Rabenmütter … gibt es nicht

©-Kati-Molin-Fotolia.com

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Mit etwa 20 Jahren saß ich bei meiner Mutter in der Küche. In den Nachrichten berichteten sie von einem Fall, in dem einem Kind Gewalt angetan worden war. Sehr entrüstet äußerte ich, dass ich nicht verstehen könne, wie eine Mutter ihrem Kind so etwas antun kann. Meine Mutter kochte seelenruhig weiter und meinte nur: „Doch, ich kann es mir vorstellen. Es gibt Situationen in denen man einfach nicht mehr anders kann.“ Nun saß ich dort und wusste nicht, worüber ich mich mehr aufregen sollte. Über den geschilderten Fall aus den Nachrichten oder über meine eigene Mutter, die so eine Ungeheuerlichkeit geäußert hatte. 

Meine Mutter hatte etwas ausgesprochen, was für mich als ihr Kind nicht sein durfte. Ich fühlte mich persönlich verletzt und angegriffen. Ich wollte an dem Bild einer Idealmutter festhalten. Einer Mutter, die alles, aber auch alles für ihr Kind gibt und sich selber dafür in den Hintergrund stellt. Ich wollte an eine heile Welt glauben, in der Kinder sicher leben und Mütter aufopfernd und mit großer Fürsorge ihre Kinder großziehen.

Aber es gibt sie immer wieder, die Nachrichten von Kindern, die Furchtbares erleben müssen. Das Entsetzen darüber schlägt meistens in sprachlose Fassungslosigkeit um. Ist von Wut und Hilflosigkeit begleitet. Anders als bei Fällen, die Kindesmissbrauch zum Thema haben, hört und liest man kaum vorschnelle Urteile, die diesen Müttern jegliche Rechte und körperliche Unversehrtheit absprechen. Solche Fälle darf es in unseren Köpfen einfach nicht geben. Wir fühlen uns alle als Kind einer Mutter. Eine Mutter, die ihrem Kind nicht gerecht werden will oder kann, ist etwas was, das nach unserer Vorstellung gegen die Natur und gegen unser Wunschdenken geht.

Ich wurde selber Mutter, viele Jahre später. Machte eigene Erfahrungen als Mutter und musste mir eingestehen, dass es dieses Bild der Idealmutter nicht gibt. Ich erfuhr meine Grenzen, stellte fest, dass das „Mutter sein“ nicht vor Krankheit, Sorgen oder aufgebrauchten Kraftreserven schützt. Das Bild von Mutter und Kind, welches wir in den Medien, meist mit Weichzeichner, vermittelt und vorgespielt bekommen, ist nicht real. Doch niemand erzählt, wie es wirklich ist, wenn man Kinder hat. Die Gesellschaft möchte funktionierende Mütter, welche die eigene Belange auf Jahre hinten anstellen. Mütter, die für ihre Kinder die anderen Facetten ihrer Persönlichkeit ausblenden und diese erst nach Volljährigkeit der Kinder wie aus einem Dornröschenschlaf wieder erwachen lassen. Nur gibt es diese Mütter nicht, auch wenn es niemand hören möchte.

Man kann es nicht lernen – Mutter zu sein. Man kann sich in Kursen bestmöglich vorbereiten, meistens nur auf die Geburt. Man kann Fachbücher zu Rate ziehen, was man oft erst tut, wenn ein Problem auftaucht. Man kann um Rat bitten und bekommt erfahrungsgeprägte unterschiedliche Meinungen. Mutter wird man und ist es dann für immer. Und ist man erst Mutter geworden, stellt man fest, dass sich die eigene Geschichte, die eigene Erziehung, Erfahrungen, Gelerntes mit dem Alltag vermischen. Besonders am Anfang möchte man alles richtig machen und steht im Umfeld, mehr vor sich selbst, vor einem immensen Erwartungsdruck. Alles soll funktionieren, man möchte sich stolz zeigen, Anerkennung bekommen und alles richtig machen. So lange, bis irgendeine Komponente aus dem Gleichgewicht fällt.

Beginnend mit der Geburt … wer erzählt denn, dass es Wochenbett-Depressionen gibt? Dass das Stillen meist nicht auf Anhieb klappt. Dass Schmerzen noch eine Weile Begleiter sind? Dass nicht alle Babys wie Porzellanpuppen aussehen und Kinder am liebsten schreien, wenn Frau selber vor Müdigkeit kaum denken kann. Wer erzählt, dass es oft Situationen gibt, in denen man sich überfordert fühlt, nicht mehr weiter weiß, man vor Hilflosigkeit wütend wird? Wer gibt zu, dass es Momente gibt, in denen wir unser Kind in dem Arm halten, versuchen zu trösten, während das Kind in uns selber weint? Wer sagt, dass das alles normal und erlaubt ist? Wer berichtet von dem Quatsch, den sich Mütter bei Spielplatz-Gesprächen selber antun, in dem sie wetteifern, welches Kind sich schneller entwickelt? Von dem Wettrennen, welches Kind begabter ist und vor dem Schuleintritt schon lesen kann? Von den Endlos-Diskussionen unter Eltern verschiedener Ansichten? Von der Peinlichkeit, eine Therapie für das Kind suchen zu müssen? Von Schulproblemen, Pubertätsproblemen, dem ersten Liebeskummer, von Abgrenzung des eigenen Kindes zur Mutter. Das erzählt vorher keiner so genau und wir würden es sehr wahrscheinlich nicht hören wollen. Wir würden gerne so lange als möglich glauben, dass ausgerechnet wir die ideale Mutter sein können. Was passiert, wenn das Leben unseres Kindes unsere eigene Vergangenheit wieder zum Leben erweckt? Die Barrieren sind da, besonders wenn eigene Geschichte, schlechte Erfahrungen, elterliche Prägung sich mischt mit dem täglichen Erleben. Wenn Sorgen auftreten, partnerschaftliche Spannungen, Existenz-Ängste, Verlust-Ängste, das normale Leben auf harte Belastungsproben stellt.

