind. Die große Tochter hat sich nun alleine einen dualen Studienplatz gesucht und wird die nächsten dreieinhalb Jahre in einer Institution lernen, die die Eltern noch nie gesehen haben. Es war ihre Wahl und ist ihr Weg. Die jüngere Tochter hat ein Praktikum bekommen – pünktlich, alleine und ganz ohne mein Zutun. Wir sind raus, was ja ebenso nicht heißt, dass wir arbeitslos sind. Wer zwei (fast) erwachsene Kinder im Haus hat weiß sehr genau, dass „Kinder“ prima zwischen Eigenständigkeit und Bequemlichkeit hin und her wechseln können.

Frau Giese hat mir mehr gesagt, als das ich mit der Praktikumssuche meiner Tochter nichts mehr zu tun habe. Sie hat mich daran erinnert, dass ich meinen Kindern zutrauen darf, ihr Leben selber in die Hand zu nehmen. Sie hat gesagt, dass Mütter früh damit beginnen sollten, die Kinder selber ihre Dinge regeln zu lassen. Und sie hat auch vermittelt, dass wir Mütter uns aus manchen Dingen gelassen zurückziehen dürfen. Uns darauf vorbereiten können, in einer gewissen Zeit auch wieder in der ersten Reihe mitzumachen und uns auf Dinge besinnen können, die nur mit uns zu tun haben. Die Kinder können das – und wenn die Säge mal klemmt – nun ja, dann stehen sie mit uns in der ersten Reihe und lösen das Problem!

Danke, Frau Giese! 🙂

6 Kommentare zu “Ich hab’s verstanden, Frau Giese!

  1. Sind mal wieder allerhand Erinnerungen, Gedanken, Bewertungen und Gefühle in mir am Arbeiten.
    Der Artikel löst Erinnerungen und Gedanken in mir aus die ich als „schlecht“ oder auch traurig bewerte.
    Es macht mich traurig und wütend, dass meine Mutter durch ihren Kontrollwahn/zwang verhindert hat, dass ich meine Selbstwirksamkeit als Kind erlernt habe. Ich bin wieder zu tiefst wütend über ihr verhalten, zum Teil mag es ihre Erkrankung gewesen sein aber zu einem Teil aber auch einfach ihr Verhalten.
    Es fühlt sich so an als müsste ich mich jetzt von meiner Mutter los reißen, es fühlt sich verboten an selbstständig zu sein, manchmal fühlt es sich sehr falsch an und ich springe wieder in meine Abhängigkeit zurück. Hätte es einfacher sein können? Ich weiß es nicht, werde es auch nie wissen aber dieses Thema löst immer noch sehr viel Gefühle in mir aus. Ich bin mir aber ziemlich sicher, dass es hätte anders sein können.
    Es ist schon spannend wie ich merke, dass ich mir immer wieder Dinge in mein Leben ziehe die auf meine wunden Punkte drücken. Bin doch recht euphorisch gerade weil ich mir dessen bewusst bin. 🙂
    Vielen Dank für diesen Beitrag, Liebe Grüße

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    • Dein Kommentar hat mir sehr zu denken gegeben. Tröstlich finde ich, dass du dir dessen bewusst bist. Ich bin überzeugt, dass die Lösung jeglichen Problems damit zusammenhängt, es sich bewusst zu machen. Aber wichtig finde ich auch eine versöhnliche Note. Mit Verbitterung lebt es sich nicht so gut. In diesem früheren Beitrag hatte ich mich einmal mit den Müttern (die ich ja auch bin) auseinander gesetzt. Vielleicht hilft es ein bisschen in der Sichtweise. Liebe Grüße zurück! 🙂

      Rabenmütter … gibt es nicht

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  2. Elvira sagt:

    Wir haben unsere Kinder sehr früh zur Selbständigkeit erzogen, was mir ganz normal erschien. Dass dem nicht so war, wurde mir erst klar, als ich beobachtete wie andere Eltern ihre Kinder erzogen. Der krasseste Fall war der eines Ehepaares, die noch lange nach dem Auszug der erwachsenen Tochter deren Impfpass behielten um zu kontrollieren, ob sie sich auch an die Kontrolltermine hält. Als diese Tochter ein Kind zur Welt brachte, wusste sie nicht einmal, dass Kindergeld beantragt werden muss. Ihre Eltern haben sich um alles gekümmert. In unserer Familie war mein Mann die „Glucke“. Er hörte erst auf, die Söhne von Partys abzuholen, als einer der beiden meinte, der Papa solle doch bitte auch gleich Pampers mitbringen. Schlafen konnte er aber immer erst, wenn er den Schlüssel an der Haustür hörte und wusste, die Söhne waren gut heimgekehrt.
    Uns war auch wichtig, dass die Söhne beruflich das machen sollten, was ihnen wirklich lag, egal, ob dieser Beruf eine sichere Zukunft bieten würde oder nicht. Denn kaum etwas erscheint mir schlimmer, als Kinder in eine Richtung dirigieren zu wollen, die wir für richtig erachten, die an den Bedürfnissen, Interessen und Fähigkeiten der jungen Menschen aber vorbeigeht. Unsere Söhne haben nach dem Abitur unterschiedliche Wege eingeschlagen. Aber beide machen genau das, was sie wirklich wollen.
    Wie Du schon geschrieben hast, werden wir als Eltern immer für unsere Kinder da sein, so lange sie das wollen und so lange wir es können. Sind sie aber erst einmal ausgezogen und gründen ihre eigenen Familien, werden wir zu Zuschauern, die, wenn wir Glück haben, die besten Plätze in der ersten Reihe bekommen.

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    • Liebe Elvira,

      ich denke, wir haben unsere Kinder sehr selbstbewusst und eigenständig erzogen. Selbstständig bezweifele ich hin und wieder, oder wir haben sie gut verwöhnt in Form von Fahrdiensten oder Arbeit abnehmen, was ich aber in manchen Bereichen recht ok finde. Im Moment kleben sie noch am Elternhaus (was ich auch sehr genieße), aber wenn sie dann mal ihre eigenen Wege gehen, wird sich die Selbstständigkeit in Form von ums-tägliche-kümmern von alleine einstellen. Denke ich … Ihre Entscheidungen hingegen mussten sie schon immer alleine treffen, sei es die Schulform oder andere Schritte. War eine Entscheidung getroffen, haben wir sie unterstützt (oder gerettet). Wir können/konnten sie beraten, aber mit ihren Entscheidungen zu leben, das denke ich, müssen Kinder sehr früh lernen.

      Herzliche Grüße von

      Anna

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  3. Ach je, schon fällt mir wieder ein, wie 1. Kind und gleichaltrige Cousine zum ersten Mal selber Brötchen holen gingen. Warten und zittern. Und als ein Martinshorn zu hören war (wir wohnten in der Nähe einer Klinik), formulierte ich schon in Gedanken eine Erklärung für die Eltern der Nichte, weil ich die Kinder alleine gehen ließ.
    Sie kamen natürlich heil und pünktlich wieder nach Hause. Aber so sind wir Mütter wohl.
    Selbst jetzt sorge ich mich immer noch (heimlich) ab und zu, dabei sind sie 28/30/32 Jahre alt.
    Danke für deinen interessanten (und erinnerungsträchtigen) Beitrag. 🙂
    Grüßli zum Wochenende 🙂

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