In einem Gespräch mit einer älteren Frau sagte ich einmal, dass es meinen Kindern nur gut gehen könne, wenn es mir selber gut geht. Als Antwort bekam ich von ihr zu hören, dass eine Mutter sich gefälligst zusammen zu reißen und ausschließlich für die Kinder da zu seinen habe. Eine Ansicht, die mir als junger Mutter genauso erschreckend erschien, wie damals die Aussage meiner Mutter. Meine Perspektive hatte sich geändert. Ich hatte erfahren, was es bedeutet Mutter zu sein. Jede Mutter lernt schnell die Mauern kennen, die blockieren und den Alltag, die Harmonie zum Kind empfindlich belasten können.

Jede Mutter handelt aus ihrer eigenen Geschichte heraus. So hat meine Mutter fünf Kinder und die Endpunkte der Belastbarkeit in alle Richtungen erfahren. Die ältere Frau hatte ein Kind ohne Vater groß gezogen, in einer Zeit in der ein uneheliches Kind noch als Bastard galt. Beide sprachen aus ihrem persönlichen Erleben. Ich muss nicht ihrer Meinung sein, kann ihre Beweggründe aber verstehen und nachvollziehen. So haben auch Schuldzuweisungen oder Vorwürfe Müttern gegenüber nicht den geringsten Nutzen, denn jede kann nur so handeln, wie ihre momentane Verfassung und die Umstände es erlauben. Bevor man ein Urteil über eine Mutter äußert, sollte man sehr genau hinschauen, warum etwas so ist.

Es muss einer Mutter gesellschaftlich erlaubt sein, zu sagen „Ich kann nicht mehr!“. Es darf keinem Versagen gleichkommen, sich Hilfe zu holen. Hilfe gibt es, bei Ämtern, bei freien Trägern, Initiativen und im medizinischen Bereich. Nur um Hilfe annehmen zu können, muss ich mir bewusst machen, dass ich ein Problem habe und dieses Problem seine Berechtigung hat. Ich darf nicht dem Gefühl unterliegen, dadurch versagt zu haben. Die anderen, das Umfeld, sollten genau hinschauen. Fragen, wenn sich Unstimmigkeiten abzeichnen, Hilfe anbieten, Verständnis zeigen, hinschauen und nicht weggucken. Mütter zu unterstützen, ihnen eine solide soziale Basis zu ermöglichen, sie finanziell gut aufzustellen und ihre Leistung zu würdigen und anzuerkennen, ist der primärste Kinderschutz, den eine Gesellschaft leisten kann.

Die erste Frage, die sich eine Mutter stellen sollte ist: „Was kann ich für mich tun, damit es meinem Kind gut geht!“. Und noch ein kleiner Ausflug ins Tierreich – wussten Sie, dass sich Rabenmütter noch fürsorglich um ihren Nachwuchs kümmern, selbst wenn die Jungvögel aus dem Nest gefallen sind?

„Zur Erziehung eines Kindes braucht man ein ganzes Dorf.“ besagt ein afrikanisches Sprichwort – nicht Mütter alleine, wir alle stehen in der Verantwortung Kindern gute Mütter zu geben!

Leitartikel der Homepage des Stadtteilzentrum Steglitz e.V.
vom 19. Mai 2014

8 Kommentare zu “Rabenmütter … gibt es nicht

  1. […] familiären Netz aufgehoben sein werden. Ich hatte schon einmal in einem Beitrag geschrieben „Rabenmütter gibt es nicht!“. In diesem Fall komme ich an meine Grenzen des Verständnisses, muss aber auch hier einräumen, […]

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  2. w8screens sagt:

    Wünsche einen schönen Wochenstart 😉

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  3. Thomas Knorra sagt:

    Zum Glück benötigen Kinder in der Tat keine *perfekten* Mütter (und auch keine perfektionistischen, die die Kinder zu Höchstleistungen antreiben.) Kinder benötigen jedoch Pflege, Schutz und Zuwendung, kurz Liebe. Eigentlich signalisieren Kinder ihre grundlegenden Bedürfnisse zuverlässig und helfen uns so, auf diese einzugehen und sie zu befriedigen. Manchen Müttern und Vätern fällt es schwer, diese wahrzunehmen oder fühlen sich durch die Lebensäußerungen und Bedürfnisse des Kindes verunsichert, unter Druck gesetzt oder regelrecht gestört. Das ist natürlich gerade dann der Fall, wenn die Eltern als Kinder selbst unter mangelnder elterlicher Liebe und Erziehungskompetenz gelitten haben. Deshalb finde ich das afrikanische Sprichwort, dass es ein Dorf brauche, um ein Kind zu erziehen, ganz wichtig. Eltern müssen es sagen dürfen, wenn sie überfordert sind und Hilfe muss ihnen von einer aufmerksamen Umgebung angeboten werden. Es hilft nicht weiter, „Rabenmütter“ zu entschuldigen oder gar zu glorifizieren. Die Folgen echter Misshandlung und Vernachlässigung sind für das betroffene Kind einfach zu gravierend und kann noch den Erwachsengewordenen sein Leben lang negativ beeinflussen. Das Kind sucht sich sein Zuhause nicht aus, aber um gedeihen zu können, ist es nun einmal auf Schutz und Liebe von uns, den Eltern und dem erwachsenen Umfeld (dem „Dorf) angewiesen. Wenn es weint und klagt, folgt es nur seinem überlebenswichtigen, biologischen Programm, es tut das nicht, um uns Erwachsene zu ärgern. Überforderte Eltern sind vepflichtet sich Hilfe zu holen, die Gesellschaft ist verpflichtet, diese Hilfe zu organisieren und anzubieten.

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    • Marlene sagt:

      Das ist ja alles richtig, aber Sie müssen zugeben, dass man als Eltern immer mal wieder den Punkt erreicht, wo man einfach nicht mehr kann. Damit war bestimmt keine Misshandlung gemeint, so wie ich den Text verstehe.

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  4. Andrea Bentele sagt:

    Anna, Du hast mir aus der Seele gesprochen. Kinder zu haben heißt, ganz oft in Grenzsituationen zu sein. Sei es im Säuglingsalter oder später. Ich habe einen Sohn, der ein Schreibaby war und ich weiß nicht mehr, wie oft ich in’s Nebenzimmer gegangen bin und gegen die Wand getreten habe, nur um meinen Frust darüber los zu werden. Ganz zu schweigen von den vielen Momenten, in denen ich morgens um halb sechs mit ihm im Kinderwagen durch Dortmunder Parks gezottelt bin, damit er schläft. Er schlief eigentlich nur im Auto oder im Kinderwagen. 😉
    Mit der Tochter war es zu Säuglingszeiten einfacher, aber zu Beginn der Pubertät brachte und bringt mich die 1,60 m-Blondine an den Rand meiner Leidensfähigkeit.
    Ich habe meinen Kindern nie weh getan, aber manchmal brauchte ich dafür alle Selbstreflektion, allen Intellekt und jedwede Selbstbeherrschung, die ich aufbieten konnte.
    Mütter sind keine Roboter und jede Hilfe soll willkommen sein!

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  5. Hat dies auf Gedankenwelt von Stephie rebloggt und kommentierte:
    ….“Wir würden gerne so lange als möglich glauben, dass ausgerechnet wir die ideale Mutter sein können. „…

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  6. Mama notes sagt:

    Ja, das stimmt. Ich bin Mama von zwei kleinen Kindern(4 und 2) und kenne alle beschriebenen Grenzsituationen – am laufenden Band. Es braucht mehr als eine Mama und einen Papa, um Kinder zu erziehen und selber dabei stark zu bleiben. Danke, dass Du das aufgeschrieben hast, selbst wenn man/frau das weiß, fühlt es sich besser an, das auch mal von anderen zu lesen.

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  7. Elvira sagt:

    Das hast Du sehr gut zusammengefasst! Ich war – und bin – Mutter mit Leib und Seele, eine völlig andere, als meine Mutter es war. Meine erwachsenen Söhne lieben mich und sagen, dass sie jedem Kind eine solche Kindheit wünschten, wie ich (und mein Mann) sie ihnen ermöglicht haben. Dennoch leben sie und ihre Frauen ein völlig anderes Elternleben. Ich glaube schon, dass heute viel offener mit den Problemen umgegangen wird, die eine Elternschaft mit sich bringen kann. Stilldemenz ist ein geflügeltes Wort geworden, das die anstrengenden ersten Wochen gut beschreibt. Die meisten Frauen werden heute nicht mehr von ihrer Schwangerschaft überrascht und sind gut vorbereitet – jedenfalls ist das mein, sicherlich subjektives Bild aus der Beobachtung meiner Schwiegertöchter und deren Freunden.
    Und doch gibt es auch noch die andere Seite, die überwiegend sehr, sehr jungen Mütter, die häufig alleine mit ihren Sorgen zurecht kommen müssen und oft nicht wissen, wo sie Hilfe bekommen können.

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Gedanken und Anregungen: